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Harry
Für mich blieb die Welt noch nie so lange stehen, wie in dem Moment, indem jedem hier bewusst wurde, dass Liam seinen letzten Atemzug gemacht hatte. Dass wir ab sofort nie wieder seine aufrichtigen Augen sehen und seine tröstende Stimme hören würden. Das hatte nun ein Ende.
Ich blickte von Liams bleichem Gesicht zu Annel hinauf. Sie konnte ihn nicht ansehen, stattdessen vergrub sie ihr Gesicht in Keiths Jacke. Es tat mir nicht nur Leid für uns, dass wir unseren besten und treusten Freund verloren, sondern auch für sie. Liam hatte sie gerettet und erlag dieser Heldentat nun.
Es war komplett ruhig um uns herum, man hörte nur Annels ersticktes Schluchzen. Es war die stillste und längste Minute meines Lebens.
Bis ich allerdings Schritte auf uns zukommen hörte. Es war Niall, der mich fluchend zur Seite schubste, als ich aufstand. Sein Gesicht war verheult, seine Augen knallrot.
„Hört auf zu flennen!", schrie er uns zu und griff sich Liams Arm. „Er ist nicht tot!"
Ich kam fast vom Glauben ab, als ich sah, wie Niall versuchte Liams Körper am Arm durch die Wiese zu ziehen.
„Wir müssen ihn nur ins Lager bringen! Hört verdammt nochmal auf zu heulen!" Niall riss ohne Gnade weiter an Liams Körper, den er nur schleppend fortbewegen konnte. Ihm flossen wiederholt die Tränen über das Gesicht. Dann rutschte ihm Liams Hand aus seinen eigenen und er flog zu Boden. „Steht nicht so dumm da!", schrie er uns zu und wiederholte sein Vorhaben. „Er lebt noch!"
Ich musste eingreifen. Ich wollte nicht, dass er Liams Körper so respektlos durch den Matsch zog und ich wollte nicht, dass er noch mehr den Verstand verlor. Deswegen riss ich ihn von Liam weg und wollte ihn festhalten. „Niall, lass das! Es hat keinen Sinn mehr!"
„Lass mich los!", wehrte Niall sich und es gelang ihm direkt, mir aus den Händen zu rutschen. Er sprang nach vorne, griff Liam diesmal am Nacken und stemmte seine Arme unter die Achseln des Körpers. „Er ist nur betäubt, wieso seid ihr nur so gottverdammt dumm?"
„Niall, aufhören!", mischte sich nun auch Keith ein und er half mir, den weinenden Soldaten von der Leiche wegzureißen.
Er wehrte sich heftig, schlug um sich, trat, fluchte, beschimpfte und kratzte, aber schließlich hatte er keine Chance gegen zwei Männer.
Bis Niall sich einfach auf die Knie fallen ließ. Er saß direkt neben Liam, aber sah ihn nicht an. Er schloss die Augen, vergriff seine Hände in seine Haare und schrie.
Niall schrie so laut, dass es durch das komplette Feld zu hören war. Es wunderte mich nicht, dass uns im Nachhinein Soldaten unseres Lagers auf die Schreie ansprachen.
Wir standen alle nur hier. Hörten Niall beim Schreien zu. Wie er immer wieder Luft holte und erneut Schreie aus seiner Kehle ließ, die ich nie zuvor als so derart schmerzhaft empfand. Er riss an seinen Haaren, ihm tropften die Tränen von der Nasenspitze, während er alles herausließ.
Als er aus vollem Halse brüllte, schloss ich für einen Augenblick die Augen.
Ich versuchte, mir auszumalen, wie anders mein Leben sei, hätte dieser Krieg niemals begonnen.
Ich stellte mir vor, wie Niall und ich selbst heute noch betrunken in Kneipen sitzen würden, um uns über unsere Ehefrauen auszulassen. Vielleicht hätte Liam schon zwei Kinder, von denen er uns Tag und Nacht erzählt hätte. Vielleicht hätte sogar Niall ein Kind. Einen Sohn, der genauso ungehorsam wäre wie er es damals war.
Wir drei wären erwachsene Männer gewesen, die gesund wären. Und die lachen würden. Die lachen und nur dann weinen würden, wenn unser favorisierte Fußballmannschaft verloren hätte.
Wir hätten solch ein erfülltes und glückliches Leben haben können. Aber so war es nicht. Nun standen wir hier, mitten in Deutschland und trauerten um unseren Freund, derweil mein anderer Freund immer kränker wurde.
Nichts würde je wieder so sein wie es vor vielen Jahren einmal war.
„Wir sollten gehen", sprach Keith ein Machtwort, als Niall nur noch schwer atmend Luft holte. Er nahm Annel an die Hand und sah mich an. „Wirst du noch bleiben?"
Ich nickte. „Danke, Keith."
Er nickte zurück und alle verließen uns.
Nialls schwerer Atem war zu vernehmen, er hatte seinen Kopf noch immer zwischen seine Hände gepresst und er wippte leicht vor und zurück. Er wirkte wie eine tickende Zeitbombe. Vielleicht würde er jeden Moment wieder losschreien.
„Wir werden ihn begraben noch bevor die Sonne komplett untergeht", unterbrach ich die grässliche Stille. Ich war enorm geschwächt. „Vielleicht möchtest du ..."
„Harry, ich bin im Arsch", schnitt mir Niall schnell das Wort ab. Er klang hysterisch. „Ich bin so was von im Arsch. Richtig?"
„Nein, bist du nicht."
Jetzt schüttelte er den Kopf und schluchzte wieder. Ich blickte weiterhin nur auf seinen Hinterkopf. „Du weißt genau, wovon ich spreche. Ich bin krank!"
Gerne hätte ich gelogen. Aber was hätte das noch für einen Sinn gemacht? Ich kniete mich neben Niall und starrte auf Liams Kreuzkette, die auf seiner Brust lag. „Wir sind alle krank, Niall", sprach ich es endlich aus.
„A-Aber ich ertrage es nicht, Harry. Ich ertrage diese scheußlichen Gedanken in meinem Kopf nicht mehr."
Ich schwieg.
„Ich will sie alle umbringen", redete Niall schnell weiter. „Ich will sie allesamt umbringen und ihnen das antun, was sie uns angetan haben. Sie haben uns Liam genommen!" Ab da begann er wieder laut zu weinen und ließ sich komplett zu Boden sinken. Er vergrub seinen Kopf zwischen seine Knie und heulte bitterlich hinein.
Jemanden weinen zu hören, der dir mehr bedeutete als dein eigenes Leben, war eine Tortur der besonderen Art. Es kostete mich viel Kraft, es nicht wie Niall zu tun.
Stattdessen hob ich meinen Arm an, legte ihn um Nialls Schulter und zog ihn an mich heran, woraufhin er nur lauter weinte. Er schrie und weinte. Aber das war, was dieser Krieg aus Menschen machen konnte. Schreiende, zutiefst traurige Männer, die irgendwann einmal stark waren.
„Ich will sterben", schluchzte Niall in meine Schulter. „Ich will einfach nur endlich sterben."
„Nein", sagte ich sofort und drückte ihn enger an mich heran. Seine Worte machten mir mehr Angst, als er dachte. „Sag das nicht."
„Ich schaffe es nicht mehr!"
„Halt sofort die Klappe!", stoppte ich ihn, diesmal wütend. Ich nahm seinen Kopf zwischen meine Hände und blickte ihm tief in die verweinten Augen. „Ich kann dich nicht auch noch verlieren, verstanden? Also hör auf, so einen Schwachsinn zu erzählen. Du bist alles, was mir von Amerika noch geblieben ist!"
Für einige Sekunden, schaute er mir nur leer in die Augen. Es spiegelte sich etwas in seiner Iris, vor dem ich mich fürchtete. Bis er sagte: „Er ist tot, Harry."
Ich musste Niall sofort wieder in die Arme schließen, ansonsten wäre wohl ich der Nächste gewesen, der begonnen hätte zu schreien. „Wir müssen die anderen holen, um ihn wegzubringen. Hilfst du mir dabei?"
„Ich glaube, ich brauche Ruhe."
Tief atmete ich ein und aus. „Das ist in Ordnung. Aber wir müssen zurück."
Niall stand auf und bewegte sich, als wäre kein Leben mehr in ihm. Er sah zu Boden, als er ging und wankte von links nach rechts. Aber man würde sich um ihn kümmern, dessen war ich mir bewusst.
Ich wand mich wieder an Liam. Noch bevor man ihn wegbringen und vor einem schönen, großen Baum vergraben konnte, streifte ich ihm vorsichtig die silberne Kreuzkette über den Kopf. Er würde sie nicht mehr brauchen, schließlich war er endlich dort, wo er immer sein wollte. Bei Grace.
Ich zog mir die Kette über den Kopf und schloss meine Faust darum. Ein letztes Mal, blickte ich auf Liams Gesicht und sagte: „Du sagtest mal, Gott hat uns bereits hundert Wunder geschickt."
Ich schob das Bild des Mädchens, das Liam jahrelang mit sich trug, wofür er jahrelang betete und hoffte, in seine Brusttasche. Ich hatte es noch in der Nacht an mich genommen, in der Niall e beschmutzte. Es war mir egal. Liam würde es wiederbekommen, das schwor ich mir. Es war mir auch egal, dass das Kind auf dem Foto nicht Liams war. Für ihn war sie es.
„Dabei vergaßt du total, dass du eins seiner größten Wunder warst, großer Mann."
Wieder einmal war ich gezwungen, den Atem anzuhalten, um mich nicht zu verlieren. Fest presste ich meine Hand auf Liams Brusttasche und versuchte, mich zu beherrschen.
„Wir sehen uns bald", sprach ich meine letzten Worte zu ihm. „Und dieses Versprechen werde ich nicht brechen."
Puh ...
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