83.
Harry
Ich vergeudete keine weitere Sekunde mehr und schleppte Niall in unser Lager. Er hatte seinen Arm um meine Schulter geworfen und stöhnte bei jedem Schritt, den wir machten. Man hatte ihn am Oberschenkel getroffen. Seine Hose war dort aufgerissen und voller getrocknetem Blut. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie peinigend seine letzten Tage gewesen sein mussten.
Die Blicke der Männer im Lager lagen auf uns und sofort standen die Sanitäter auf. Charles und Willis joggten auf uns zu.
„Ihm wurde in den Oberschenkel geschossen", berichtete ich und übergab ihnen vorsichtig Niall. Es fiel mir schwer, meine Freude zu verstecken, ihn wieder bei uns zu haben. „Legt ihn am besten sofort hin und tut, was ihr tun könnt. Später ..."
„Scheiße, komm mir nicht so gottverdammt nahe", zischte Niall und schubste Charles schwach von sich, der Niall packen wollte. Mein Freund verkrampfte die Stirn, er taumelte vor sich hin. Er fluchte leise sein Verhalten war merkwürdig.
„Wie gesagt", sagte ich argwöhnisch und musterte Niall skeptisch. „Versorgt ihn, egal was er sagt. Ich werde dann sofort kommen."
„Verstanden", sagte Willis und griff sich Nialls Arm, um ihn um sich zu legen.
Niall begann sich erneut zu wehren, wenn er auch viel zu geschwächt war, um gegen die beiden Sanitäter anzukämpfen. Er fluchte murmelnd, zerrte sich von links nach rechts.
Ich schaute ihnen hinterher und suchte direkt mit meinen Augen Liam. Oh, wenn er herausfand, dass Niall noch lebte, dann ... Ich fand ihn und musste schmunzeln, als ich beobachtete, wie Liam sich langsam von dem Hocker erhob, auf dem er saß.
Liam schaute Charles und Willis zu, wie sie mit Niall zum Sanitäterzelt gingen. Sein Gesicht verriet alles. Er war so was von perplex, so fassungslos und durcheinander hatte ich ihn nie zuvor gesehen.
Ich konnte nicht hören, was er leise zu sich selbst sagte, aber ich glaubte, dass er fluchte. Wenn er es auch nur selten tat.
Als Niall und die Sanitäter im Zelt verschwanden, kam Liam wieder zu sich und musste den Kopf etwas schütteln. Dann reagierte er schnell. Er drückte Keith seine Schüssel in die Hand und ging zum Zelt.
Ich ließ mir keine Zeit, Joseph und Pattons Bescheid zu geben, dass Niall zurückkommen und wohlauf war. Zumindest mehr oder weniger. Als ich zurück zum Sanitäterzelt ging, hörte ich Nialls Schreie.
„Nein, lass die Scheiße!", schrie er wie ein Verrückter. „Verdammt, bist du taub? Fass mich nicht ... Ahh, ich schwöre dir, ich ..."
Dann betrat ich das Zelt. Ein Bild, in dem Charles, Willis und Liam gemeinsam versuchten, Niall an Armen und Beinen festzuhalten, bot sich mir.
Nialls Kopf war knallrot, seine Fäuste weiß von der Kraft, mit der er sie ballte. Eben erschien er mir so ruhig, was war in den letzten zwei Minuten passiert?
„Harry, halt sein Bein fest!", gab mir Charles eine Anweisung, während dieser damit kämpfte, Nialls linken Arm auf das Feldbett zu pressen.
Konfus tat ich, was er mir sagte und drückte das Bein so auf das Bett, dass keine Verletzung getroffen wurde. „Wieso dreht er so durch?", fragte ich laut. Niall hörte einfach nicht auf, zu treten.
Doch noch bevor ich eine Antwort bekam, hatte Liam die Spritze, die er bereits in der Hand hielt, in Nialls Bein gerammt. Kurze Momente später, wurde dieser ruhiger.
Liam ließ schwer atmend Nialls Bein los und sah in sein bleiches Gesicht. Man sah Liam deutlich an, wie sehr in diese Szenerie schockierte. Ich war mir sicher, so wollte er Niall nicht in Empfang nehmen.
Charles und Willis holten ihre Verbandskästen hervor und breiteten sich neben dem Bett aus.
„Er muss harte letzte Tage gehabt haben", erklärte Charles und schnitt Nialls Hose an seiner Schusswunde auf. „Wie hart, das möchte ich gar nicht genau wissen."
Liam setzte sich stumm auf einen Hocker. Sein Schweigen gefiel mir nicht.
Deswegen sagte ich zu ihm: „Vielleicht sollten wir raus gehen, während die beiden sich um ihn kümmern."
Doch Liam schüttelte den Kopf und es wunderte mich nicht einmal. „Nein. Er wird nicht lange schlafen."
Zwar war das für mich keine ausreichende Erklärung, aber dennoch nickte ich. Natürlich wäre ich gerne bei Niall geblieben, aber ich wollte, dass er verarztet wird, stören sollte ich nicht. Die ganze Situation war so prekär und hatte mich derart aus dem Konzept gebracht, dass ich beinahe vergaß, in welchem Problem sich dieses Platoon eigentlich befand.
Noch immer sollten wir gegen hunderte von Deutschen kämpfen. Und nun sollte auch noch Niall dort sterben.
Ich ließ meinen Kummer zwei Stunden lang an Keith aus, der mich bat, ihm beim Schießen zu helfen. Ein Punchingball kam mir gelegen.
„Nochmal", sagte ich bereits zum siebten Mal zu Keith, der mal wieder nicht den Punkt am Baum traf, den ich ihm vorgegeben hatte.
Keith seufzte schwer und ließ die Waffe nach unten hingen. „Aber ..."
„Waffe hoch halten, oder bist du zu schwach, sie richtig zu tragen?"
„Harry, ich ..."
„Nochmal!"
Also schoss Keith wieder und wieder und wieder. Und wieder und wieder und wieder sagte ich ihm, dass er es falsch machte. Aber ich war ehrlich, er machte es nicht immer falsch. Er bekam schon seit Tagen von mir Hilfe, so langsam hatte er den Dreh raus. Dennoch sagte ich es ihm nicht. Keith freute sich zu schnell über die kleinsten Dinge.
Irgendwann machten wir uns an das schnelle Nachladen seiner Sten MP. Noch immer störte es mich, dass er mit dieser lächerlichen Waffe umging, aber musste es schließlich akzeptieren. Während Keith seine Waffe ent- und wieder auf lud, schwanden meine Gedanken zu ätzend vielen Dingen.
Anne, und welch Sorge es mir bereitete, sie in den nächsten Tagen zu verlieren. Walt, der Annel Schreckliches antat. Liam und Niall. Pattons, und dass er uns alle in den Tod jagen wollte.
„Das waren verdammte achtzehn Sekunden!", sagte Keith, der stolz seine nachgeladene Sten in die Höhe hielt. „Neuer Rekord, verdammte scheiße!"
Meine Augen verweilten auf Anne, die sich gerade feixend mit Louis unterhielt. Annel saß neben ihr, das beruhigte mich. Zwar beruhigte es mich nicht, dass Louis wusste, was zwischen Anne und mir lief, aber ich hoffte, ich konnte ihm vertrauen. Er war ein guter Junge und Anne lag ihm am Herzen. Das wusste ich.
„Du bist heute ziemlich abgelenkt", stellte Keith fest und ich nahm meinen Blick von Anne. Er legte seine Waffe neben sich.
Wir beide saßen uns auf zwei Hocker gegenüber.
„Bei siebzehn Sekunden hätte ich dir eine Pause gegönnt", sagte ich jedoch und ignorierte seine unnötige Aussage. „Also noch einmal."
Keith verdrehte die Augen und krallte sich wieder seine Sten. „Im Aussagen ignorieren bist du ein wahrer Profi."
„Ich zähle von siebzehn abwärts. Ab jetzt."
Mein Punchingball begann seine Sten zu ent- und beladen. Aber er wäre kein Nervenbündel, wenn er dabei nicht sprechen würde. „Dieser verletzte Soldat", sagte er, während er konzentriert seine Waffe behandelte. „Stand er dir nahe?"
„Zehn Sekunden."
Keith schob das erste Magazin ein. „Er war mit Sicherheit ewig lange unterwegs. Er sah ziemlich abgeledert aus."
Ich kontrollierte jede Bewegung, die er machte und hoffte, er würde etwas falsch machen.
„Und ich hab ihn schreien gehört. Er muss echt fertig sein."
„Fünf."
„Wenn ich es schaffe, redest du mit mir."
Noch bevor ich ein deutliches Nein! von mir geben konnte, beendete Keith seine Handlung und grinste mich zufrieden an.
„Und?", fragte er nach. „Sag bloß, es waren sechzehn Sekunden."
„Bild' dir nicht so viel darauf ein, mein Rekord sind vierzehn Sekunden. Noch einmal."
„Los, rede mit mir."
Nun verdrehte ich gestresst die Augen. „Fang an."
Er begann und fragte direkt: „Also, standet ihr euch nahe?"
Ach, was sollte es. „Er ist einer meiner engsten Freunde."
Keith stoppte in seiner Bewegung seine Waffe zu drehen und starrte mich blinzelnd an. „Scheiße, du hast Freunde?"
Ich hob eine Braue. „Was ist? Schon fertig?"
Er machte weiter. „Kaum zu glauben. Du musst schrecklich erleichtert sein, dass er noch lebt."
„Ja, das bin ich."
„Wie soll ich nur mit so vielen Gefühlen deinerseits umgehen?"
„Sieben Sekunden noch."
In den letzten Augenblicken hängte Keith sich noch einmal hinein und ich nutzte meine Chance. Kurzerhand schubste ich ihn an der Schulter vom Stuhl und er fiel auf seinen Rücken.
Entsetzt sah er mich an, seine Waffe nur halbwegs geladen. „Wofür war das denn?"
Ich stand auf und musste grinsen. „Verzeihung, war wohl ein Bombeneinschlag. Du hättest es sowieso nicht geschafft." Doch, das hätte er.
Ich ließ Keith zurück und machte mich auf den Weg zu Niall. Mittlerweile waren viele Stunden vergangen, aber trotz Ablenkung, dachte ich an ihn und wie es ihm erging. Die ganze Zeit hatte ich gehorcht, um eventuell seine Schreie vernehmen zu können, aber ich hörte nichts. Es war ruhig, das konnte gut und schlecht sein.
Liam hatte ich während der letzten Stunden auch nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Aber das erklärte sich, als ich das Sanitäterzelt betrat, indem Niall mit geschlossenen Augen lag. Liam saß neben ihm und hielt seine Kreuzkette fest in seiner Hand, derweil er den blonden Mann anschaute. Die Stimmung war niederschmetternd. Die kummerhafte Art, mit der Liam Niall ansah, war schmerzhaft.
Manchmal wollte ich mir nicht ausmalen, wie sehr Liam eigentlich litt, in den Momenten, in denen er kein Wort sprach.
„Er sieht schon viel besser aus", sagte ich leise und griff mir einen Hocker, um mich an die andere Seite des Feldbettes zu setzen.
Es stimmte. Niall hatte kein Blut mehr im Gesicht, er trug frische Kleidung. Dennoch erkannte man seine tiefen Narben im Gesicht enorm. Eine davon zog sich von seinem Haaransatz bis zur Mitte seiner linken Wange. Sie würde ihn ewig zeichnen, das war klar.
Ich schaute zu Liam, der noch immer nicht sprach. Seine Augen waren so traurig, es brach mir das Herz.
„Warum schaust du ihn so an?", fragte ich. „Er lebt. Du solltest glücklich sein."
Für ein paar Sekunden schwieg er noch. Und erst dann meinte er ruhig: "Irgendetwas stimmt mit ihm nicht, Harry."
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