80.
Wie alt seid ihr alle so? :)
Harry
Wir fielen in das Zimmer und eine eiserne Kälte kam uns entgegen. Scheinbar waren die Hotelzimmer das Einzige, das nicht beheizt war. Während Anne nicht aufhören konnte an meiner Kleidung herumzuziehen, ließ ich die Tür hinter uns lautstark ins Schloss fallen. Ich hatte nicht einmal genügend Zeit, mich hier umzusehen, dann fielen wir auch schon gemeinsam auf das Bett, das hätte größer sein können.
Wir brachen beide in betrunkenes Gelächter aus, als unsere Köpfe aneinander stießen.
Anne lag auf mir, während ich mir die Stirn rieb. „Irgendwie hatte ich es mir größer vorgestellt", sagte sie.
„Zumindest bequemer", fügte ich hinzu.
Sie schmunzelte mich an, ich schmunzelte zurück. Es war dunkel, fast zu dunkel, um ihre attraktiv blauen Augen zu sehen, aber trotzdem fiel mir wieder auf, wie schön ich sie fand. Es war beinahe unmöglich, aber ich fand sie noch hübscher, wenn ich betrunken war.
Die verspielte Stimmung war vorüber. Gerade jetzt war ich einfach nur froh, dass sie hier bei mir war, und ich bei ihr.
„Ziemlich leichtsinnig, was wir hier tun", flüsterte sie. Ihr blondes Haar kitzelte meine Wangen.
„Du hast Recht", stimmte ich zu und küsste sie.
Wir küssten uns sanft, nicht stürmisch. Ich liebte es, wie verrückt wir nacheinander waren. Es passierten so viele Dinge und trotzdem landeten wir hier. Ich war ein Narr, sie hier zu küssen und vielleicht hätten wir vorsichtiger sein sollen, aber das interessierte mich in dieser Nacht nicht.
Ich ergriff sie vorsichtig an ihrer Taille und drehte uns so, dass sie neben mir lag und ich ihren Hals küssen konnte. Es war eine Genugtuung, sie überall küssen zu können. In all den Tagen, in denen ich sie nie berühren durfte, spielte mein Kopf verrückt. Umso mehr kostete ich Augenblicke wie diese aus. Sie waren meine letzten Sekunden Frieden. Wie immer.
Sie seufzte, als ich meine Hand unter ihren Pullover schob und ihre Haut streichelte. Ich glaubte, ich wollte noch nie so dringend mit einer Frau schlafen wie mit ihr. Es war unmöglich, es nicht tun zu wollen.
Deswegen taten wir es. Wir ließen uns so gnadenlos und so hemmungslos in unserer Gier fallen, dass wir es zweimal hintereinander taten. Sie sagte mir, es wäre das erste Mal, dass sie mit einem Mann schliefe und ich war bedacht, es zu ihrer schönsten ersten Nacht mit einem Mann zu machen.
Ich berührte sie überall, sie berührte mich überall. Wir küssten, wir flüsterten uns Worte zu, die vor ein paar Monaten noch undenkbar gewesen wären.
Und ich verliebte mich genau in dem Moment in sie, in dem ich das erste Mal in sie eindrang. Sie stöhnte, ich sah sie an und es war, als bliebe die Welt für einen ganz kurzen Moment stehen.
Ich war solch ein glücklicher Mann, dachte ich mir, als ich sie unter mir liegen sah. Ihr Busen genauso schön, wie damals, als sie ihn mir das erste Mal zeigte. Ihr Geruch so betörend, ihre Laute wie eine Melodie in meinen Ohren.
Es war die schönste Nacht in meinem bisherigen Leben. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, ich schlief mit vielen Frauen, aber Anne schien das zu sein, was mir immer gefehlt hatte. Egal, wer sie war, und vollkommen egal, wer ich war.
Nach einer ganzen Weile lagen wir erschöpft und eng aneinander geschlungen unter der beigen Decke. Sie hatte ihr Kinn auf meine nackte Brust gestützt, ich strich ihr über das blonde Haar, das über ihrem bloßen Rücken verteilt war.
Wir betrachteten uns wie verliebte Idioten. Oh, und welch ein verliebter Idiot ich doch war.
„Ich will die ganze Nacht hier mit dir bleiben", sagte sie irgendwann. Ihre Haare waren zerzaust, ich hatte ihr das rote Haarband schon von Beginn an aus den Haaren gezogen. „Ich will nie wieder zurückgehen."
„Aber dieses Bett ist viel zu klein, um nie weder zurückzugehen", erwiderte ich. „Ich würde es unmöglich länger als eine Nacht hier aushalten."
Sie verdrehte die Augen.
Ich zog ihre Hand zu meinem Mund, die auf meiner Brust verweilte, um ihre Finger zu küssen. „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich ewig hier bleiben."
Sie konnte sich kein Grinsen verkneifen.
Ich musterte ihr rotes Haarband, das sie um ihr Handgelenk gewickelt hatte. „Es ist ein Wunder, dass du dieses Teil noch nicht verloren hast."
„Ich bin eben sehr vorsichtig."
„Und lebensmüde. Wegen diesem Ding sind wir beinahe im Fluss ertrunken."
„Das tut mir leid", sagte sie und zog ihre Hand zurück. Sie stützte ihr Kinn wiederholt auf ihre Hände. „Ich konnte nicht anders."
„Ich würde gerne wissen, warum es so wichtig für dich ist."
„Du hättest es schon längst wissen können, wenn du mich letztens nicht unterbrochen hättest, als ich es Keith erklären wollte."
„Ich konnte es nicht mit ansehen, dass Keith es vor mir erfahren würde."
Sie sah mich verurteilend an.
„Schau mich nicht so, an erzähl es mir", sagte ich.
Nun betrachtete sie ihr rotes Haarband und wickelte es sich vom Handgelenk. „Mein Vater hat es mir geschenkt, als er eine Weile in Afrika stationiert war." Als sie ihren Vater ansprach, wurde ihre Miene trauriger. „Es hat ein Zitat eingestickt, das er mir immer wieder gesagt hat." Sie las vor: „Vergiss niemals, egal welch Grausamkeiten dich plagen mögen, wer du bist."
Ich behielt meine Augen ständig auf ihrem reinen Gesicht, als sie über das rote Tuch strich. „Was denkst du gerade?", musste ich sie fragen, denn schon vor mehreren Stunden fiel mir auf, wie geknickt sie war.
Anne schürzte die Lippen, dann fragte sie mich: „Harry, weißt du, was mein Vater für ein Mensch ist?"
Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?"
„Man hat mir erzählt, was er alles anrichtet. Ich weiß, welche Grausamkeiten er unterstützt."
Daraufhin musste ich inne halten. Natürlich wusste ich, was Annes Vater tat. Pattons hatte mich von Anfang an aufgeklärt, aber ich hätte nie gedacht, dass er es auch ihr sagen würde. Zumindest jetzt noch nicht.
„Wer hat es dir gesagt?", fragte ich. Ich war verwundert, weil Pattons erst vor einer kurzen Weile behauptete, er wolle Anne selbst herausfinden lassen, was Ihr Vater diesen Menschen antat.
„Walt hat mir heute Morgen die Briefe gezeigt", antwortete sie und legte ihren Kopf auf meiner Brust ab. „Er hat mir gedroht, er würde uns verraten, wenn ich mich weigern würde, die Wahrheit zu erfahren."
Gott, ich verabscheute Walt abgrundtief. Ich schwor mir, irgendwann würde ich ihm zeigen, was Menschen wie er verdienten. Das Fass der Geduld in mir war fast gefüllt. Erst die Qualen, die er Annes Schwester antat, und nun das.
„Du hättest es nicht auf diese Art erfahren sollen", versuchte ich, ruhig zu bleiben.
Anne schwieg ein paar Momente. Dann sagte sie leise: „Mein Vater ist ein grauenvoller Mann ... nicht wahr?"
Was sollte ich nur darauf antworten? Verdammt, ja, ihr Vater war ein grauenvoller Mann. In den Briefen stand noch lange nicht alles. Ich wusste eine Menge über ihn, was Anne sich niemals hätte ausmalen können. Aber das würde ich ihr nicht erzählen. Vielleicht irgendwann, wenn es so sein sollte, aber nicht jetzt und nicht demnächst. Es war offensichtlich, wie sehr sie all dies belastete.
„Mach dir keine Gedanken darüber", war ich gewillt, sie aufzubauen. Ich drehte uns so, dass sie neben mir lag. Aber ich hielt sie noch fest im Arm. Ich wollte ihr so nahe sein, wie ich konnte.
Ich strich ihr über die nackte Taille. Ihr nackter Körper war eine verdammte Schmach.
„Aber du machst dir doch auch Gedanken, um deine Mutter", sagte Anne zu mir. „Du weißt, es geht nicht anders."
Nun war ich derjenige, der die Lippen schürzte. Anne öffnete sich so oft vor mir, ich fühlte mich schlecht dafür, dass ich es nicht tat. Zumindest sehr selten und nicht komplett. Deswegen sagte ich, auch wenn ich es nur schwer über das Herz bekam: „Ich war nicht immer ganz aufrichtig zu dir."
Sie blinzelte.
„Ich habe mal zu dir gesagt, ich würde nur meine Mutter zuhause missen", sagte ich. „Aber ich habe noch zwei Geschwister. Sie sind beide noch sehr jung."
Anne sagte nichts. Sie sah mich erst verwirrt an, schließlich fragte sie: „Wieso hast du sie mir verschwiegen?"
Ich bekam augenblicklich einen schrecklichen Kopfschmerz in der Schädeldecke. Ich hatte seit Jahren nicht mehr über Lisbeth und George gesprochen, nicht einmal mit Liam. Ich versuchte nie an sie zu denken, das Einzige, das mich plagte, waren die Träume und die Schuldgefühle, sie alleine gelassen zu haben.
Mir fielen die folgenden Worte so schwer, wie kaum etwas, das ich je aussprach. „Ich versuche, sie zu vergessen."
„Wieso?"
„Es ist ... Es ist schrecklich an sie zu denken und verstehen zu müssen, dass ich sie vielleicht nie wieder sehen werde." Gott, ich hätte dieses Thema nicht beginnen dürfen.
Anne schmückte ein mitleidiger Gesichtsausdruck. Ich wollte nicht, dass sie mich bemitleidete, ich wollte nur ehrlich zu ihr sein, denn das hatte sie verdient. Vielleicht wollte ich es mir auch einfach nur von der Seele reden. Es fiel mir schwer, meine Gefühle zu sortieren.
„Lass uns nicht darüber sprechen", sagte ich, denn ich merkte, wie sehr dieses Thema doch auf mir lastete. „Es macht keinen Sinn, wenn ..."
„Es macht mich so traurig, wenn du immer wieder sagst, du würdest nie wieder nach Hause kommen."
„Aber es ist, was ich denke."
„Willst du denn nicht für sie nach Hause kommen?"
Die Frage traf mich wie ein Schlag, mitten ins Gesicht. Sie erschien mir so absurd, und doch war sie berechtigt. Natürlich wollte ich nach Hause kommen, meine Mutter sehen, Lisbeth und George in die Arme schließen und mich etliche Male bei ihnen entschuldigen für das, was ich ihnen zugemutet habe. Doch wann hatte ich aufgehört für sie nach Hause kommen zu wollen? Für mich war es eine Unmöglichkeit, überhaupt irgendwann wieder amerikanischen Boden zu betreten. Ich hatte mich so an den Gedanken gewöhnt, dass ich vergaß, irgendwann mal meiner Mutter versprochen zu haben, gesund und munter vor ihrer Tür zu stehen, wenn dieser Krieg endete.
„Für dich klingt es vielleicht harsch", erklärte ich mich. „Aber sieh dir Liam an. Er leidet so sehr, weil er ständig an seine Tochter denkt. Ich leide nicht."
„Das glaube ich dir nicht."
„Ich muss mich auf anderes konzentrieren."
„Ich hoffe, du wirst es eines Tages nicht bereuen, sie verdrängt zu haben. Wie wichtig waren sie dir?"
Scheiße. Alleine die Tatsache, dass sie war anstatt ist, sagte, machte mich irre. Lisbeth und George waren mir immer wichtig, ständig, die ganze Zeit über. Nur konnte ich mich nicht dazu zwingen, es auszusprechen.
„Vielleicht sind sie bereits tot", sagte ich.
„Schreib ihnen", sprach Anne schließlich das aus, was wir beide wohl schon die ganze Zeit dachten. „Deine Mutter sehnt sich bestimmt schrecklich nach dir, deine Schwester und dein Bruder auch. Du solltest es nicht nur für sie, sondern auch für dich tun."
Mir gefielen diese Unterhaltungen nicht. Ich wollte nicht, dass wir uns ständig über unser Leiden ausließen, ich wollte die Zeit mit Anne ausnutzen. Deswegen legte ich einen Schalter um und zog sie an der Hüfte zu mir heran. „Oder wir tun etwas anderes."
Anne grinste und legte ihre Arme um meinen Nacken. Ich liebte es, wie sich ihr nackter Körper an meinem anfühlte. Es gab kaum etwas, das mehr betörend war. „Wir können etwas anderes die ganze Nacht tun."
Ich küsste sie auf die Lippen, als plötzlich seltsame Laute durch die Wände zu hören waren. Wir sahen uns verwundert an und lauschten.
Ein taktisches Hämmern gegen die Wand, Frauenstöhnen und männliches Grunzen.
„Oh, na toll", sagte Anne amüsiert. „Was ein Stimmungskiller."
„Ich finde es romantisch", meine ich mit einem schiefen Lächeln. Ich berührte ihren bloßen Hintern. Er fühlte sich genauso gut an, wie er aussah. „Du etwa nicht?"
„Ein schönes Lied hätte es auch getan."
„Was ist denn ein schönes Lied?"
Sie dachte einen Augenblick nach, dann begann sie leise zu summen. Ich erkannte die Melodie sofort, weswegen sich meine Miene erhellte.
Durch meine Reaktion begann sie den Text zu singen und scheiße, gottverdammte scheiße, ich war schrecklich verliebt in sie. Sie sang Somewhere over the rainbow wie ein Engel, es kam mir beinahe unrealistisch vor.
Ich saugte jedes Wort von ihr auf und sah ihr die ganze Zeit in die schönen, hellblauen Augen, derweil sie sang. Sie grinste mich so zufrieden und glücklich an.
Als sie aufhörte, presste ich meine Lippen so stürmisch auf ihre, dass sie sich erschreckte. Auch das Klopfen gegen die Wand und das ständige Gemurmel des Pärchens im Nebenzimmer verstummte. Es verstummte immer alles, wenn ich wir uns küssten.
Ich hätte die ganze Nacht mit ihr schlafen können.
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