68.
Annemarie
„Was hast du heute vor?", fragte ich Harry und sah grinsend zu ihm hinauf.
Er tat sich schwer, sein Lächeln zu unterdrücken, als er zu mir hinab blickte, als wir durch das Lager liefen. „Du denkst, ich habe etwas geplant?"
Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen, das schrecklich verknallt war. Ich hüpfte beinahe schon neben ihm her, als ich ungeduldig nach seinem Arm griff. „Bitte, sag es mir."
„Einen Moment", flüsterte er und ging etwas auf Abstand. Uns kamen zwei Soldaten entgegen, denen er zunickte. „Leutnants."
„General", nickten sie zurück, waren aber dennoch sichtlich verwirrt darüber, wie freudig ich darüber schien, mit Harry durch die Gegend zu laufen.
Als sie fort waren, sagte ich mit erhobener Braue: „General?"
Harrys schien sichtlich stolz, als wir so langsam das Lager verließen und er erklärte: „Dadurch, dass Pattons mich zu seiner rechten Hand gemacht hat, denken viele, ich sei Unteroffizier. Ich werde ihnen nicht das Gegenteil sagen."
„Beeindruckend, General Styles."
Er schaute zu mir hinab und dann blieb er stehen. Alles um uns herum war stockdunkel, nur der Mond schien. Wäre Harry nicht hier, wäre es angsteinflößend.
„Ich habe tatsächlich etwas geplant", sagte er und sah sich unauffällig um. „Willst du es wissen?"
„Unbedingt", meinte ich aufgeregt.
„Okay." Er ging ein paar Schritte von mir weg. „In Amerika gibt es ein paar wesentliche Sitten, die über viele relevante Begebenheiten herrschen. Vor allem die zwischenmenschlichen Begebenheiten."
Mit geneigtem Kopf sah ich dabei zu, wie er sich mehr von mir entfernte.
„Es ist üblich, das Mädchen, das man mag, auszuführen. Wie oft, das ist situationsbedingt, aber bedeutend ist, dass der Mann den ersten Schritt macht." Harry blieb fünf Meter von mir entfernt stehen, seine Hände waren hinter seinem Rücken verschränkt. „Es gilt als unmännlich, es sich nicht zu wagen, immerhin musste man einer Frau doch etwas bieten können. Es ist schlichtweg unmöglich, einer Frau imponieren zu können und sie von sich zu überzeugen, wenn man ihr nicht einmal einen schönen Abend bieten kann. Wo würde das hinführen? Deswegen ..." – Harry kam wieder langsame Schritte auf mich zu – „blieb einem Mann nichts anderes möglich, als auf die Frau, die so höchst attraktiv auf ihn wirkt, zuzugehen und sie nach einem ersten Date zu fragen."
Mein Herz machte Luftsprünge, als Harry genau vor mir zum Stehen kam.
„Ich finde Sitten ziemlich wichtig", sagte er. „Und auch wenn ich dir kein Besuch in einem Museum oder ein Essen in eines meiner liebsten Restaurants bieten kann, erscheint mir dies hier doch ziemlich unverzichtbar. Also ... Darf ich dich ausführen?"
Für fünf Sekunden vergaß ich, dass wir uns in der Hölle befanden und verspürte wahrhaftiges Glück in meiner Brust. So, wie Harry mich ansah, als er mich das erste Mal fragte, ob er mich ausführen durfte ... Dies war eine der Augenblicke, die ich nie mit ihm vergaß.
„Von einem General lasse ich mich sehr gerne ausführen", antwortete ich und war noch aufgeregter. Ich wollte ihm um den Hals springen und ihn tausendmal küssen.
„Hey, Anne", hielt mich Harry jedoch zurück und lachte leise. „So war das nicht geplant. Hark dich bei mir ein."
Ich tat, was er sagte und grinste zu ihm hinauf, als er mich in eine Richtung noch weiter weg vom Lager führte. „Ist es unmanierlich als Frau einen Mann zu küssen?"
„Es wäre unmanierlich, würde ich dir nicht vorher den Hof machen."
Ich liebte es, wie er mit mir sprach. Mein Vater hatte mir immer erzählt, wie er meiner Mutter den Hof gemacht hatte, oder wie er sich meinen zukünftigen Mann vorstellte und wie er gefälligst mit mir umzugehen hat. Und deswegen war ich mir sicher, mein Vater würde Harry lieben, dafür dass er solche Dinge für mich tat.
Ich hielt Harrys Arm fester an mich, weil ich ihm so nahe sein wollte wie ich konnte. Wir konnten uns so selten berühren, Momente wie diese, musste ich auskosten. „Aber bitte bedenke, dass ich mich anders kleiden würde, wenn du mich zu einem Date ausführen würdest. Ich würde mein schönstes Abendkleid herauskramen."
„Du siehst toll aus", erwiderte Harry jedoch sofort. „Und das sage ich nicht nur, weil ich es immer auf einem Date sagen würde. Hosen stehen dir fast schon zu gut."
„Zu gut?"
„Das verstündest du, wärst du ein Mann. Dennoch lassen sie dich weniger hilflos wirken. Das ist ziemlich beruhigend. "
Harry führte mich zu einer alten Holzscheune. Von drinnen leuchtete Licht, ich fragte mich, was er vorbereitet hatte. Ich konnte es kaum abwarten.
Er öffnete mir – natürlich – die Scheunentür und die Gier danach, ihm um den Hals zu springen, wurde immer intensiver. Ein Strohkasten war als Tisch angerichtet, darauf lag ein verschmutztes Deckchen. Eine kleines Teelicht brannte darauf, sowie mehrere kleine Teelichter wahllos in der Scheune verteilt. Natürlich gut geschützt in Metallbehältern.
Er hatte sogar etwas zu essen und zu trinken bereitgestellt. Zwei saubere Teller standen auf dem Kasten, zwei Becher und zwei Metallflaschen.
Und eine Decke war auf dem Boden ausgebreitet, auf der wir wohl sitzen würden, denn Stühle waren nicht vorhanden.
Es roch übrigens nach Vanille. Das kam wohl von den Kerzen.
„Ich hatte nicht viele Möglichkeiten", erklärte Harry, der hinter mir stand. „Außerdem hat Liam mich gezwungen die vielen Kerzen aufzustellen. Das Tischdeckchen war ebenso seine Idee."
Ich konnte mir kein feixen unterdrücken. „Liam weiß wohl, wie man Frauen imponiert."
„Es war doch alles meine Idee."
„Zu spät, General."
„Dennoch." Harry ging an mir vorbei und deutete auf einen Platz vor dem Strohballen. Nur auf dieser Seite lag ein Kissen, worauf man sich setzen konnte. „Setz dich."
Ich tat, was er sagte und er setzte sich mir gegenüber.
Während Harry eine Metallflasche öffnete und uns beiden etwas einschenkte, betrachtete ich ihn genau. Er war solch ein schöner Mann, auch mit all diesen Narben im Gesicht und an den Händen. Auch mit seinen verbrannten Klamotten und der kleinen Lücke in seiner Augenbraue.
Ich stützte mein Kinn in meine Hand, als er die Flasche wegstellte. Es waren Sekunden wie diese, in denen ich mich in ihm verlor. Erbarmungslos und ohne Gnade.
„Ist das Schnaps?", fragte ich Harry, als er mir einen halbvollen Becher entgegenhielt.
„Es ist Schnaps mit Traubensaft", erklärte Harry. „Es hat die Farbe von Rotwein, außerdem ist Wasser nicht aufheiternd. Oder möchtest du keinen Alkohol?"
Ich stieß mit ihm an, als ich sagte: „Alkohol ist perfekt."
Wir stellten unsere Becher ab und Harry holte eine Schüssel mit trockenen Scheiben Brot hervor. Dann aber noch eine Tafel Schokolade, was meine Miene aufhellen ließ.
„Oh Gott", krächzte ich. „Sag bloß, das war auch Liams Idee."
„Nein." Seine Mundwinkel hoben sich zufrieden, als er die Schokolade auspackte. „Meine Idee."
Er teilte die Tafel in zwei, aber gab mir das größere Stück. Ich ließ es zwar zu, würde ihm aber trotzdem noch etwas übrig lassen. Ich wollte nur nicht für Diskussionen sorgen, ich wollte mich mit ihm unterhalten, als wäre das hier ein wahrhaftiges Date.
„Also", fing ich ein Gespräch an und riss etwas von dem Brot ab. „Du kannst also Keith nicht ausstehen."
Erst schwieg er noch, dann aß er ein Stück Brot. „Keith ist ein Vollidiot", sagte Harry sachlich. „Und hat keine Ahnung von dem, was er hier tut. Ich war froh, dass wir erfahrene Soldaten in unserem Platoon hatten und nicht solche ... Möchtegernhelden."
„Du bist zu kritisch."
„Ich ... Lass uns über etwas anderes sprechen." Harry setzte sich bequemer hin und trank von seinem Schnaps. „Solche Gespräche führt man eigentlich erst während des zweiten oder dritten Dates."
„Was für Gespräche?", fragte ich gehässig nach. „Diese, in denen ich dich als eifersüchtig entlarve?"
Harry musste leise aufschnaufen, als er seinen Becher abstellte. „Oh, ich schäme mich nicht dafür. Viel lieber solltest du dich glücklich schätzen, dass ich aufpasse, wer mit dir umgeht. Keith scheint mir noch sehr suspekt. Seine Attitüde ist ... scheiße nervig."
Ich wollte Harry sagen, dass ich mochte, dass er zugab, eifersüchtig zu sein, aber behielt es für mich. Solche Gedanken waren lange Zeit mein Geheimnis. „Erzähl mir irgendetwas. Etwas, das ich noch nicht weiß", führte ich die Unterhaltung fort.
„Das könnte Stunden dauern."
„Wir haben noch die ganze Nacht."
Harry lächelte. Ich lächelte.
Und dann erzählt er. Er erzählte von seinem Zuhause in North Carolina und seinem Aushilfsjob als Nachhilfelehrer. Er verdiente nur ein paar Pennys dadurch, aber mit siebzehn konnte er sich sein erstes Auto damit kaufen. Harry schwärmte fast zwanzig Minuten lang von seinem roten Cadillac und wie stolz er darauf war. Früher konnte er sich nicht vieles leisten, denn seine Familie hatte nie sonderlich viel Geld, doch dieses Auto gab ihm Selbstbewusstsein.
Irgendwann setzte er es mit Niall in den Graben.
„Wir waren so betrunken", erzählte er versunken in Erinnerungen. „Wir hatten es verdient."
Daraufhin mussten Niall und er zwanzig Stunden in einer Abwasserreinigung arbeiten. Es war ein Höllenjob, meinte Harry. Aber er hatte daraus gelernt.
Und ich mochte es, wie er von seiner Mutter erzählte. Seine Augen glänzten und glitzerten, als er preis gab, wie gerne sie ihm vorgesungen und dabei am Klavier gespielt hatte. Nichtsdestotrotz erkannte ich irgendwann den Schmerz in seinem Gesicht.
„Sie war solch eine tolle Frau", sagte er und drehte den Becher in seiner Hand. „Sie fehlt mir jeden Tag mehr."
„Ich kann dein Leid mitfühlen", sagte ich daraufhin traurig. „Ich vermisse meine Mutter auch."
Ich verdrängte den Gedanken, dass sogar vielleicht derjenige sein konnte, der sie erschossen hatte. Und die Erinnerung daran, wie ihre blutende Leiche an mir vorbeigeschliffen wurde.
Harry betrachtete mich eine Weile. Eine deprimierende Stimmung nahm unsere kleine rosa Blase ein, in der wir uns mal wieder befanden. Mal wieder waren wir einfach nur irgendwelche jungen Menschen, die sich ineinander verloren.
„Aber wieso schreibst du ihr denn nie einen Brief?", fragte ich ihn dann. „Es würde sie so sehr beruhigen, wenn sie wüsste, dass du noch wohl auf bist."
Harry schüttelte den Kopf. „Nein ..."
Ich neigte den Kopf. „Wieso? Du würdest sie damit glücklich machen."
Daraufhin unterbrach er den Blickkontakt. „Das ist etwas, das du nicht verstehen würdest."
Und dann sprachen wir über Niall. Wir gingen so viele Gesprächsthemen durch, dass ich total vergaß, dass wir mittlerweile bestimmt schon zwei Stunden hier saßen. Es wurde sogar warm um uns herum, ich zog irgendwann meine Jacke aus. Harry auch.
„Ich bin mit den Jahren ein starker Realist geworden", sagte Harry. „Und wenn es nicht um Niall gehen würde, würde ich sagen, er ist verloren. Niemals könnte er den Angriff der Deutschen überlebt haben, aber ... Ich kann nicht anfangen mir einzureden, dass er tot ist."
„Wieso denkst du plötzlich so und Liam nicht?", fragte ich leise.
Harry seufzte. „Niall war Liams Schützling. Die beiden kennen sich seit sie sprechen können. Ich denke, Liam hatte außer Niall nichts mehr, was ihn weiter glauben ließ."
Ich lächelte aufmunternd. „Doch. Dich."
Auf diese Aussage hoben sich wieder Harrys Mundwinkel. So verletzlich wie in dieser Nacht hatte ich ihn selten erlebt. Ich lernte viel von ihm kennen, Seiten, die ich immer hinterfragte, aber trotzdem wollte ich mehr wissen. Ich wusste, er verschwieg noch viel. Da war mehr, das er mir hätte erzählen können und worüber er sich Gedanken machte, aber irgendwann würde ich es herausfinden. Das schwor ich mir.
„Ich wollte immer heiraten", antwortete ich Harry auf die Frage, wie ich zu dem Thema Heirat stand. „Einen netten Mann kennenlernen, heiraten, ein Haus bauen, viele Kinder bekommen und irgendwann sterben, wenn es so weit ist. Das war mein Plan."
Harry hatte sich mit der davonschweifenden Zeit gegen die Holzwand der Scheune gelehnt. Sein Becher hatte er stets in seiner Hand. Auch merkte ich mittlerweile den Alkohol. Er auch. Unsere Gespräche wurden aufrichtiger und intimer.
„Das klingt wie etwas, das meine Mutter mir erzählen würde", sagte er. „Sie hatte den gleichen Plan."
„Klingt es denn für dich nach einem schlechten Plan?"
„Keineswegs. Ich stelle mir kaum etwas schöner vor, als die Tatsache, dass man mit jemanden leben kann, für den man sich bis zu seinem Lebensende entschieden hat. Eigentlich lustig. Noch vor ein paar Jahren hatte ich geplant, mit zweiundzwanzig bereits verlobt zu sein."
Ich musste lachen. „Und nun sieh dich an. Du bist noch immer ein einsamer Junggeselle. Scheinbar gibt es keine Hoffnung mehr für dich."
Die Vorstellung, Harry niemals kennengelernt zu haben, wenn es diesen Krieg nicht geben würde und er wäre genau jetzt in Amerika, irgendwo in North Carolina, mit irgendeiner hübschen Frau, die ihn Tag und Nacht küssen durfte, verabreichte mir einen Brustschmerz der besonderen Art und Weise.
Harry setzte wieder seinen Becher an. „Ich habe aufgehört darüber nachzudenken."
„Wieso?", fragte ich mit gerunzelter Stirn.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass ich zurück nach Amerika gehen und dort heiraten werde, ist gering. Wenn überhaupt."
„Gott, warum sagst du das?" Ich wollte so etwas nicht von ihm hören. Zwar hatte ich mir schon oft ausgemalt, wie er sich dachte, er würde hier in Deutschland sterben, aber ich wollte es nicht wahrhaben. „Du kannst nicht daran glauben, hier zu sterben."
Er drehte seinen Kopf ungläubig zu mir. „Wie bitte? Es ist pures Glück, dass ich vier Jahre überlebt habe. Ich sagte bereits, dass ich Realist bin. Und ich glaube nicht genug an Gott, um darauf zu hoffen, dass er Liams Gebete erhört."
Ich wurde sauer. „Das ist Bullshit. Hör auf so was zu sagen."
Nun verzog sich sein Mund zu einem schiefen Grinsen. „Bullshit?"
„Ja, Bullshit. Absoluter Bullshit."
„Ich stehe total drauf, wenn du auf Englisch fluchst."
„Das ist mir egal."
Er richtete sich mehr auf und stellte seinen Becher weg. „Aber wechseln wir das Thema. Wie sieht es mit deinem Alkoholstand aus? Beide Flaschen sind leer."
Ich entspannte mich wieder und lehnte wiederholt mein Kopf in meine Hände. „Ich habe mittlerweile so viel getrunken, dass ich damit Kämpfe, nicht zu dir herüberzukriechen."
„Aber du weißt wohl, dass man so etwas bei einem ersten Date nicht tut, habe ich Recht?"
Ich seufzte tief. „Ja, das weiß ich wohl. Verdammte amerikanische Sitten."
Dann sah Harry mich einfach nur an. Seine Augen waren schön. So grün und so, so schön. Zu schön, um mich nicht in sie verlieben.
„Ich habe noch nie eine Frau bei einem ersten Date geküsst", sagte er irgendwann.
Ich hob den Kopf aufmerksamer an.
„Aber ich war auch noch nie mit einer so schönen Frau auf einem Date", sprach er weiter und musterte mein Gesicht genauer, was mein Herz schneller schlagen ließ.
Ich machte meinen Rücken gerader und wartete ab, was er noch zu sagen hatte. Irgendeine Reaktion musste noch von ihm kommen.
„Scheiße, was soll's, wir sind nicht in Amerika", flüsterte er schließlich und dann beugte er sich über den „Tisch" und küsste mich.
#Hannemarryforever
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