45.
Harry
Aber ich hatte keine Kraft mich um meine Männer zu sorgen. Das erste Mal dachte ich an jemand anderen außer an die Soldaten und an mich.
Ich dachte an Annemarie und wie sie versuchte ihr Schluchzen zu unterdrücken, als ich sie festhielt.
Hier, in diesem Bunker, umringt von fallenden Bomben und Menschen, die um ihr Leben schrien, fragte ich mich das erste Mal, ob ich einen Fehler gemacht hatte. Ich hätte sie heute Nacht nicht hier herbringen dürfen, ich hätte ihr nie so nah kommen dürfen, ich hätte in ihr nie eine erfrischende Abwechslung sehen dürfen, ich hätte nie zulassen dürfen, dass Pattons sie und ihre Schwester mitnahm. Ich hätte nie, scheiße, ich hätte mich nie so in ihren blauen Augen verlieren dürfen.
Sie könnte in dieser Nacht sterben. Zerbombt von diesen Monstern dort oben, wer auch immer sie sein mochten. Oder erschossen von dem Trupp, der demnächst hier einmarschierte.
Aber was sollte ich tun?
Sie war schön, so schön. Ihr Lächeln ließ mich mein Selbst überdenken und sie zeigte mir, dass das Leben nicht vorbei war, nur weil wir hier waren.
Ich hatte nie eine schönere Frau getroffen.
Anne machte mich verletzlich. Ich konnte es fühlen.
Aber ... Was sollte ich nur dagegen tun? Ich war machtlos.
Ich konnte mir nur immer wieder selbst die Schuld geben, sollte Pattons ihr wehtun.
„Wann ist es vorbei?", brachte mich ihre samtige und gleichzeitig traurige Stimme wieder ins Hier und Jetzt.
Ich sah zu ihr hinab, sie aber hatte die Augen geschlossen. Getrocknete Tränen waren auf ihren schmutzigen Wangen zu erkennen. „Bald", versicherte ich ihr, auch wenn mir nicht bewusst war, wann dieses „bald" wirklich eintreffen sollte. „Es wird keine weiteren fünf Minuten mehr dauern."
Sie atmete zitternd durch. Ihre Finger harkten sich mehr in mein Hemd. „Harry?"
„Hm?"
Ein weiterer lauter Schlag, der die Wände vibrieren ließ, brachte Anne und das kleine Mädchen dazu, aufzuzucken.
Ich drückte Annes Kopf enger an meine Brust. „Was wolltest du sagen?", fragte ich sie.
Für einen kurzen Augenblick schien sie sich noch anzustrengen, sich zu beruhigen. Dann sagte sie: „Ich fürchte mich."
„Wovor fürchtest du dich?"
„Was, wenn Sergeant Pattons ... mir wieder wehtun wird?"
Alleine der Gedanke an dieses sadistische Arschloch, kochte mein Blut und ich presste den Kiefer zusammen. „Denk nicht daran."
„Also ... wird er mir wehtun. Und du weißt es."
Die ehrlichste Antwort, die ich darauf hätte geben können, wäre, dass ich nicht einmal wusste, ob mein Platoon und Sergeant Pattons überhaupt noch lebten. Aber ich wollte Anne nicht beunruhigen. Ich wusste, wie sehr sie sich um ihre kleine Schwester sorgte. „Er wird dir nicht wehtun", sprach ich, obwohl es eine Lüge hätte sein können. „Pattons wird genug Probleme haben. Er war sehr unkonzentriert in letzter Zeit."
„Weshalb?"
„Es gibt einen Mann. Aus dem Platoon, das sich uns kurz vor Zayns Tod angeschlossen hat. Er ist Kommandeur und stemmt sich gegen Pattons auf."
„Ich habe nie etwas von ihm mitbekommen."
„Er ist für die Panzertruppen verantwortlich. Ich selbst spreche nur mit ihm, wenn wir rasten oder Dispute aufkommen."
„Wie heißt er?"
Dieses Gespräch war gut. Es lenkte Anne ab und ich wusste, dass es ihr gefiel, wenn es einen Mann gab, der sein Wort gegen Pattons erhob, so wie David es einst tat. „Er heißt Joseph", führte ich deswegen das Gespräch fort. „Du würdest ihn mögen, da bin ich mir sicher."
Kurz schwieg Anne. „In diesen Disputen ... Sind Annel und ich da manchmal ein Thema?"
Ich lehnte meinen Kopf an die Steinwand, an der ich lehnte und sah zu der einzelnen Glühbirne, die flackernd von der Decke hing. „Ja, manchmal."
Sie wurde immer gelassener. „Was sagt Joseph über uns?"
„Er war derjenige, der veranlasst hat, dass du und deine Schwester alleine in einem Zelt schlafen dürft. Außerdem hat er jedem gedroht, der euch anfasst."
Mit ihren wundervollen Augen blickte sie zu mir hinauf. Ich dachte, so etwas wie ein Funkeln zu erkennen. „Hat er das wirklich?"
Ich musste lächeln. „Ja, das hat er. Joseph ist ziemlich radikal, aber der Vater von drei Töchtern. Wenn es einer versteht, das Leben von jungen Frauen zu beschützen, dann er."
Wieder gab es einen mächtigen Schlag und Anne rutschte enger an mich heran, wenn das überhaupt noch möglich war. Ich konnte sogar schwören, das kleine Mädchen, das schweigend links von mir saß, kam mir immer näher.
„Du belügst mich nicht", sagte Anne irgendwann wieder leise. „Oder?"
„Warum sollte ich lügen?"
„Damit ich mich beruhige. Einfach um diese Situation gerade, weniger schlimm zu machen."
„Nein, Anne." Ich strich ihr unterbewusst über ihr blondes Haar. „Ich bin mir sicher, du wirst Joseph bald treffen." Vorausgesetzt er lebte noch.
„Und selbst wenn es eine Lüge wäre", sagte sie seufzend. „Dann danke ich dir für den Versuch, mich aufzumuntern."
Ich runzelte die Stirn. „Wieso bist du so misstrauisch?"
Aber das Gespräch wurde durch ein leises Winseln neben mir unterbrochen. Ich drehte meinen Kopf zu dem kleinen Mädchen, die mit zitternder Unterlippe auf ihre blutigen Hände sah und mich dann mit ihren großen Augen fixierte. Sie wisperte fast unmerklich „Help".
Anne wand sich sofort aus meinen Armen. „Oh, nein", flüsterte sie traurig und kniete sich bedrückt vor das Mädchen. Ich beobachtete sie dabei, wie sie vorsichtig nach den Händen des Kindes griff, um sie zu betrachten. „Sie muss schreckliche Schmerzen haben."
Ich winkelte mein Knie an und legte meinen Arm darauf ab. Im Gegensatz zu Annemarie, konnte ich mich nicht auf die Schmerzen dieses Mädchens konzentrieren. Meine Gedanken waren bei meinen Männern. Und dass wir es hier wieder lebend herausschaffen. „Wir können ihr nicht helfen", sagte ich deswegen nur darauf.
Den giftigen Blick von Anne ignorierte ich. Es verwunderte mich nicht, dass meine Aussage ihr nicht gefiel, aber so war ich. Wenn ich jedem Menschen helfen würde, den ich zwischendurch traf, wäre ich schon hundert Mal gestorben.
Sie sprach etwas zu dem Kind, das ich nicht verstand und währenddessen wartete ich. Es rumorte nicht mehr, das Einzige, das ich begann zu riechen, war Rauch. Es war jedes Mal gut, dass die Bunker von jenen Tagen rauchabweisend waren.
„Wir sollten sie zu Liam bringen", sagte Anne irgendwann zu mir. „Sie hat auch Verletzungen an den Beinen und den Füßen. Guck, ihre Schuhe sind kaputt und ..."
„Wir werden sehen, was wir tun können", unterbrach ich sie und stand unter Schmerzen in der Hüfte auf. Ich wollte ihr nicht direkt sagen, dass das kleine Mädchen niemals die Chance bekommen wird, Liam zu treffen. „Es ist vorbei. Wir sollten so schnell wie möglichst zusehen, die anderen wieder zu finden."
Auch wenn das Kind nicht verstand, was ich sagte, schien sie zu begreifen, dass ich ihr nicht viel helfen konnte, deswegen sank sie niedergeschlagen den Kopf. Sie konnte einem leidtun, aber nicht immer war man fähig, jemanden zu retten. So war es einfach nicht.
Anne half ihr hoch und ich ging zur Tür, dann öffnete ich sie. Rauch trat in den Raum, allerdings war es verhältnismäßig wenig, dafür dass ich schon viele Male um meinen Atem bangte, als ein Bombenanschlag vorüber war.
„Du gehst vor", sagte ich zu Anne und hielt die Tür weit genug offen.
Sie nickte und wollte das kleine Mädchen direkt mit sich ziehen, dennoch hielt ich sie zurück.
Ich würde vielleicht bereuen, was ich hier tat, aber in diesem Moment erschien es mir das Beste für dieses Kind.
„Ich nehme sie", meinte ich und hielt das Kind an der Schulter fest. „Sie wird nicht wohl laufen können, wenn sie Schmerzen an den Füßen hat."
Daraufhin schmunzelte Anne, wenn auch nur traurig. „Okay." Daraufhin ging sie an mir vorbei und lief langsam die Treppen nach oben.
Ich bewegte mich nicht, hielt das Mädchen immer noch fest an der dünnen Schulter, spürte, wie sie ungeduldig wurde, aber ich musste warten, bis Anne sich mehr entfernte.
Und dann handelte ich schnell. Ich drückte das kleine Kind mit den großen braunen, unschuldigen und traurigen Augen zurück in den Bunker, woraufhin sie mich sprachlos ansah. „Hier bist du sicherer", sagte ich ihr so leise wie möglich und schlug dann direkt die Tür vor ihrer Nase zu.
Ich schob den Metallregler beiseite und wusste, ich würde nie wieder den flehenden Blick in ihrem Gesicht vergessen, als sie mich das letzte Mal anschaute. Aber es musste sein, es war zu ihrem Besten.
Sergeant Pattons hätte sie nie aufgenommen. Und eine Reise wie unsere, hätte sie nie überlebt. Hier, in diesem Bunker, konnte ihr niemand etwas tun, so redete ich es mir ein, als ich mich an Anne wandte, die ein paar Meter entfernt war.
„Wo ist sie?", fragte sie mich verwirrt, als ich auf sie zukam.
„Sie ist weggerannt, als ich sie auf den Rücken nehmen wollte", log ich. Und ja, ich bereute diese Lüge. „Ich denke, sie sucht ihre Eltern."
Annes Miene fiel und sie wirkte wieder deprimierter. „Oh ... Wir sollten sie suchen. Nicht, dass ..."
„Anne." Ich atmete tief durch und wollte endlich von diesem Bunker verschwinden. Wie würde Annemarie nur reagieren, wenn das Kind plötzlich begann gegen die Tür zu hämmern? „Lass uns einfach gehen. Wir haben keine Zeit mehr."
Daraufhin seufzte sie. „Ist gut."
Wir verließen gemeinsam den Garten. Und ich konnte hören, wie Anne nach Luft schnappte, als wir nun das Dorf vor unseren Augen sahen.
Auch wenn kein Vollmond wäre, würde man alles perfekt erkennen. Denn das Feuer, das aus manchen Häusern loderte, erhellte die ganze Gegend.
Wände der Häuser waren zersprungen, Autos brannten, überall war es stickig, durch den dichten Rauch und die Sirenen waren noch laut und deutlich zu hören. Es roch nach Verderben.
Irgendwo schrie und weinte eine Frau, man konnte sie aber nicht hören.
„Nein", hauchte Anne entsetzt neben mir und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie ging vor mir drei Schritte voraus und drehte sich langsam. „Das ist ... grauenvoll."
Grauenvoll war ein zu wenig grauenvolles Synonym für diesen Anblick, der sich uns bot. Und vor allem Anne zwischen diesen Trümmern zu sehen, war noch grauenvoller. Sie gehörte hier nicht hin und sollte all dies nicht sehen.
Für mich war diese Aussicht nichts Neues. Ich hatte mit den Jahren gelernt, damit umzugehen und nur noch den Weg ganz schnell weg von hier zu erkennen, aber ich war nicht alleine. Deswegen ging ich zu Anne, nahm ihr die Hand vom Mund und zog sie damit in eine feste Umarmung.
Sie weinte nicht, darüber war ich froh, aber ihr heißer Atem an dem Stoff meines Hemdes, war so zittrig, dass ich wusste, es könnte jeden Moment passieren.
Es war unsere erste Umarmung. Wieso musste so etwas zwischen Tod und Asche passieren?
„Sie haben alles zerstört", flüsterte sie in meine Schulter. „Sie haben einfach alles zerstört. Als ... Als wären diese Menschen hier wertlos."
Ich hielt sie am Hinterkopf fest an mich. Bisher hielt ich nur Liam so in den Armen, als er anfangs noch nicht mit alledem klarkam. Nun war es sie. „Das wichtigste ist, dass wir es überlebt haben", redete ich ihr zu. „Es werden bessere Tage kommen." Daran zweifelte ich selbst, aber für sie sprach ich es aus.
Sie schniefte. „Das war eine Lüge."
Ich atmete tief aus und drückte sie ein letztes Mal nah an mich heran. Ich erwiderte darauf nichts, denn sie hatte Recht.
Als ich meinen Blick hob, sah ich über ihren Kopf hinweg die Frau, die weinte. In ihrem Arm hielt sie einen Mann, der sich nicht regte. Sie schrie und schrie. Es war sicher, dass ihr Mann tot war. Verschlungen von diesen Bomben und diesem Krieg, wie Zayn verschlungen wurde.
Aber Annemarie sollte das nicht sehen. Deswegen hielt ich ihre Augen von diesem Anblick weg und drückte sie sanft in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Und dann hörte ich schon, wie jemand gehetzt meinen Namen rief.
„Harry!", hörte ich es wieder und ich drehte mich in jede mögliche Richtung. Zunächst erkannte ich Liam, der aus einer Rauchwolke auf mich zugerannt kam.
„Liam", keuchte ich erleichtert.
Er lebte. Scheiße, Liam lebte. Das bedeutete, die anderen waren auch in Sicherheit.
„Wo seid ihr? Was ist mit Pattons? Wer ...", durchlöcherte ich ihn mit Fragen.
„Harry", unterbrach Liam mich außer Atem und drücktemir meine Uniformjacke in die Hand. „Zieh die sofort an. Pattons ist auf dem Weghier her. Und er sucht euch."
Wir sollten einen Shipnamen für die zwei Erfinden! Vorschläge? Spontan fällt mir #Hanne ein :D
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