44.
Time to start this drama.
Harry
Ich nahm Anne fest an die Hand, als die Panik der Leute immer größer wurde. Ich wurde von allen Seiten angerempelt, jeder schrie und weinte und manche saßen in Ruhe an den Tischen und waren bereit, ihr Leben zu lassen.
Doch ich wollte keine Rücksicht auf die Menschen um uns herum nehmen, ich wollte Anne und mein Leben retten. Deswegen lief ich mit dichtem Tunnelblick durch die Menschenmenge und schubste diejenigen von mir, die sich mir in den Weg stellten.
Wir kamen fast am Ausgang an, als Annes Hand aus meiner rutschte. Ich drehte mich sofort um.
Ein älterer Mann sprach hektisch auf sie ein, hielt sie fest und das einzige Wort, das ich verstand war „Bunker".
Doch auch wenn er sich ebenfalls retten wollte, war mir seine Sorge egal. Deswegen zog ich meinen Revolver unter meinem Hemd hervor. „Hey!", verlangte ich laut nach Aufmerksamkeit und sofort starrte er und Anne mich an. Weil er wie erfroren war und nur in den Lauf meiner Waffe sah, schnappte ich mir Annemarie und warf ihm einen warnenden Blick zu.
In solchen Situation handelte ich taktisch, nicht human.
Anne ließ sich ohne Wiederrede von mir aus dem Durcheinander ziehen und ich blickte in den Himmel, als schon die Sirenen losgingen.
Ich hasste diese Sirenen.
„Großes Holzhaus", sagte Annemarie und sah konfus in den Himmel. „Grüne Straße."
Ich fasste ihre Worte auf, doch gleichzeitig stieg mein Adrenalin innerhalb von einem Herzschlag, als ich sah wie die erste Flugmaschine eine Bombe abließ.
„Los", sagte ich und ging rückwärts, mit den Augen genau auf dem kleinen schwarzen Punkt, der zu unserem Glück weit genug weg landen würde. Und als es laut krachte, verlor ich keine Zeit mehr. „Los!"
Ich zog Anne hinter mir her und sie versuchte Schritt zu halten. Ich rannte durch die Straßen des Dorfes, suchte ein großes Holzhaus oder einfach irgendetwas, das einer grünen Straße ähnlich sah.
Ich blieb an einer Kreuzung stehen, die Leute rannten kreischend an uns vorbei, es war das reinste Chaos. Ich blickte nach links und rechts, mein Atem ging schwer.
Es war nicht das erste Mal, dass ich in diesem Krieg auf mich alleine gestellt war, aber das erste Mal, dass ich dabei um mehr als mein Leben bangen musste.
Und dann hörte ich die Düsen der Maschinen laut und deutlich.
Ich wagte es mich kaum, den Blick zu heben, doch tat es. Sie waren direkt über uns. Und es waren mindestens fünfzehn Stück von ihnen.
Als ich das leise Pfeifen, der abgeworfenen Bomben hörte, durfte ich nicht mehr auf einen Bunker hoffen.
Ich riss Anne ohne Worte in irgendeine Richtung und hielt Ausschau nach einem offenen Haus. Wir würden diese Scheiße überleben, dieses Fest war nicht unsere letzte Nacht. Dessen blieb ich mir bewusst.
„Harry!", kreischte Anne hinter mir und ich verfolgte ihren Blick und ihrem Finger, den sie in die Luft hielt.
Ich reagierte blitzschnell. Ich registrierte die Mauer links von uns, sprang mit Anne dahinter, drückte sie zu Boden und umschloss sie so gut ich konnte.
In der nächsten Sekunde schlug eine der Bomben so heftig und so laut ein, dass ich Anne die Ohren zuhalten musste. Meine Augen presste ich zu und spannte mich an.
Der Untergrund vibrierte, Menschen schrien, ich bekam Steine ab und Hitze stieg auf.
Anne unter mir zitterte und wimmerte deutlich, als sie sich an mich presste.
Aber auch wenn wir den ersten Schlag nicht abbekamen, war keine Zeit gekommen, um uns auszuruhen. Wir mussten hier weg und das so schnell wie wir konnten.
Ich rappelte mich auf, ignorierte den Schmerz, den ich am Hinterkopf spürte und zog Anne auf die Beine, die mittlerweile Tränen in den Augen hatte.
„Bunker", brachte ich schweratmend hervor und ließ mein Blick durch die Umgebung gleiten.
Die Bombe war nicht einmal fünfzig Meter von uns entfernt eingetroffen. Der Brunnen, der vorher an der Kreuzung stand, war nicht mehr beständig und ich erkannte bereits vier tote Körper auf der Straße. Oder das, was von ihnen übrig geblieben war.
„Oh mein Gott, Harry", hauchte Anne kläglich und deutete auf ein Haus, das zu dieser Mauer gehörte. „Die grüne Straße, hier ist das Holzhaus."
Sie hatte Recht. Wie konnte ich es vorher nicht erkennen? Ich rannte um das Haus herum, hörte die nächsten Explosionen der Bomben, diesmal waren sie entfernter.
Sofort erspähte ich im Garten den kleinen Eingang in den Keller, in dem der Bunker sein wird. Ich wollte die drei Treppen herunter, hörte schon das nächste Pfeifen einer abgeworfenen Bombe und wollte die schwere Tür öffnen.
„Stop!", hielt Anne mich auf und ich drehte mich zu ihr. „Dort!"
Ich folgte ihrem ängstlichen Blick und schon vernahm ich, was sie meinte.
Ich verfluchte sie dafür, mich darauf aufmerksam gemacht zu haben. Ich kämpfte einen kurzen Moment mit mir, doch ich würde es schaffen. „Du gehst rein", befahl ich ihr und öffnete die Tür. Hurtig drückte ich sie hinein. „Ich kümmere mich darum." Und dann schloss ich die Tür wieder, bevor sie sich beschweren konnte.
Dann joggte ich die Treppen nach oben, sprintete zu dem kleinen Busch im Garten, hinter dem sich das kleine Mädchen versteckte. Ich kam rutschend vor ihren Füßen an.
Sie saß eingekauert, schniefend und beängstigt auf dem Boden und blickte mich nur an.
„Es wird Zeit, zu gehen", sagte ich, auch wenn ich wusste, sie würde es nicht verstehen. Ich schnappte sie mir, warf sie mir um die linke Schulter und dann kam uns das Pfeifen der fliegenden Bomben zu nahe.
Ich war nicht schnell genug.
Die Bombe schlug keine zwanzig Meter in einem Haus neben uns ein und ich konnte der Wucht nicht standhalten.
Das Mädchen kreischte, als ich einen Meter zur Seite flog und unsanft landete.
„Scheiße", zischte ich vor Schmerz. Diese verdammte Wunde war gerade erst verheilt und nun fühlte sie sich erneut an wie der nächste Tod.
Ich hörte nicht mehr viel, nur noch ein lautes Piepen in meinen Ohren. Ich wollte nicht wissen, wie schwer ich am Kopf blutete, als ich mich unter Leiden aufrappelte und das kleine Mädchen versuchte auf meiner Schulter zu halten.
Sie zappelte, also lebte sie noch.
Allerdings fiel mir das Rennen schwerer als zuvor, dennoch tat ich mein Bestes. Ich kam an der kleinen Tür an, öffnete sie und noch bevor ich das Mädchen hinunterließ, schmiss ich die Tür mit einem heftigen Schwung wieder zu.
Aber für mich war es hiermit noch lange nicht vorbei. Auch Bunker konnten einstürzen. Hier waren wir nicht komplett sicher.
Ich ließ das Mädchen vorsichtig herunter und kniete mich vor sie.
Sie weinte, ihre braunen Augen lagen eingeschüchtert auf meinen. Ich fragte mich, welcher Vater oder welche Mutter ihr Kind einfach so alleine ließ, aber dann fiel mir wieder ein, wo wir waren und in welchen Zeiten wir lebten. Ihre Eltern mussten Tod gewesen sein.
„Danke", flüsterte das kleine Mädchen zu mir. Es war eines der wenigen Deutschen Worte, die ich verstand.
Deswegen nickte ich nur geschwächt und spürte eine Hand auf meiner Schulter. Anne stand neben mir. Als ich zu ihr hinaufschaute, sah ich sofort, dass sie sich schwer tat, nicht zu weinen.
In diesem Bunker war nichts, außer ein kleiner Schrank mit Proviant, deswegen zog ich sie zu mir hinab und setzte mich in die Ecke des kleinen Raums. Ich umschloss sie so gut ich konnte mit meinen Armen, als sie sich an meine Brust krallte und schniefte. Das kleine Mädchen setzte sich in die andere Ecke des Raums und presste ihre Knie an die Brust.
Es herrschte eine qualvolle Stille. Keine Bombe war mehr zu hören, die Sirenen ertönten nur noch abgedämpft.
Aber auch wenn ich gerne gesagt hätte, dass wir es geschafft hatten, wusste ich, dass es gerade erst der Anfang war.
„Wieso passiert nichts mehr?", fragte mich Anne leise. Ihre Stimme war brüchig.
Ich drückte ihren Kopf enger an mich heran, weil es gleich wieder losgehen würde.
Und dann geschah es.
Anne und das kleine Mädchen erschreckten sich. Die Wände bebten. Ein Einschlag nach dem anderen war zu hören. Steinchen flogen von der Decke und landeten vor unseren Füßen. Das Kind weinte leise in ihre Knie.
Ich sah nur ausdruckslos an die Wand uns gegenüber und wartete. Es war das vierte Mal, dass ich in solch einem Bunker saß. Vier Mal hatte ich Glück. Und zu oft, musste ich mit den anderen Soldaten um mein Leben rennen.
Wie oft hatte mich die Hitze einer solchen Bombe schon verbrannt? Wie oft wurde ich schon von Schutt und Asche überschüttet? Gott verdammt, es war ein Wunder, dass ich noch lebte.
In Momenten wie diesen, dachte ich oftmals an zuhause.
An Mom.
An Mom und wie sie immer am Flügel im Wohnzimmer gespielt und gesungen hat. Und wie sehr sie mir fehlte. Wie gott verdammt sehr ich ihr gerne sagen würde, dass ich noch lebte und ich sie liebte.
„Du", unterbrach Annes sanfte Stimme meine wehleidigen Gedanken, aber mir wurde schnell bewusst, dass sie nicht mich meinte, sondern das kleine Mädchen uns gegenüber. „Bitte. Komm zu uns."
Das Kind hob zaghaft den Kopf. Sie hatte die ganze Zeit versucht leise zu weinen, aber es gelang ihr nicht. Man hörte ihr genau an, wie sehr sie litt. Ihre braunen Haare waren durcheinander, ein paar Blätter hingen darin. Ihre Haut war schmutzig und Blut war an ihren Händen zu erkennen.
„Ich bitte dich", wiederholte Annemarie und ich war erleichtert, dass sie aufgehört hatte zu weinen.
Das Mädchen sah zu mir und dann zu Anne. Und schließlich traute sie sich zu uns zu krabbeln. Sie setzte sich neben mich, zog wieder ihre Knie an und schniefte kläglich.
Ich atmete tief ein und aus, als es für einen Augenblick ruhig war.
In was für einer paradoxen Situation war ich gelandet? War es gut, was ich hier tat?
Und zur Hölle, was war mit meinem Platoon?
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