40.
Das wird jetzt erst nochmal etwas ruhiger, aber bald wird es wieder spannend , ich versprechs :)
Annemarie
„Und du warst nie in einer normalen Schule?", fragte Harry nach, während wir zu zweit auf dem Weg zum nächsten Dorf waren.
Die Sonne schien, das Wetter war wirklich schön. Es passte nicht zu unserer derzeitigen Situation, aber es passte auch nicht zu unserer derzeitigen Situation, uns zu unterhalten, als würde Harry gerade keine Uniform tragen und ich keine Narben an meinen Beinen.
„Nein, niemals", sagte ich seufzend und sah zu Boden. „Mein Vater hatte schon immer dafür gesorgt, dass wir alles von zuhause lernen konnten. Ob es nun der Englischunterricht oder die Klavierstunden waren. Aber dafür hatte ich einen unheimlich lustigen Gesangslehrer."
„Du singst und spielst Klavier?" Harry schien verdutzt.
Ich blickte zu ihm auf. Seine Reaktion amüsierte mich. „Ja. Es ist üblich, so etwas zu lernen. In Amerika nicht?"
„Ich weiß es nicht, aber ich mag es. Zu schade, dass wir nicht fähig sind, ein Klavier auf unseren Schultern zu tragen. Ansonsten müsstest du Tag und Nacht spielen und singen."
Ich feixte leise. „Tag und Nacht?"
„Selbstverständlich." Harry grinste. „Ich würde dich dort festbinden und dir ab und zu etwas zu trinken und zu essen bringen. Schlafen dürftest du dann, wenn ich schlafe. Aber du müsstest ständig singen, ständig. Ich würde dir vielleicht sogar ein Notenbuch aus Amerika besorgen, damit du amerikanische Lieder spielen kannst. Und dann ..."
Ich unterbrach ihn, indem ich ihn etwas anstumpte. „Hör auf, das klingt idiotisch."
„Idiotisch? Ich habe schon jahrelang keine Frau mehr singen und Klavier spielen hören, das wäre das Mindeste, das du tun könntest."
„Nun hör aber auf. Mach mich nicht zu einem Zirkuspferd."
Wir lächelten beide um die Wette, als wir schwiegen. Es war seit langer Zeit mal wieder ein wirklich aufrichtiges Grinsen und ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich liebte die einfachen Gespräche mit Harry. Wir lernten uns immer mehr kennen, auch wenn er selten etwas von sich erzählte. Ich merkte schon lange, dass er ein sehr verschlossener Mensch war, doch es störte mich nicht.
Ich konnte mit ihm sprechen wie mit einem normalen Mann und das lenkte mich von all diesem Grauen, das um unsere kleine süße Blase, in der wir uns gerade befanden, geschah.
Die Sonne tat mir gut und ich spürte, wie sie mir neue Energie schenkte. Das Wetter in den letzten Tag war nass und kalt, es passte also zur tottraurigen Stimmung. Zayns und Davids Tod hing uns allen, vor allem Annel, noch sehr in den Knochen. Letzte Nacht weinte sie viel an meiner Brust und sagte mir immer wieder, wie sehr sie nach Hause wollte und wie sehr sie unseren Vater vermisste.
Und ich konnte ihr nicht einmal sagen, dass wir bald nach Hause gehen durften, denn ... wo war unser Zuhause? Und wer war unser Vater?
„Siehst du das?", holte mich Harry aus meinen Gedanken und ich hob den Kopf an. Er deutete geradeaus, wo ein Haus zu sehen war mit einem riesigen Baum davor.
„Was meinst du?", fragte ich nach, doch konnte mir die Frage im nächsten Moment selbst beantworten, denn nun fiel auch mir die alte Frau auf, die mit einem langen Besen in den Blättern des Baumes rumwedelte. „Was tut sie da?" Und warum war sie hier? In einem Haus mitten im Nirgendwo, während doch überall Soldaten umherliefen?
Als wir ihr immer näher kamen, erblickte sie uns. Sie hielt still und beobachtete uns.
„Hallo", sprach ich sie auf Deutsch an. „Ist alles in Ordnung bei ..."
Ihr Blick fiel auf Harry und sie hielt ihren Besen vor sich, als wäre es eine Waffe. „Amerikaner!", platzte sie heraus und begann sofort zu zittern. Sie wirkte nicht aggressiv auf mich, sie war alt und gebrechlich. Sie trug ihre weißen Haare in einem ordentlichen Dutt an ihrem Hinterkopf, eine Brille zierte ihre Nase und an ihren Füßen waren deutliche Hausfrauenpantoffeln zu erkennen. Sowieso war sie mindestens einen Kopf kleiner als ich und eine Menge kleiner als Harry.
„Es ist okay", versuchte ich sie zu beruhigen und hob die Hände. „Er tut Ihnen nichts. Wir sind wirklich nur ..."
„Ein deutsches Mädchen und ein amerikanischer Soldat", unterbrach mich die Frau und ließ erstaunt den Besen sinken. „Dieser Tag hätte nicht noch kurioser werden können."
Ich war erleichtert, weil sie nun nicht mehr so ängstlich wirkte. Natürlich verstand Harry nicht, was wir sprachen, aber ich bemerkte, wie er ausatmete, weil auch er begriff, dass die alte Frau keine Furcht mehr vor ihm hatte.
Die alte Frau ging seufzend einen Schritt auf den Baum zu und blickte verzweifelt nach oben zu den vielen bunten Blättern. „Frieda sitzt schon seit Stunden dort oben und möchte nicht herunterkommen."
„Frieda?", hakte ich nach und blickte verwirrt in die Höhe. Und als es miaute, wurde es mir klar. Ihre Katze saß dort.
„Dieses kleine Biest", meckerte die Frau. „Letzte Nacht ist ein Trupp an unserem Haus vorbeigezogen und seitdem sitzt sie dort oben wie ein ängstliches Kind."
„Ich denke, ihre Katze sitzt dort oben", sagte nun Harry, der die ganze Situation wohl versuchte zu verstehen. „Richtig?"
„Richtig", bestätigte ich.
„Frieda!", rief die Frau aus und klopfte mit dem Besen gegen den dicken Baumstamm. „Schluss mit den Spielchen!"
Und wieder hörte ich nur ein klägliches Miauen einer scheinbar genervten Katze.
Die alte Dame stemmte verärgert ihre Hände in die Hüften und stampfte auf. „Es ist zum Verzweifeln." Sie wand sich zu meiner Überraschung an Harry. „Nun, amerikanischer Soldat. Du bist groß und kräftig. Ich denke, ich würde mir einen Wirbelsäulenbruch holen, wenn ich versuchen würde, dort hochzuklettern."
Harry starrte sie nur blinzelnd an und ich konnte mir kein Grinsen verkneifen.
„Sie fragt dich, ob du für sie auf den Baum klettern kannst", übersetze ich für ihn.
Er öffnete den Mund, schien aber sprachlos zu sein. Es wunderte mich jedoch nicht. Auch für mich war es ungewöhnlich, dass eine deutsche Frau wie sie so mit einem verfeindeten Soldaten sprach.
Jedoch nickte Harry dann und zog sich die Jacke aus. Man spürte, wie es ihm widerstrebte, seine Pistole wegzulegen. Er ging normalerweise keine zwei Meter ohne eine Waffe weiter, aber hier tat er es.
Wortlos krallte er sich an einen Ast und zog sich nach oben, um dann schließlich zwischen den vielen Blättern zu verschwinden.
„Wie ungewöhnlich", sagte die Frau, als sie – genau wie ich – zusah, wie Harry immer weiter nach oben kletterte. „Eine Konstellation aus deutschem Mädchen und solch einem Mann ist wirklich sehr ungewöhnlich."
„Es ist ebenso ungewöhnlich, dass sie hier sind, während Krieg herrscht", erwiderte ich daraufhin. „Ist das nicht schrecklich gefährlich? Sie müssen eine unheimliche Angst haben."
Sie sah mich an und ihre Mundwinkel hoben sich. „Das Selbe sollte ich dich fragen, hübsches Mädchen."
Ich seufzte, ließ die Schultern hängen und blickte wieder nach oben zu Harry, der versuchte nach der Katze zu greifen, sie ihn jedoch anfauchte und kratzte, worauf er seine Hand sofort wieder fluchend zurückzog. „Das ist eine sehr lange und traurige Geschichte", meinte ich. „Sie wollen sie nicht hören."
„Ich würde natürlich gerne", sagte die Frau allerdings. „Ich habe nur Frieda, und sie spricht nie mit mir. Ich lade euch beide auf etwas Brot mit Käse ein."
Harry landete – samt Katze, die sich aggressiv versuchte aus seinem Arm zu befreien – vor unseren Füße und ich schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht, auch wenn ich wirklich sehr gerne mit ihnen sprechen würde", war ich gezwungen, das Angebot der Frau abzulehnen. „Wir müssen das nächst liegende Dorf finden, um ein paar Sachen zu besorgen." Dann kam mir ein Geistesblitz. „Ich hätte allerdings eine kleine, unangenehme Frage. Erlauben Sie es mir, sie zu stellen?"
Harry ließ die Katze mit einem „fucking cat" herunter und betrachtete seine Arme, die nun mit Kratzern übersehen waren.
„Nachdem Herr Soldat Frieda gerettet hat, kannst du mich alles fragen", lächelte die Frau.
„Könnten Sie mir ... etwas geben, womit ich eine Woche lang sauber durch meine Periode komme?" Mal wieder schämte ich mich zu Tode.
Und die alte Frau lachte sofort herzlich. Sie hatte ein schönes lachen, es klang ehrlich und selten. Dadurch brachte sie auch mich zum Schmunzeln und Harry verstand mal wieder gar nichts und blinzelte sie nur konsterniert an.
„Natürlich, Liebes", sagte sie daraufhin und winkte uns zu ihrem großen Haus. „Kommt mit rein, ich sollte etwas dahaben. Frieda, geh nicht zu weit weg!"
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