34.
Annemarie
Die Augenblicke, die folgten, nachdem man verstehen musste, dass Menschen, die einem viel bedeuteten, starben, waren die furchtbarsten.
Es herrschte eine eiserne Stille, jedes Mal. Man sah sich um, suchte irgendetwas, das einem sagen würden, es wäre nichts passiert und alles wäre in Ordnung, aber die Gesichter der Menschen um dich herum, verrieten alles.
Alle Männer schwiegen, jeder hatte den gleichen Ausdruck in den Augen. Niemand traute sich, etwas zu sagen, denn welche Laute könnten diese Szene schon besser machen?
Ich stand unter Schock, als ich zu Liam sah, der an der Klippe saß und nach unten sah. Er erschien mir wie jemand, den es in diesem Moment extrem erwischte. Es war für mich das erste Mal, mitzuerleben, wie ein befreundeter Soldat fiel und nun wusste ich, dass solche Augenblicke einen erwischen wie Faustschläge.
„Liam", erklang die erste Stimme und ich begriff erst, dass es Harry war, als er einen halben Schritt von hinten auf Liam zuging. Harry wirkte sehr nüchtern. „Steh auf ... Es ist ..."
„Wir müssen da runter", unterbrach Liam ihn und stand, noch weiterhin in den Abgrund starrend, auf. Tatkräftig drehte er sich um. Seine Augen waren so glasig und rot, sodass man meinen könnte, er wäre ein anderer Mensch. „Sie haben überlebt. Ich bin mir sicher, sie haben überlebt. Wir müssen runter und nachsehen, sie haben überlebt, ich werde ..."
Als Liam wie in Trance an Harry vorbeilaufen wollte, hielt dieser in zurück und packte ihn an den Schultern. Tief sah er in Liams Augen. „Hör auf", redete er ruhig auf Liam ein. „Du hast getan, was du konntest, aber du kannst ihnen nicht mehr helfen."
Liams Gesicht verzog sich und die Tränen in seinen Augen wurden immer mehr. Sein Blick verriet, dass er all das nicht wahrhaben wollte. Niemand wollte das. „Aber sie müssen überlebt haben", wiederholte Liam sich und wollte sich aus Harrys Griff entfernen. „Ich beweise es jedem, wir müssen nur ..."
„Hey." Harry hielt ihn erneut zurück und legte seine Hand in Liams Nacken, damit dieser seinen Blick nicht von ihm abwenden konnte. „Du wirst uns nichts beweisen und du wirst nirgendwo hingehen. Wir werden bald ein Lager aufschlagen und bis dahin beruhigst du dich. Einverstanden?"
Für ein paar Momente, reagierte Liam nicht. Er schaute zu Niall, der ebenfalls mit trauriger Miene zu Liam kam und dann wieder zu Harry, der eine Antwort erwartete. „Er ist tot", sagte er leise, seine Stimme war so gebrochen. „Harry, Zayn ist tot."
Harry presste den Kiefer aufeinander, sah zur Klippe und klopfte Liam auf die Schulter. „Ich weiß ... Ich weiß", meinte er, als er Liam Niall übergab, der seinen Arm um seine Schultern legte.
„Komm schon", sprach ihm Niall zu und beide entfernten sich, genauso wie manch andere Männer, die alle miteinander perplex zusahen. „Bald haben wir's geschafft."
Tief durchatmend schaute Harry den beiden hinterher. Ich stand noch immer wie eingefroren auf der Stelle und wusste nicht, wohin mit mir und meinen Gefühlen. Ich konnte nicht weinen, dafür stand ich noch zu sehr unter Schock. David und Zayn hatten es verdient, dass man um sie weinte, aber es gelang mir einfach nicht.
Die Frage, was ich tun würde, wäre Annel mit in den Abgrund gefallen, plagte meinen Kopf, als ich wieder zur Klippe sah. Und was Sergeant Pattons mit mir anstellen würde, nachdem nun zwei Männer starben.
„Annemarie", hörte ich Harry sagen. Er wäre dumm, würde er mir nicht ansehen, wie sehr mich diese Szenerie mitnahm. „Dir wird nichts passieren."
Er schaute mich bereits an, als ich meinen Kopf anhob. Ihm merkte man nicht an, was gerade passierte. Sein Gesichtsausdruck war neutral, nichts konnte man in seiner Miene ablesen.
„Was Pattons angeht", sprach er weiter, weil ich nichts darauf sagte. Harry prüfte die Gegend, während er sagte: „Ich werde mit ihm reden, aber geh solange mit deiner Schwester zu Louis und den anderen. Du weißt, er mag es nicht, wenn ihr alleine seid."
Es entsetzte mich beinahe, wie trocken er einfach die Situation akzeptieren konnte. Sein Kumpane, Zayn, war gestorben und er tat so, als wäre nichts passiert. Konnte der Krieg einen einzigen Menschen so enorm abhärten? Es erschein mir so unwirklich, aber selbst Sergeant Pattons wurde ein Mensch, dem ich in meinen schlimmsten Albträumen nicht begegnen wollte. Ich sollte aufhören an irgendetwas hier draußen zu zweifeln.
Doch als ich Annel an die Hand nahm, die – im Gegensatz zu mir – glasige Augen hatte, und zu Louis ging, während die Truppe schon wieder weiterlief, stellte ich erst fest, dass ich mir gewünscht hätte, Harry hätte mehr getan, als mir zu sagen, er würde mit Sergeant Pattons sprechen.
Ich hatte ihm meinen Körper anvertraut, als ich mich ihm gegenüber auszog und noch immer ließ er Annel und mich alleine. Ich kam mir mittlerweile bescheuert vor, während ich mir immer wieder erhoffte, er würde mir Aufmerksamkeit schenken.
Und als wir nach einer Weile Rast machten, ein Lager aufgeschlagen wurde und man mir ein Zelt für Annel und mich zur Verfügung stellte, indem wir schlafen konnten, legte Annel schluchzend ihren Kopf in meinen Schoß. All dies zerrte sehr an ihren Kräften. Ich streichelte ihr über den Kopf, auch wenn ich selbst am liebsten weinen würde.
„Nicht weinen", flüsterte ich ihr zu, während ich draußen ein paar Stimmen hörte. Unser Zelt wurde von zwei Soldaten bewacht, damit wir nicht fliehen konnten. „Bitte tu mir den Gefallen und weine nicht."
Zwar hatte Annel aufgehört zu schluchzen, doch ihr liefen stumme Tränen über die Wangen. „Er fehlt mir."
Vorsichtig wischte ich ihr eine Träne weg und schürzte die Lippen. Es war klar, von wem sie sprach. „Ich weiß, du mochtest ihn sehr ..."
Schniefend schloss sie die Augen. Ihre Stirn verkrampfte sich, was bedeutete, sie musste sich ein Schluchzen unterdrücken. „Ich will dir ein Geheimnis erzählen."
Ich neigte den Kopf. „Ein Geheimnis? Selbstverständlich." Anne hatte noch nie Geheimnisse vor mir.
Sie brauchte einen Moment, bis sie wieder sprach, stattdessen atmete sie aus. Es verlangte ihr wohl viel ab, das Folgende auszusprechen. „Ich ... Ich glaub, ich habe ... Ich hatte mich in ihn verliebt."
Nun blinzelte ich mit offenem Mund und gleichzeitig brach mein Herz. Ich konnte nicht glauben, was meine kleine Schwester da von sich gab. Erst dachte ich, sie wollte mich reinlegen, aber dieser Gedanke verflog schnell, als ich ihr unglückliches Gesicht sah und wie sie es in den Stoff in meinem Schoß presste. „Oh, Annel", sagte ich daraufhin zutiefst berührt. Ich strich ihr eine blonde Strähne aus der Stirn. „Das war mir nicht bewusst."
Annel schloss tottraurig die Augen. Gerade jetzt erschien sie mir nicht wie ein zwölfjähriges Mädchen, nein. Sie war einfach nur ein Mädchen, das um jemanden trauerte, den sie geliebt hatte. „Ich hatte mich immer so sehr geschämt", sagte sie mit weinerlicher Stimme. „Aber er war so nett und lustig ... Er hat immer auf mich aufgepasst. Und jetzt ... Ist er weg. Ich habe nur noch die zwei weißen Blumen von ihm, die er für mich gepflückt hat, weil ich sie so schön fand."
Meine Lippen presste ich aufeinander, weil nun auch ich mit den Tränen kämpfen musste. Meine kleine Schwester hatte Liebeskummer und ich konnte ihr nicht helfen. Ich empfand so viel Mitleid für sie, wie noch nie zuvor. Sie hatte das hier nicht verdient. Sie hatte es einfach nicht verdient, denjenigen sterben zu sehen, in den sie sich das erste Mal in ihrem Leben verliebte. Es war fürchterlich und beängstigend.
Ich selbst wollte nicht herausfinden wie es war, jemanden zu verlieren, den man liebte.
Eine mir allzu bekannte Stimme, ließ mich den Kopf anheben und zu dem etwas offenen Schlitz des Zelteinganges sehen.
„Nein, es ist abgeklärt", hörte ich Harry gedämpft sprechen. „Ihr könnt gehen."
„Kann mir kaum vorstellen, dass der Sergeant dir erlaubt, hier zu sein", warf eine andere Stimme zurück.
„Ach ja? Ich hole ihn gerne und beweise dir das Gegenteil. Also was ist?"
Kurzes Zögern und dann: „Ist ja gut, du musst nicht immer zu den krassesten Mitteln greifen."
Schritte entfernten sich und Harry schien einen Moment zu warten, erst dann zog er das Tuch zur Seide und blickte hinein.
Mein Herz schlug auf der Stelle schneller. Mit ihm hatte ich niemals gerechnet, egal aus welchen Gründen.
Er sah erst auf Annel, die noch ihren Kopf in meinem Schoß hatte und dann zu mir. „Störe ich?"
Ich schüttelte wortlos den Kopf, worauf Harry das Zelt betrat und sich mir gegenüber setzte.
Da das Zelt nur mit einer Kerze beleuchtet wurde, stachen seine Konturen mehr heraus. Er war solch ein hübscher Mann, wie sollte ich ihm nicht verfallen? Und wie liebevoll er zu Annel sah.
„Wie geht es ihr?", fragte er, doch behielt seine Augen auf ihr. „Es war ein harter Tag."
Ich schaute sie ebenfalls bedrückt an. „Sie ist traurig. Zayn und sie waren gut befreundet."
Harry seufzte leise und hob seine Hand an, um Annel über den Kopf zu streicheln.
Doch ruckartig setzte sie sich auf und schlug seine Hand weg, weswegen wir sie beide perplex anstarrten.
„Nein", zischte sie auf Englisch, damit es auch Harry verstand. Ihre Augen funkelten ihn so böse an, dass man sie kaum wiedererkannte.
„Annel", sagte ich überfordert mit ihrem Stimmungswechsel. „Was hast du?"
Aber sie sagte keinen Ton mehr, stattdessen warf sie Harry einen letzten verachtenden Blick zu, stand auf und verließ das Zelt.
Stille trat ein, in der ich den Mund öffnete, aber nicht wusste, was ich sagen sollte. Was passierte gerade?
Harry positionierte sich von der Hocke ins Sitzende und winkelte ausatmend seine Knie an. Er ließ den Kopf etwas hängen. „Ich wollte nicht, dass sie geht. Aber Liam ist nicht weit, er wird sie abfangen."
Etwas in seiner Stimme brachte mich zum Nachdenken. Er wirkte niedergeschlagen, etwas, dass ich nicht oft bei ihm sah. Deswegen sagte ich: „Sie hat es mit Sicherheit nicht so gemeint. Seitdem Zayn ... Sie ist sehr aufgewühlt."
Harry lacht bitte auf. „Ich weiß genau, wie sie es gemeint hat. Genauso, wie es der ganze Rest meint, seitdem ich mit Sergeant Pattons kooperiere."
Ich verstand sofort, was er meinte. Ich wurde ernst. „Dann kann ich sie verstehen."
Er blickte auf. Anscheinend überraschten ihn meine Worte. „Du verstehst es?"
„Ja. Du hilfst dem Mann, der mir wehtut und mich schikaniert. Ich könnte nichts besser verstehen, als jemanden, der Missgunst für dich entwickelt."
„Wieso tust du es dann nicht?"
Ich konnte seinem durchdringenden Blick nicht standhalten. Ich fühlte mich mehr als ertappt, deswegen fragte ich, um der Frage aus dem Weg zu gehen: „Wieso bist du hier?"
Es herrschte kurze Stille, dann: „Wie fühlst du dich?"
Meine Mundwinkel hoben sich etwas, auch wenn es unpassend war. „Wie sollen wir eine Unterhaltung führen, wenn wir uns ständig Fragen stellen, sie aber nicht beantworten?"
Auch Harry schmunzelte schwach, seine Augen glänzten durch den Schein der Kerze. Seine dunklen, kurzen Haare waren mittlerweile länger, seitdem ich ihn das erste Mal sah. Die Seiten waren noch immer kurz, aber die oberen Haare waren immer durcheinander nach hinten gewischt, auch wenn sie manchmal in seine Stirn fielen.
„Ich wollte nach dir sehen", beantwortete Harry meine erste Frage und sofort machte mein Herz einen Hüpfer. „Pattons schläft, deswegen dachte ich ... Du weißt schon. Ich wollte nach dir sehen."
Seine Antwort stellte mich mehr als zufrieden, aber grinsen konnte ich nicht. Die Situation, in der wir steckten, war zu deprimierend.
„Es geht mir nicht gut", antwortete ich deswegen ehrlich auf seine Frage und strich mir immer wieder durch die blonden Haare, die mir alle über die linke Schulter fielen. Mein rotes Haarband hatte ich um mein Handgelenk gebunden. „Es ist ziemlich schwer für mich, für jemanden da zu sein, dem du nicht helfen kannst."
„Wie meinst du das?"
Ich schaute wieder etwas zu ihm auf. „Annel ... Sie war in Zayn verliebt." Ich fror, obwohl ich es kaum spürte. Nur mein Zittern verriet mir das.
Harry verzog seinen Mund und sein Ausdruck wurde weicher. „Oh ..."
„Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll", redete ich weiter und ließ die Arme fallen. „Ich liebe Annel, ich will ständig für sie da sein, aber ich kann es nicht. Mir wird hier immer wieder die Kontrolle genommen und es passieren Dinge, vor der ich sie nicht beschützen kann." Nun schießen auch mir die Tränen in die Augen, so sehr verzweifle ich. „Ich will doch nur, dass sie jemanden hat, an dem sie sich festhalten kann und ... Ich bin einfach so hilflos. Wie soll ich ihr helfen, wenn ich mir selbst nicht einmal helfen kann?"
Ich schluchze in meine Hand und wünschte, ich würde es nicht tun. Vor Harry zu weinen, ist als würde ich in einen Schwächerausch fallen. Selbst vor Liam wollte ich nie weinen, vor niemanden, auch nicht vor Annel. Es passierte zwar, aber jetzt fühlte es sich so an, als explodierte ich.
Doch ich schreckte auf, als Harry plötzlich nach meiner Hand griff, die ich auf den Boden gepresst hatte.
Wie benebelt ließ ich zu, dass er mich vorsichtig zu sich zog. Er spreizte seine Beine, sodass er mich dazwischen ziehen konnte und meinen Rücken an seine Brust presste.
Mein Puls ging so schnell, während ich kaum realisierte, wie er seine starken Arme um mich schlang und ich seinen Herzschlag spürte. Mein Atem blieb komplett aus.
Er griff nach einer zusammengefalteten Decke, die in der Ecke des Zeltes lag. Mit einer Hand schüttelte er sie auf und legte sie mir auf den Körper.
Ich fühlte mich wohler denn je, als er wieder seine Arme um mich legte und mich höher gegen seinen Oberkörper legte, worauf ich seinen warmen Atem in meinem Nacken spürte.
„Es tut mir leid", meinte er leise. „Ich hätte dich nicht länger frieren sehen können."
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