19.
Annemarie
Ich folgte Harry schwermütig aus dem Zelt und unterdrückte einen tiefen Seufzer. Für mich war es schwer, das was Harry tat und aussprach, zu verstehen. Ich sollte mir nicht die Schuld an dem Tod eines Mannes hier im Fluss geben? Ja, ich konnte ihn wirklich nicht verstehen. Auch wenn er mich mit dieser Aussage aufbauen wollte – tat sie es nicht. Ich wusste, ich war schuldig und das würde auch so bleiben.
Da es bereits nachts war, war das Feuer, das in unserer Nähe aufgebaut worden war, fast unsere Einzige Lichtquelle, abgesehen von dem Feuer, an dem Sergeant Pattons mit ein paar anderen Soldaten saß. Da aber Harry sich zu Liam und Zayn setzte, gesellte ich mich zu ihnen.
Ich spürte Sergeant Pattons strengen Blick auf mir, als ich mich neben Annel setzte, die bei Liam lag und schlief. Ich wusste, Pattons würde mich noch für lange Zeit so ansehen. Er machte mir große Angst, denn ich konnte mir nicht vorstellen, was er mit mir anrichten würde.
„Wieso bist du hier?", fragte Liam Harry, der genau gegenüber von mir am Feuer saß und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, welche Schmerzen er hatte, auch wenn man es sah. „Ich sagte, du sollst die Nacht liegen bleiben."
„Ich werde mit Sicherheit nicht die ganze Nacht schlafen", erwiderte Harry. „Die Schmerzmittel machen es erträglicher."
Liam wollte etwas darauf sagen, doch wurde von einem anderen Soldaten unterbrochen. Walt. „Hey, Annemarie", erweckte dieser meine Aufmerksamkeit und alleine bei seinem schmutzigen Blick und dem Messer, mit dem er den Dreck unter seinen Fingernägeln entfernte, lief mir ein Schauer über den Rücken. „Setz dich zu mir."
Ich blieb wie festgefroren sitzen und starrte nur in seine dunklen Augen, die mich musterten. Ich mochte sein Grinsen nicht. Seine braunen Haare waren durcheinander und seine Kinn war zu ausgeprägt. Alles an ihm wirkte unheimlich auf mich. Unheimlich und einschüchternd wie Pattons. Walt fiel mir schon von Anfang an unangenehm auf.
Als Walt merkte, dass ich nicht reagierte und auch sonst niemand etwas sagte, plötzliche Stille eintritt, richtete er sich auf und sah mich böser an. „Du sitzt noch immer dort. Komm schon her."
Und rein aus Reflex stand ich auf, um langsam zu ihm zu gehen. Ich war froh, dass Annel schlief. Auch war ich froh, dass ich mit Walt nicht alleine war, denn Liam, Zayn und Harry beobachteten die Situation klar und deutlich. Die anderen Soldaten im Kreis grinsten.
Mein Puls ging schneller, als Walt sich auf seinem Hocker gerader hinsetzte und auf sein rechtes Bein klopfte. Das Messer behielt er immer noch in seiner Hand. „Setz dich, Hübsche. Ich beiße nicht."
Ich ballte meine Faust, als ich ihm immer näher kam, meine Schritte immer kleiner wurden, weil mein Körper sich so gegen ihn sträubte. Wie erniedrigend war diese Situation nur? Ich wusste, es würde irgendwann so kommen.
„Nun, los", drängte Walt ein weiteres Mal und schon zog er mich mit einer Hand auf seinen Schoß und ich schnappte erschrocken nach Luft, als ich fast zu Boden flog, er mich jedoch noch auffing und in seinem Arm hielt.
Als er mich aufrichtete und ich sein Gesicht sah, wurde mir klar, dass ich sein Grinsen nicht nur nicht mochte ... Ich hasste es. Es war widerlich.
„Hm", machte er und hob sein Messer zu meinem Gesicht. Er strich mir damit eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich glaube, ich muss mir das mit dem „Finger von der Kleinen lassen" nochmal überlegen. Du bist eine Schönheit."
Mein Herz pochte so schnell vor Angst, dass ich das Gefühl hatte, mir wird jeden Moment schwarz vor den Augen.
Walt roch fürchterlich. Nach Alkohol und Schweiß. In seinen Händen fühlte ich mich schmutziger denn je und alles, was ich wollte, war verschwinden. Annel sollte mich bloß nicht so sehen.
Ich bewegte mich keinen Zentimeter, als plötzlich Walts Hand unter meinem Rock verschwand und sich auf meinen nackten Schenkel legte.
Sofort schob ich sie von mir und wollte aufstehen, mich irgendwie wehren, doch er zog mich ruckartig wieder auf seinen Schoß und lachte.
„Wie sie Angst hat", feixte er und sah in die Runde. Anscheinend wollte er mich komplett bloßstellen. „Seht ihr das? Sie pinkelt sich ja fast ein."
Es wird gelacht und ich wollte mich in Luft auflösen. Beschämt schloss ich die Augen und betete, dass er mich loslassen würde. Es sollte aufhören. Ich wollte nicht in die Augen der Männer gucken, die mich auslachten.
„Dachtest du, du würdest einfach so einen netten Aufenthalt bei uns genießen?", redete Walt weiter auf mich ein und nun lag seine Hand auf meiner Hüfte. „Nein, Kleines, so einfach ist es dann doch nicht."
Ich öffnete die Augen zitternd und versuchte aus dem Augenwinkel Liam aufzufangen. Er sah einfach ins Feuer und schritt nicht ein. Wieso tat er nichts? Sonst sagte er doch auch immer etwas. Wieso nicht jetzt?
„Sieh mich an." Grob drehte Walt meinen Kopf wieder in seine Richtung und sah mich mit zornigen Augen an. „Was ist? Willst du nicht mit mir sprechen?"
„Das Feuer."
Walt entfernte seine Augen von mir und sah zu Harry, der sprach. „Was?"
Unauffällig atmete ich tief ein und aus, weil ich hoffte, Harry redete, weil er mir helfen wollte. Doch trotzdem traute ich mich nicht, ihn anzusehen. Ich vertraute ihm einfach.
„Das Feuer", wiederholte Harry. „Es ist fast aus. Jemand sollte Holz holen."
Wütend drückte Walt seine Hand fester in mein Fleisch an der Hüfte und ich spürte, wie er sich anspannte, was mir gleichzeitig eine riesige Angst einjagte. „Dann hol Holz und stör nicht."
Stille trat ein. Stille, in der ich doch traute zu Harry zu sehen, weil er nichts erwiderte. Würde er weiterhin zulassen, dass Walt mich so anfasste?
Meine Hoffnung wurde größer, als Harry Walt mit dunklen Augen betrachtete. „Annemarie wird mit mir kommen."
Nun lachte Walt bitter auf und griff nach einem Flachmann, der neben ihm lag. „Sprach der Boss oder was? Fick dich, Styles. Sie wird bei uns bleiben, geh alleine."
Ich verfolgte Harrys Bewegungen, als er sich unter Schmerzen aufrappelte und schließlich stand. „Ich diskutiere nicht mit Betrunkenen, also lass sie los. Du kannst sie wann anders haben." Und als wäre die Sache schon geklärt, griff Harry nach einer Pistole, die auf dem Boden lag und steckte sie sich ein. Als ich immer noch nicht reagierte und Walts Griff fester wurde, sagte Harry: „Annemarie. Los."
Schnell nickte ich und zu meiner Erleichterung ließ Walt mich widerwillig los, während ich von seinen Beinen aufstand und zu Harry ging. Ich fühlte mich beschmutzt, doch das war Nebensache. Hauptsache war, dass ich nun mit Harry fort gehen konnte und ich nicht länger in Walts Nähe war.
Szenen wie diese vergaß ich nie wieder.
„Sergeant Pepper mag tot sein", sagt Walt mit tiefer Stimme in unsere Richtung, während ich mich unauffällig hinter Harry versteckte. Er richtete sich nach vorne und sah Harry genau in die Augen. Man sah ihm an, wie krank er bereits war. „Aber du nimmst nicht seine Position ein, verstanden? Du bist Lieutenant, genauso wie ich und jeder andere Bastard hier. Vergiss das besser nicht."
Es dauerte einen Moment, bis Harry etwas sagte und alle anderen nur teilnahmslos ins Feuer sahen.
„Du bist betrunken", war alles, was er schließlich darauf sagte und sich dann zu mir wandte. „Geh schlafen, Walt. Du wirst es brauchen."
Harry ging an mir vorbei und ich wollte ihm so schnell wie möglich folgen, kam jedoch nicht herum, nochmal über meine Schulter zu Walt zu blicken, der uns aggressiv hinterhersah und verachtend auf den Boden rotzte, bevor er nochmal einen tiefen Schluck von seinem Flachmann nahm. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm und ich wollte nicht wissen, was es war. Seine Art, seine Aura, einfach alles erinnerte mich stark an Sergeant Pattons, auch wenn dieser noch eine Menge mehr Furcht in mir auslöste.
Wir sprachen nicht, während wir dem Wald näher kamen, bis Harry irgendwann langsamer und dadurch neben mir lief. Er hielt mir etwas Weißes, Langes entgegen und ich nahm es sofort. Es war eine Kerze. „Lass sie besser nicht fallen", sagte er und kramte noch etwas aus seiner Jacke, was sich als Streichhölzer rausstellte. „Ich habe nur noch ein Streichholz und der Boden ist noch nass."
Ich nickte, obwohl ich mir nicht mal sicher war, er es wirklich durch die Dunkelheit sehen konnte.
Wahrscheinlich würde ich vor Angst sterben, wenn er nicht bei mir wäre. Nachts im Wald war ich noch nie. Mein Vater hätte so etwas niemals geduldet.
Harry zündete das Streichholz an und eine kleine Flamme erhellte sein Gesicht, auch wenn sie nicht sonderlich groß war. Er blieb stehen und hielt seine Hand schützend um das Feuer, dann lachte er etwas, weil ich weiterlaufen wollte. „Du musst schon stehenbleiben, damit ich die Kerze anmachen kann."
Auf Kommando blieb ich stehen und spürte direkt, wie ich rot anlief. Vor ihm war mir vieles unangenehm und ich wusste auch, dass ich bei ihm nicht vor Wut, Angst oder anderem rot anlief. Es war einfach diese Scham, die er in mir verursachte.
Ich hielt ihm stumm die Kerze hin und er kam einen Schritt näher auf mich zu, um mit dem Streichholz vorsichtig den Docht zum Brennen zu bringen.
Ich konnte nicht anders, außer in sein Gesicht zu sehen, während er nicht mal einen halben Meter vor mir stand und das Holzstück an die Kerze hielt, mich aber nicht ansah. Er war so viel größer als ich, das ließ ihn stark wirken. Außerdem wusste ich, dass er stark war, sonst hätte er mich nie aus dem Fluss retten können.
Alleine die Tatsache, dass er mich überhaupt aus dem Wasser rettete, zeugte von seiner Stärke.
Und ich musste auch zugeben, dass ich sein Gesicht mochte. Seine Lippen waren wohlgeformt, hatten ein paar Risse, seine Haut war schmutzig und eine kleine Narbe zierte sein Kinn. Auch fehlte ein Stück in seiner Augenbraue, weil er eine Narbe dort hatte. Im Allgemeinen sah er abgekämpft aus, doch noch lange nicht am Ende. Ansonsten stände er nicht mit einer schweren Verletzung vor mir, nachdem er mich aus Walts dreckigen Fingern gerettet hat.
„Die Luftfeuchtigkeit sollte nicht mehr allzu hoch sein", sagte er, erwiderte immer noch nicht meinen Blick, doch ich konnte meinen nicht von seinem nehmen. „Deswegen hält die Kerze eine Weile. Damit sollten wir auskommen." Und als er schließlich in meine Augen sah, schoben sich seine Brauen etwas zusammen. „Stimmt was nicht?"
Ich sah von seinen grünen Augen zu der kleinen Flamme zwischen uns und schüttelte – erneut beschämt – den Kopf. Mein Kopf konnte kaum röter werden. „Nein, es ... Alles okay."
Für ein paar Augenblicke blieben wir noch zu stehen, er sah mich an, ich ihn jedoch nicht mehr, denn ich hatte Angst, er könnte zu viel aus meinen Augen lesen.
Dann nahm er mir langsam die Kerze aus der Hand, worauf ich ihn wieder ansah. Man merkte ihm an, dass er skeptisch wurde, doch seine Gedanken nicht laut aussprechen wollte. Deswegen ging er zwei Schritte von mir weg, sah sich in der Gegend um, leuchtete mit der Kerze umher.
Ich holte tief Luft, aber so, dass er es nicht mitbekam. Seine Augen waren so schön, so neu für mich. Wie sollte ich es je unterlassen können, nicht hineinsehen zu wollen? Es fiel mir schwer, diesem geborgenen und beschützten Gefühl, das er mir vermittelte, zu widerstehen.
„Das mit Walt", begann Harry ein Gespräch, was mich überraschte, derweil ich ihm folgte und auf den Boden unter uns sah. „Es wird öfter vorkommen."
Meine Laune änderte sich schlagartig und ich ließ die Schulter hängen. „Ja ... Damit hatte ich gerechnet."
„Dagegen kann niemand etwas tun. Frauen ... oder Mädchen waren nie eine sonderlich hoch eingestufte Spezies in unserem Trupp. Und er war nie sonderlich ... nett."
Ich gab darauf nichts zurück. Ich wusste nicht, was ich sagen könnte, ohne direkt tottraurig zu klingen. Trotzdem wollte ich irgendetwas sagen. Ich wollte ein Gespräch mit Harry führen, ein ganz normales. Abgesehen von dem Krieg und abgesehen von dieser ganzen Situation. Ich vermisste es, normal zu denken, ich vermisste es wirklich sehr. Aber dafür fühlte ich mich noch nicht bereit und Harry mit Sicherheit auch nicht. Ob er überhaupt in den letzten Jahren ein normales Gespräch geführt hat? Komplett außerhalb des Krieges?
Harry bückte sich nach ein paar Minuten nach Holz, zischte auf, weil er Schmerzen hatte und ich half ihm selbstverständlich. Gesprochen wurde erneut nicht. Ich war zu unsicher, viel zu unsicher.
Ab und zu trafen sich unsere Blicke, doch sie sagten nichts aus. Es schien immer wieder Zufall gewesen zu sein, deswegen interpretierte ich nichts hinein, wäre auch Schwachsinn gewesen.
„Das sollte reichen", sagte Harry nach einer ganzen Weile durch die Dunkelheit, als er und ich bereits eine Menge Stöcke im Arm hatten. „Wir sind sowieso schon viel zu weit vom Rest entfernt, das kann ziemlich scheiße enden."
Er ging wieder voran, diesmal in die Richtung, aus der wir kamen und ich ließ ihm wiederholt hinterher. „Ich habe das Gefühl, vieles das her gesprochen wird, endet mit dem Verdacht auf den Tod." Diesen Satz hatte ich mir bereits seit zehn Minuten im Kopf zusammengebastelt, weil er mir schon lange auf der Zunge lag.
„Weil es nun mal so ist", sagt Harr darauf. „Es kann ziemlich scheiße enden."
„Aber ... "
Und mit einem Mal bleiben wir stocksteif stehen und mir fallen die Stöcke aus dem Arm.
Zuerst höre ich die Schüsse. Dann das Gebrüll.
Und dann fällt mir erst auf, dass der eigentlich schwarze Himmel tief unten in einem dunklen orange getränkt ist.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro