137.
Übrigens: 1. Danke für den supertollen Livestream mit euch!
2. Endlich wieder ein neues Kapitel (wenn auch ein kurzes), aber danach muss ein Sichtwechsel kommen.
3. Ich liebe euch!
Anne
Harry weckte mich am nächsten Sonntagmorgen nicht auf. Ich öffnete die Augen und schaute durch das Fenster, durch das ich die schöne Morgensonne sehen konnte. Die Vögel zwitscherten, heute hörte ich den Hahn nicht krähen, was mir zeigte, dass es wohl kein früher Morgen mehr war.
Ich legte meine Hand auf das Kissen, auf dem er letzte Nacht schlief. Es roch noch nach ihm. Und es war noch wunderbar warm. Ich hätte mein Gesicht darin vergraben können, so verlockend war es.
Doch stattdessen fiel mir erst jetzt ein kleines Zettelchen auf, das auf dem weißen Stoff lag. Verwundert richtete ich mich auf und entfaltete das Papier.
Guten Morgen, Schönheit
Lisbeth geht es sehr schlecht, ich bringe sie zum Arzt. Werde heute Nachmittag wieder hier sein.
H
Selbstverständlich war es nicht gut, dass Lisbeths Zustand sich wieder verschlechtert hatte, aber mein Herz flatterte trotzdem wegen der Tatsache, dass er mich Schönheit nannte.
Seufzend ließ ich mich zurück in das Kissen fallen und drückte das Papier gegen meine Brust. Noch vor ein paar Wochen kämpfte ich damit, Samuel loszuwerden und meinen Vater davon abzubringen, mich mit ihm zu verkuppeln, weil meine große Liebe tot war. Und heute lag ich hier. Im Haus meiner großen Liebe.
Auch wenn ich liebend gerne den ganzen Tag im Bett verbracht hätte, bis Harry nach Hause kommen würde, überwand ich mich schließlich, mich anzuziehen. Ich hörte Johanna im Flur herumlaufen und wie sie George maßregelte, weil er mit schmutzigen Schuhen das Haus betreten hatte.
Doch auch diese beiden verabschiedeten sich sehr schnell von mir. Johanna sagte mir, sie würde George zu seiner Englischnachhilfe bringen, das würde eine Weile dauern, da sie mehrmals Bus fahren mussten. Leider besaß sie keinen Führerschein.
„Aber mach es dir ruhig im Wohnzimmer gemütlich", sagte sie noch zu mir, als sie schon auf halbem Weg aus der Tür war. „Ich habe jede Menge Bücher, die dir mit Sicherheit gefallen würden!"
So saß ich also alleine auf der Couch und las „Wem die Stunde schlägt" von Ernest Hemingway. Das Werk hatte mich zwar sehr gefesselt, doch trotzdem blickte ich immer wieder ungeduldig auf die große Uhr an der Wand. Sie schlug zu jeder vollen Stunde, aber auch als es halb zwei war, saß ich noch immer ohne Harry hier. Ich war sehr ungeduldig und vermisste ihn sehr.
Umso aufgeregter war ich, als die Haustür sich endlich öffnete und ich glücklich den Blick von den Buchzeilen nahm. Allerdings verflog mein Lächeln genauso schnell wie es kam, als Willis statt Harry durch den Türrahmen trat.
„Oh, Annemarie", sagte er und lächelte freundlich. Er trug schmutzige Arbeitskleidung, sowie einen alten Hut. Seine Hände waren fast schwarz vom Dreck. „Ich hätte mit dir rechnen sollen."
Ich legte das Buch weg und versuchte mir meine Enttäuschung nicht ansehen zu lassen. „Es ist leider niemand zuhause", sagte ich und stand auf. „Johanna begleitet George zu seiner Nachhilfe."
Willis schloss die Tür hinter sich. „Davon wusste ich nichts. Wo ist Harry?"
„Er bringt Lisbeth zum Arzt."
„Verstehe." Nickend hängte er seinen Hut an die Garderobe, dann ging er in die Küche, um den Kühlschrank zu öffnen.
Es verwunderte mich, dass er einfach in dieses Haus spazieren konnte und sich bediente, obwohl niemand hier war. Aber eigentlich sollte mich das nicht wundern, denn immerhin waren Willis und Johanna viele Jahre ein Paar.
Trotzdem betrat ich ebenso die Küche. „Kann ich dir mit irgendetwas helfen? Johanna vielleicht etwas ausrichten?"
Ich sah von hinten, wie er den Kopf schüttelte, der im Kühlschrank steckte. „Nein, das ist nicht nötig." Zunächst richtete er sich auf und hatte ein Stück Käse zwischen den Lippen. „Wie verbringst du deinen Tag?"
„Ich? Ähm." Ich deutete auf das Wohnzimmer, wo noch das Buch lag. „Ich lese und warte, bis der Rest nach Hause kommt, ... denke ich."
Willis Auftreten verunsicherte mich. Mir war bewusst, er hielt nicht viel von mir, umso seltsamer fand ich es, dass er so mit mir sprach.
„Bis der Rest nach Hause kommt", wiederholte er nickend und lehnte sich kauend an das Fensterbrett. Er sah mir genau in die Augen. „Du musst es sehr traurig finden, nicht mehr in deinem Zuhause zu sein."
Ich blinzelte und versuchte mich zu beruhigen. „Wie meinst du das?"
„Nun, du bist tausende Kilometern von deiner Familie entfernt. Johanna erzählte, du hast eine kleine Schwester. Du musst sie wirklich sehr vermissen. Vor allem nachdem, was alles mit ihr passieren kann. Oder schon passiert ist."
„Natürlich vermisse ich meine kleine Schwester."
„Aber ich nehme an, sie wird alleine in Deutschland zurechtkommen, nicht wahr? Ich hoffe, ihr habt sorgsame Eltern, die auf sie Acht geben."
Ich wollte nichts daraufhin sagen. Willis versuchte mir ganz offensichtlich ein schlechtes Gewissen einzureden, weswegen ich mir wünschte, er würde einfach dieses Haus verlassen.
Er schob sich den letzten Käserest in den Mund und wusch sich die Hände. „Dennoch ist es beeindruckend, was für einen riesigen Schritt du eingehst, um für Harry hier zu sein. Die eigene Familie in dem zertrümmerten Deutschland zurückzulassen, ist bewundernswert. Wenn man bedenkt, welche Qualen diese Familie sowieso schon erlitten hat."
Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht sofort übereifrig zu reagieren. Deswegen atmete ich tief durch und fragte: „Also möchtest du, dass ich Johanna nichts ausrichte?"
„Oh, nein", erwiderte er und drehte sich gelassen zu mir um. „Wenn ich ihr etwas sagen möchte, dann tue ich dies persönlich, aber danke dir, Annemarie."
Willis ging an mir vorbei, zur Haustür, was mich aufatmen ließ. Er öffnete die Tür, hob seinen Hut etwas an und nickte. „Ich wünsche dir noch einen angenehmen Aufenthalt in Amerika. Ich bin mir sicher, wir werden uns noch viele weitere Male begegnen."
Und dann war er fort. Im Haus war es still. Ich stand mit schnell pochendem Herzen im Flur und starrte durch das Fenster, durch das ich Willis sehen konnte, wie er in sein Auto stieg und davonfuhr.
Eigentlich wollte ich gerne Hemingways Buch weiterlesen, aber es zog mich viel mehr zu meiner Handtasche, die neben dem Sofa stand. Darin hatte ich ein Bild von Annel, Mama und mir. Vater war einmal ein Teil des Bildes, ihn hatte ich aber schon vor Jahren herausgeschnitten.
Ich strich über die damals noch viel jüngere Annel und fragte mich, was sie wohl gerade tat und wie es ihr ging. Ich fragte mich, wie unser Vater reagierte, als sie und Tante Elisa ihm sagten, dass ich fortgereist war. Hatte er Annel schlimme Dinge angetan? Und wann würde ich sie wiedersehen?
Willis war ein Arschloch, dafür, dass er mir ins Gewissen reden wollte. Aber das Schlimme war, dass es ihm gelang.
Ich vermisste Annel unheimlich.
Am Abend hatte mich Harry wieder zum Essen eingeladen. Wir saßen in einem Italiener, bei dem wir uns, durch die schöne Abendsonne, draußen hingesetzt hatten. Es spielten leise Gitarrenklänge um unsere Ohren und er sah mal wieder toll aus mit seinem weißen Hemd.
Ich spielte gedankenverloren mit den Spaghetti in meinem Teller und stellte mir vor, wie Annel dieses Restaurant lieben würde.
Erst als Harry seine Hand auf meine legte, die die Gabel in der Hand hatte, schreckte ich aus meinen Gedanken auf. Er hatte die Brauen skeptisch zusammengeschoben und den Kopf etwas geneigt. „Was beschäftigt dich?", fragte er mich.
Ich lächelte liebevoll, weil ich es liebte, wie er mit mir sprach. Auch, wenn mein Lächeln wohl sehr gezwungen ausgesehen haben muss. „Mich beschäftigt nichts", sagte ich. „Was hattest du eben gesagt?"
Er nahm kritisch seine Hand zurück und einen Schluck vom Weißwein. „Ich habe dir bereits zum dritten Mal erzählt, dass Lisbeth dich gerne nächste Woche zu ihrer Schulaufführung nehmen würde. Sie benötigt mehr weibliche Unterstützung, wenn sie Wendy spielt."
„Oh", machte ich und legte die Gabel ab. „Nächste Woche ist das."
„Ja." Harry musterte mich weiterhin, als würde er riechen, dass etwas nicht stimmte. „Hast du andere Pläne?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, so ist es nicht. Aber ich ... Wer weiß, was nächste Woche ist."
„Was soll denn nächste Woche sein?"
„Das wissen wir nicht, deswegen sage ich es."
„Hast du eine Vermutung?"
„Nicht unbedingt. Vielleicht."
„Klär mich auf", sagte Harry und lehnte sich argwöhnisch in dem Stuhl zurück. Er sah viel zu gut aus, um solch einen Ausdruck im Gesicht zu tragen.
Verunsichert blickte ich von ihm weg, zu einem alten Pärchen, das sich gemeinsam ein Eis teilte. „Wir wissen doch gar nicht, ob ich nächste Woche lange hier sein werde."
Ich war froh, Harrys Blick nicht sehen zu können, als er fragte: „Was soll das bedeuten?"
Ich musste tief ein und ausatmen. Es schien mir unmöglich, mit Harry über so etwas zu sprechen, denn das wollte ich einfach nicht. Ich hatte ihn jahrelang vermisst, ich war schrecklich glücklich, gerade dort mit ihm sein zu dürfen. Deswegen meinte ich: „Lass uns nicht darüber sprechen. Wie erging es Lisbeth denn beim Arzt?"
Doch Harry dachte gar nicht daran, seinen misstrauischen Ausdruck zu ändern. „Was hast du gemacht, als wir fort waren?"
„Nicht viel. Ich habe gelesen, ein wenig aufgeräumt, Willis war kurz zu Besuch, viel Tee getrunken, dann ..."
„Ich verstehe", unterbrach Harry mich und stützte sich nach vorne auf seine Ellen. „Willis hat mit dir gesprochen."
Ich schürzte die Lippen und schaute auf meinen vollen Teller.
„Er ist sehr gut darin, Frauen zu manipulieren", fügte er hinzu.
„Wieso sagst du das?"
„Sieh dich an. Was hat er zu dir gesagt? Hat er dir gedroht?"
Sofort sagte ich: „Nein, um Himmels Willen. Er war sehr freundlich, wir haben uns gesittet unterhalten."
Harrys Augen wurden enger und er schien mir nicht ganz zu glauben.
Und weil mir seine Skepsis nicht gefiel, stemmte ich mein Kinn lächelnd in meine Hand und legte meine andere auf seine beiden, die vor seinem Mund zusammengefaltet waren. Er ließ zu, dass ich sie auf den Tisch legte und darüberstrich. „Es gibt so viele angenehme Themen, über die wir uns unterhalten können", sagte ich. „Wieso tun wir das nicht?"
Für ein paar Augenblicke verharrte er noch in seiner Anspannung und dachte nach. Dann lockerte er die Schultern und nickte. „Du hast Recht. Erzähl mir noch einmal, wie du dich vor die Füße dieses Idioten übergeben hast."
Entsetzt schlug ich ihn etwas auf die Hand und lachte. „Harry!"
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