12.
Annemarie
Ich wollte mich bei ihm bedanken, doch mein Kreislauf war noch nicht ganz bei der Sache, weswegen ich nach vorne stolperte, jedoch schnell von Harry gehalten wurde, der mich an den Schultern hielt und mich prüfend betrachtete.
„Komm", sagte er, nachdem er sicher ging, dass ich stehen konnte. Er drückte mich zum Ausgang und sah zurück zu Sergeant Pattons, der ihm nur einen vernichtenden Blick zuwarf.
Als ich vor dem Zelt stand und auf meine blutigen Handgelenke sah, dachte ich, ich müsste mich wieder übergeben, doch ich hatte sowieso keinen Mageninhalt mehr.
„Geht ... ", brachte ich leise heraus, als ich ein zweites Mal das Gleichgewicht verlor und Harry, der gerade hinter mir aus dem Zelt kam, am Unterarm hielt. „Es geht schon."
Ohne auf meine Worte zu hören, zog er meine Arme zu sich und sah auf meine Gelenke. Ich beruhigte mich langsam und war froh, endlich von Sergeant Pattons weggeschickt worden zu sein.
„Liam wird sich das ansehen", sprach Harry mit ruhigem Ton und das erste Mal hatte ich das Gefühl, er sprach mit mir wie mit einem normalen Menschen. Er dreht meine Hände, sodass die Innenflächen nach oben zeigten. Dann hob er seinen Kopf und sah mich an. „Du bist Schmerzen anscheinend nicht gewohnt."
Ich sah nach oben in seine Augen und mir fiel auf, dass sie grün waren. Sie hatten ein paar schwarze Akzente darin, doch sie waren hauptsächlich grün. Ich fand nichts, womit ich sie hätte vergleichen können, aber mir gefiel dieses grün. Als Antwort auf seine Aussage schüttelte ich den Kopf, weil ich keinen Ton herausbekam. Die Tatsache, dass er mir half, verschlug mir einfach die Sprache. Ich wusste nicht, mit der Situation umzugehen.
„Kannst du alleine laufen?", holte mich Harry aus einer Starre in der ich nichts anderes tat, außer seine tiefgrünen Augen zu betrachten.
Ich nickte, immer noch sprachloch und dann ließ er mich vorsichtig los, achtete trotzdem noch darauf, dass er mich hätte halten können, wenn ich kippen würde.
Als ich ihm zu Liam folgte, fragte ich mich, ob ich wirklich so überrascht darüber sein sollte, dass er mir half. Er sprang schon gestern Abend für Annel und mich ein, als Sergeant Pattons uns erschießen wollte. Dann hat er mir in der Nacht erlaubt zu flüchten, ohne mich zu verraten und nun gab er Annel und mir sein Brot und half mir erneut. Wieso also war ich so überrascht? War es seine allgemeine Erscheinung? Ich konnte es mir nicht erklären.
„Oh, Gott, was ist passiert?", fragte Liam sofort, als er mich hinter Harry sah, als wir am Feuer ankamen. Er stand auf und nahm sachte meine Unterarme zwischen seine Finger. „Verdammte Scheiße, das ist tief."
„Anne", hauchte meine Schwester leise und sah von unten auf meine blutigen Handgelenke. Sie wirkte wieder traurig und das war genau das, was ich nicht wollte. Ich wünschte, sie müsste das hier nicht sehen.
„Es ist okay", sagte ich und versuchte für sie stark zu klingen. „Wirklich. Es ist okay."
Harry ließ sich auf die Wiese sinken und strich sich mit den Händen durch das Gesicht, als würde ihn etwas frustrieren. „Liam, es wird Zeit zu beten."
Liam zog mich liebevoll auf einen Hocker und kniete mich vor sich, holte einen kleinen Metallkoffer aus seinem Rucksack. „Wieso gerade jetzt?", fragte er Harry, während er ein Tuch in Wasser tunkte.
Ich sah zu Harry, als er sagte: „Weil wir beten sollten, dass Pattons noch einen Tag überlebt."
Niall, der bis eben schlief, richtete sich auf und rieb sich ein Auge. „Was? Dreht Harry wieder durch?"
„Ich drehe nicht durch", erwidert Harry sofort mit tieferer Stimme. „Dieser Mann ist pures Gift für die ganze Truppe. Unser Platoon wäre besser ohne ihn dran."
Seufzend tupfte Liam das Tuch auf meine Wunden, was mich aufzischen ließ. „Du weißt, wie ich darüber denke, Harry", sagt er dabei und mit einem Mal wirkte er erschöpfter. „Außerdem sind wir nicht mehr nur unser Platoon, vergiss das nicht."
Harry schnaubte auf und sah in den Wald, der weiter von uns entfernt war. Leise murmelte er: „Wären wir, wenn Pepper noch hier wäre."
Ruckartig hob Niall den Kopf und auch Liam hielt in seiner Bewegung inne und verkrampfte sich.
„Was hast du gesagt?", fragte Niall ihn und er klang ungewohnt bitter. Sein Ausdruck war alles andere als gelassen.
Harry reagierte nicht darauf, weswegen Liam zu Niall sprach: „Niall. Nicht jetzt."
„Nicht jetzt?", zischte Niall und der Blick, den er Harry zuwarf, konnte einem fast schon Angst einjagen. „Du glaubst, es wäre anders, wenn er noch hier wäre? Du denkst wirklich, du darfst so was aussprechen? Du verdammter –"
„Niall", unterbrach ihn Liam harsch und er drückte meinen Arm unterbewusst fester, doch ich ließ es mir nicht anmerken. „Was soll das werden? Reiß dich zusammen."
Ich war total überfordert mit der Situation, sah von Niall zu Harry, der Nialls Blick aus dem Weg ging, stattdessen angespannt in die Ferne schaute. Irgendetwas schien passiert zu sein, doch ich konnte mir nicht ausmalen, was genau. Es ging mich auch gar nichts an.
„Fickt euch", keifte Niall und stand wutgeladen auf. Er nahm sich seine Handfeuerwaffe und rempelte Harry mit seinem Knie an, als er an ihm vorbeiging. „Ich geb' mir die Scheiße nicht jeden verdammten Tag."
Mein Herz pochte wilder, während ich Niall hinterher sah, der bei einer anderen Gruppe Männer verschwand. Waren solche Situationen Alltag?
Nach einer kurzen Stillepause, in der Liam Verbände um meine Gelenke wickelte, wendete er sich an Harry, der immer noch stumm mit angewinkelten Knien im Gras saß und mit zusammengeschobenen Brauen auf einen Fleck starrte. „Du weißt, dass er noch sehr empfindlich ist", mahnte Liam ihn. „Provozier es nicht ständig."
Erneut reagierte Harry nicht darauf, was mich stutzig werden ließ. Ich konnte seine Person nicht einschätzen. Immer wieder stellten ihn andere als jemanden dar, den man irgendwie kontrollieren musste, weil er es selbst nicht schaffen würde. Dabei kommt er mir gleichzeitig aber auch wie jemand vor, der hilft und das ernsthaft. Er ist kein Mann, der viele Gefühle zeigt, das hatte ich schon letzte Nacht bei unserem kurzen Gespräch gemerkt, deswegen fiel es mir schwer, ihn in meinem Kopf als jemanden einzuordnen, dem ich vertrauen konnte, so wie Liam, oder dem ich lieber aus dem Weg gehen sollte.
Ich bemerkte, dass ich ihn wieder zu lange anstarrte, als Annels Blick auf mir brannte, die unglücklich meine nun verbunden Gelenke betrachtete. Ich seufzte. „Annel, schau nicht so. Es ist alles gut."
Sie jedoch schüttelte den Kopf und nahm widerwillig den Blick von meinen Händen. „Nichts ist gut."
„Doch", versuchte ich es weiter. „Mir geht es gut und das ist das Wichtigste. Du hast da noch Brot liegen. Iss es."
Natürlich verstand Liam nicht, was wir sprachen, denn wenn ich mit ihr sprach, dann auf Deutsch. Deswegen fragte er mich unsicher: „Sie hat um dich Angst, richtig?"
Verzweifelt nickte ich und sah zu Annel, die ihr Brot aß. „Ja ... Sehr. Ich wünschte, ich könnte ihr die Angst abnehmen."
Liam sah zu ihr, rückte ihr näher. „Man will immer jedem Kind die Angst abnehmen."
Sanft lächelte ich, auch wenn es wahrscheinlich das traurigste Lächeln war, das je über meine Lippen gekommen ist. Liam war gut. Er war definitiv einer von den Guten. Das würde ich nie wieder vergessen.
„Ich, ähm", sagte ich trotzdem noch und wurde direkt nervöser. „Aber eine Sache gibt es noch."
Liam sah mich fragend an und ich fühlte mich unwohl.
„Also ich", brachte ich unsicher hervor und schluckte. „Es wäre wirklich nett, wenn ich ... Also mal irgendwo auf die Toilette könnte."
Etwas lachte Liam und sogar Harry hörte ich leise feixen. Liam stand hilfsbereit auf. „Kein Problem, ich denke, im Wald ist genug Platz. Komm mit."
Doch ich sah schnell von Liam zu Harry, dann wieder zu Liam. „Aber, ähm, könnte, also – Könnte Harry mit mir kommen?"
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Harry den Kopf hob und auch Liam wirkte überrascht.
„Harry?", fragte er nach und blinzelte. „Ich meine, ähm, klar. Oder, Harry?"
Ich sah total verunsichert zu Harry, der mich mit gerunzelter Stirn ansah. „Klar ...", lautete jedoch seine Antwort, auch wenn er selbst noch etwas durcheinander schien. „Warum auch immer."
Ich wusste genau, warum auch immer.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro