113.
Ja. Ihr habt mich umsonst gehasst :)
Harry Styles
Es gab drei Gründe, warum ich das Gemälde, das über der Kassentheke hing, hasste.
Erstens, der Künstler musste keine Ahnung gehabt haben, was er dort überhaupt malte. Zweitens, es war zu bunt dafür, dass es ein Paar inmitten von Trümmern und Asche zeigte. Drittens, keine Geliebten hätten die Chance sich derart halten zu können, während um sie herum die Welt untergeht.
Ich betrachtete dieses Bild fast täglich, wenn ich diesem Laden stand und einkaufte. Ich erkannte jede Metapher, jeden Fehler und vor allem die Unsinnigkeit dahinter. Am liebsten würde ich dieses irrsinnige Gemälde von der Wand reißen und verbrennen.
„Sir."
Erst jetzt fiel mir auf, dass mich der Kassierer zum zweiten Mal ansprach und sich bereits eine Schlange an Menschen hinter mir gebildet hatte.
„Ich sagte, das macht 8 Dollar für den Whiskey und zwanzig für die zwei Säcke Erde", schien er sich zu wiederholen und beäugte mich kritisch über den Rand seiner Brille.
Ich überreichte ihm wortlos das Geld und hievte die beiden Säcke auf meine rechte Schulter. Die Flasche nahm ich in die linke Hand.
Als ich den Laden verlassen wollte, hörte ich den Verkäufer „Ihnen auch einen schönen Tag" brummen, doch genauso wenig wie die vielen argwöhnischen Blicke der anderen Kunden, interessierte es mich nicht.
Es dämmerte bereits und ich wollte meine Mutter nicht länger mit dem Abendessen warten lassen. Mittlerweile war es zu oft passiert. Wenigstens heute, an Georges Geburtstag, sollte ich sie in der Küche unterstützen. Eigentlich war Lisbeth dafür zuständig, allerdings war diese schon seit mehreren Tagen krank.
Der Weg nach Hause war nie sonderlich lang, weswegen ich zu Fuß ging. Ich verstand die Menschen nicht, die für einen Kilometer das Auto oder den Bus benutzten. Ich lief immer, überall hin. Vielleicht lag es auch an unserem Auto und der Tatsache, dass es noch immer Geräusche von sich gab, die mir nicht gefielen, auch wenn ich schon seit einem Jahr daran arbeitete.
Als ich gerade den Stadtmarkt verließ und froh war, nicht mehr die vielen Stimmen hören zu müssen, vernahm ich schnelle Schritte hinter mir.
„Hey Harry!", rief jemand, der eindeutig Theodore war. Der zu kurz geratene Jugendliche mit der Baskenmütze lief neben mir her. „Wie geht's dir heute?"
Ohne ihn auch nur ansehen zu müssen, wusste ich, er hatte wieder dieses verdammte Klemmbrett unter seinem Arm. „Wessen Leben willst du diesmal verbessern, Theodore?", fragte ich ihn genervt.
„Erwischt." Er lachte und hielt mir schließlich sein Klemmbrett entgegen. „Ich sammle Unterschriften für eine Petition, die Leuten helfen soll, die unter dem Verlust von Geliebten oder Familienmitgliedern durch des Krieges leiden. Unterschreibst du?"
„Ihnen helfen? Du meinst noch mehr Steuern zahlen, um ihnen das Geld zu bieten, das ihnen sowieso nichts nutzen wird. Jeder muss mit seinem eigenen Leben zurechtkommen."
Theodore ließ stöhnend das Brett sinken. Jede Woche hatte dieser kleine Mann eine neue Organisation gegründet, mit denen er den Hinterlassenen des Kriegs helfen wollte. Vor fünf Jahren hatte er seinen großen Bruder in Frankreich verloren und letztes Jahr, zum 8. Mai, hat er seine erste Petition gestartet. Einmal wollte er den Bürgermeister von einem Zoo überzeugen, der als Therapie für das Volk fungieren sollte. Sein Vorschlag wurde abgelehnt.
„Weißt du, es würde dich kein Bein kosten, wenn du wenigstens einmal unterschreiben würdest", sagte er. „Ich bin mir sicher, du und deine Familie würden davon profitieren."
Mir entwich ein amüsiertes Feixen, wenn es auch verbittert klang. „Ich lasse mir nicht vom Staat irgendeinen Mitleidsdollar zustecken."
Theodore erwiderte nichts darauf. Er war wirklich kein übler Junge, leider viel zu naiv. Doch auch wenn ich bisher noch auf keines seines Klemmbretts eine Unterschrift gesetzt hatte, tauchte er jede Woche wieder neben mir auf.
„Whiskey, hm?", fragte er mich und blickte auf die Flasche, die zwischen uns war. „Mein Vater trinkt den Gleichen."
„Dann muss er einen grauenvollen Geschmack haben."
„Seitdem er ihn jeden Abend trinkt, hat er sich, denke ich, daran gewöhnt." Theodore erspähte ein altes Pärchen, das für ihn neue Beute war. Denn er nahm sich das Klemmbrett vor die Brust, sagte „Ich muss weiter, wir sehen uns nächste Woche" und sprang davon, um die nächsten mit seinen Gutmenschreden vollzusäuseln.
Ich sah ihm hinterher und hatte ihn noch, während ich weiterlief, im Blick, wie er sein freundlichstes Lächeln aufsetzte und versuchte, zwei Menschen davon zu überzeugen, dass denen, die durch den Krieg litten, geholfen werden sollte.
Wie konnte ein Junge, der seinen Bruder im Krieg verlor, denken, dass man tatsächlich jemanden retten konnte, der um einen geliebten Menschen trauerte?
Er hatte ja keine Ahnung.
Mein Kopf war seit Jahren damit beschäftigt, etwas zu verarbeiten, das ich niemals vergessen konnte. Da würde mir auch kein Geld der Welt weiterhelfen. Oder ein Zoo.
Nach drei Kilometer Fußmarsch, betrat ich unser Grundstück. Unsere Nachbarn, Miss Weaver, pflanzte die ersten Rosen in ihren Vorgarten. Jedes Jahr kam eine weitere dazu.
„Guten Abend, Miss Weaver", grüßte ich sie, als ich die zwei Säcke Erde neben unser kleines Haus schmiss.
Sie hob den Kopf und wirkte, wie immer, traurig. Ihr Mann war General eines amerikanischen Platoons. Er ging noch bevor ich mich auf den Weg nach Europa machte. Doch er kam nie wieder zurück. In den letzten vier Jahren sind Miss Weavers Haare komplett ergraut. Sie war nicht älter als fünfzig.
„Guten Abend, Harry", grüßte sie mich zurück.
Sie und ich, wir lächelten uns nie an. Wir beide hatten die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, Verluste zu erleiden. Also taten wir uns gegenüber auch nicht so, als wären wir glücklich.
Ich betrat das Haus und ein Geruch von Kuchen und frisch gebratenem Fleisch kam mir entgegen. Meine Mutter legte sehr viel Wert auf ein gutes Abendessen, vor allem seitdem ich endlich beim Finanzieren des Haushaltes aushelfen konnte.
Als ich in die Küche kam, war sie jedoch leer. Ich sah die geöffneten Medizinpäckchen auf dem Tisch. Sie musste bei Lisbeth oben im Zimmer sein.
Also öffnete ich den Kühlschrank und schob die Whiskeyflasche in das oberste Regal ganz hinten hinter den Käse und den Joghurt. Meine Mutter bestand darauf, dass wenn ich Alkohol trank, es nicht vor Lisbeth und George tat. Somit sollten sie auch nicht die Flaschen zu Gesicht bekommen.
Die Haustür öffnete sich gerade in dem Moment, in dem ich den Kühlschrank schloss. Ich blickte durch den Kücheneingang, der direkt an der Haustür lag und sah George, der sich aggressiv die Schuhe von den Füßen zog und sie unordentlich zu den anderen schmiss.
Ich hob die Brauen, als er sein Schuljaket einfach daneben fallen ließ und sich mit schweren Schritten in Richtung der Treppe machte.
„Du denkst doch nicht etwa, das bleibt nun so liegen, oder?", fragte ich laut und kam aus der Küche.
Er stand bereits auf der ersten Treppenstufe und starrte mich mit einem Zorn in seinen braunen Augen an, den ich nicht oft sah. Sowieso hatte der einst so kleine Junge sich ziemlich entwickelt. Heute war er zwölf und überragte Lisbeth um Weiten.
Anstatt zu antworten, stampfte er auf mich zu, an mir vorbei, hängte seine Jacke auf und stellte seine Schuhe ordentlich zur Seite. Ohne weitere Worte ging er die Treppen nach oben.
„Ich nehme an, du hattest einen schlechten Tag!", rief ich ihm hinterher.
„Ich will nicht darüber sprechen!", rief er zurück und schmiss seine Zimmertür zu, was mich murren ließ. Er wusste genau, er sollte mit den Türen sacht umgehen. Sie waren alt und gingen zu leicht zu Bruch.
Eigentlich hatte ich an diesem 8. Mai keinen Nerv, um ein Gespräch mit einem grummelnden zwölfjährigen zu führen, aber es war noch immer sein Geburtstag. Außerdem sollte er unsere Mutter nicht mit seiner schlechten Laune das Abendessen vermiesen, deswegen zwang ich mich die Treppen nach oben und klopfte an seiner Tür.
Aus dem Nebenzimmer hörte ich meine Mutter und wie sie mit Lisbeth sprach.
„Bist du taub?", schrie George durch die Tür. „Ich sagte, ich möchte nicht darüber sprechen!"
Das war mein Zeichen, die Tür zu öffnen und sein Zimmer zu betreten. Er lag mit dem Kopf im Kissen versunken auf seinem Bett. George war ein sehr unordentlicher Junge. Seine Schulsachen flogen überall herum, man musste stets aufpassen, nicht auf eins seiner Spielzeugautos oder Bausteine zu treten.
Ich war nicht dafür zuständig, ihm zu sagen, dass er sein Zimmer ordentlich halten sollte, wenn dann sollte meine Mutter das tun. Mir war es egal. Früher war Georges Zimmer meins. Ich schlief heute auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Während ich die Tür schloss, sagte ich: „An meinem zwölften Geburtstag war ich froh, dass ich endlich mit meinen Freunden alleine eine Kinoveranstaltung besuchen durfte. Und du liegst in deinem Bett und verhältst dich, als sei die Welt untergegangen."
„Sie ist untergegangen!", ertönte die gedämpfte Stimme meines kleinen Bruders.
Ich setzte mich an das Fußende seines Bettes. „Dann solltest du mir unbedingt sagen, warum."
„Das geht dich nichts an."
„Das Ende der Welt geht jeden etwas an, kleiner Mann."
George erwiderte nichts mehr, sondern blieb einfach regungslos dort liegen. Er trug noch seine Schuluniform – weißes Hemd, kurze braune Hause. Vor vielen Jahren trug ich die Gleiche, heute war ich froh, sie nie wieder anfassen zu müssen. Ich hatte eine grauenvolle Englischlehrerin. Von ihr trug ich noch heute eine Narbe hinter dem linken Ohr.
„Mom braucht noch eine Weile, bis das Essen fertig ist", sagte ich irgendwann. „Also kann ich hier noch mindestens eine Stunde sitzen und warten."
„Och man!" George kniete sich hin und schlug wutentbrannt mit seiner Faust auf das Kissen ein. „Warum müssen Mädchen nur so gottverdammt dumm sein!"
Diese Aussage kam unerwarteter als gedacht, weshalb ich einen Moment brauchte, bis ich realisierte, was George gerade von sich gegeben hat. „Dumm", wiederholte ich überrascht. „Das ist aber eine ziemliche stumpfe Verallgemeinerung, findest du nicht?"
„Nein, wirklich!" Nun beugte er sich nach vorne und steckte sein Gesicht zurück in das Kissen. Laut schrie er: „DUMM WIE SCHIMMLIGES BROT!"
„Wie kommst du zu der Erkenntnis?"
Wieder herrschte für ein paar Sekunden Ruhe, bis George murmelte: „Die dumme Ally hat es mir bewiesen."
Ja, es fiel mir wirklich schwer, ein amüsiertes Grinsen zu verbergen. „Hat sie eine schlechte Klausur geschrieben oder warum hältst du sie für dumm?"
„Natürlich nicht!" Er erhob sich komplett von dem Bett und lief – mit den Händen am Kopf – durch sein Zimmer. „Sie schreibt immer nur As und wenn sie keine As schreibt, dann erklärt sie mir, wie man ein A schreibt und hört auf, wenn ich es gar nicht wissen will!"
„Das klingt, als sei sie gar nicht so dumm."
„Sie ist dumm!"
Meine Augen verfolgten Georges Schritte und mit jedem weiteren wunderte ich mich, wie er es schaffte, auf kein einziges Spielzeug zu treten, ohne auf den Boden zu sehen.
Verzweifelt raufte sich mein Bruder die Haare. „Ich mache ihr jeden Tag Komplimente, trage ihre Tasche, halte ihr einen Platz im Schulbus frei und leihe ihr meinen Bleistift, wenn sie ihren vergessen hat! Trotzdem hat mir Jacky heute erzählt, dass sie in Léon verliebt ist und da denke ich mir: Die ist doch so dumm!"
Schließlich musste ich grinsen. „Sie muss eine ausgesprochen grenzdebile Person sein, wenn sie nicht sieht, wie gut du zu ihr bist."
Als würde sich George endlich verstanden fühlen, ließ er die Arme senken. „Das ist, was ich mir die ganze Zeit denke. Sie ist dumm, einfach nur dumm. Léon kann ja nicht einmal richtig rechnen, geschweige denn seine Haare kämen."
Ich nickte zustimmend, auch wenn ich noch keinen von Georges Schulkameraden getroffen hatte.
„Außerdem ist er viel kleiner als ich", sprach George weiter. „Er geht mir bis zur Schulter und trotzdem tut er immer so, als sei er der Beste und Stärkste."
„Und wir beide wissen, dass du ihn mit nur einem Atemzug wegpusten würdest."
„Trotz alle dem hat Ally meinen Geburtstag vergessen", seufzte George niedergeschlagen und ließ sich erneut in sein Bett fallen. „Sie ist so dumm und kann sich nicht einmal meinen Geburtstag merken, dabei habe ich diesen doch nur einmal im Jahr."
Noch bevor ich antworten konnte, öffnete sich vorsichtig die Tür und das schöne Gesicht meiner Mutter lugte hinein.
„George, geht es dir gut?", fragte sie mit ihrer beruhigenden Stimme. „Ich habe dich laut reden gehört."
„Probleme, die nur Männer verstehen", erklärte ich ihr.
Sie blinzelte und nickte, obwohl ich mir sicher war, sie wusste nicht, wovon ich sprach. „Okay, verstehe. Lisbeth schläft, Harry, hilfst du mir in der Küche?"
Ich erhob mich, worauf das Bett knarzte. „George", sagte ich, als ich die Zimmertür schließen wollte und mein Bruder noch immer wie ein Stück Elend auf dem Bett lag. „Ich möchte, dass du dich für den restlichen Abend wie ein normaler Mensch verhältst. Mom hat sich wirklich Mühe gegeben. Wirst du das tun?"
Nur widerwillig nickte er und stopfte sein Gesicht zurück in das Kissen.
Zurück in der Küche, war das erste, was ich sah, meine Mutter, wie sie mit unglücklichem Ausdruck nach etwas im Kühlschrank suchte. Ich setzte mich an den kleinen Esstisch und wartete, bis sie mir eine Aufgabe erteilen würde.
Normalerweise würde sie mit mir ein Gespräch anfangen, aber mir war bewusst, weshalb sie es nicht tat.
Deswegen sagte ich: „Er war im Angebot. Ich hätte ihn sonst nicht gekauft."
Sie drehte sich um und schürzte die dünnen Lippen. Mit den Jahren hatte auch sie sich verändert. Die Falten um ihren Mund herum waren deutlicher, die Schatten unter ihren Augen dunkler und ihr Haar vom Grau immer heller. „Es geht mich nichts an, was du tust", sagte sie leise und ihre Stimme verriet mir, dass sie enttäuscht war. „Du bist sechsundzwanzig. Was wäre ich für eine Mutter, würde ich dir den Whiskey verbieten?"
„Es ist nicht so, als würde ich regelmäßig mit solchen Flaschen nach Hause kommen."
„Ja, ich weiß."
„Wieso also siehst du mich so an?"
Sie wand sich von mir ab und drehte den Herd auf, dann schaltete sie ein kleines Licht darüber an. „Entschuldige. Ich möchte keine schlechte Stimmung verbreiten."
Ich stand auf und nahm mir den Sack Kartoffeln, der in einem Karton lag und ließ ihn auf dem Tisch fallen. „Wird Wallis heute auch kommen?", fragte ich sie, als ich begann, eine der Kartoffeln zu schälen.
Ihre zögerlich Antwort, war genug für mich, trotzdem meinte sie: „Du weißt, ich hatte ihn schon vor längerem gebeten, an Georges Geburtstag hier zu sein."
Es fiel mir schwer, keine unfreundliche Bemerkung über diesen Mann zu machen. Er war der Freund meiner Mutter. Seit vier Jahren. Und er war Offizier eines Luftkommandos, hatte allerdings nie in Deutschland gekämpft. Ein halbes Jahr war er unterwegs. Und noch heute erzählte und prahlte er mit dieser Erfahrung. Außerdem nahm er sich zu oft das Recht raus, George zu maßregeln. Ich konnte ihn nicht ausstehen, und zwar so wenig, dass auch mal ein Abendessen mit ihm, mit gebrochenen Glasschränken und zweigeteiltem Esstisch endete.
„Ich freue mich auf ihn", bemerkte ich und nahm mir die zweite Kartoffel.
Meine Mutter atmete nur tief aus.
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