110.
Annemarie Dorner
Damit Annel in Ruhe den Tresor knacken konnte, habe ich Tante Elisa zu einem Bummeltrip in die Stadt überreden können. Bis zum Nachmittag sollte ich sie beschäftigen, meinte meine kleine Schwester, aber das war bei Tante Elisa nicht schwer. Ich fragte sie, ob sie mir vielleicht bei der Auswahl eines neuen Kleides helfen wollte und sie war sofort Feuer und Flamme.
Nach zwei Stunden, die wir in beinahe 20 verschiedenen Kleiderläden verbrachten, hatte sich Tante Elisa endlich für eines entscheiden können. Meine Wahl fiel schon lange, aber selten stimmte sie mit Tante Elisas überein, also wurde es schließlich ein grünes Hepburn Kleid, das mein Dekolletee so schön betonte (so Tante Elisas Worte) und kurze Ärmel hatte. Zugegeben, es war ein hübsches Kleid. Viel zu teuer, doch wir konnten es uns leisten.
„Hubert hat mir erzählt, du hättest dich heute Morgen mit Wolfgang gestritten", sagte sie, als wir – ein Eis löffelnd – auf dem Weg in den Park waren. „Scheinbar nahmst du kein Blatt vor den Mund."
Ich stocherte in meinem Vanilleeis. „Oh, wenn ich kein Blatt vor den Mund genommen hätte, lege jetzt wohl ein Kühlbeutel auf meiner Wange."
„Weißt du, ich kann deinen Zorn verstehen. Aber dein Vater will nur das Beste für dich."
„Tante Elisa, dieses Gespräch führen wir seitdem ich laufen kann. Mein Vater wollte immer das Beste für mich, er wusste aber nie, was es wirklich ist."
„Aber ..."
„Außerdem hat er Menschen getötet", sprach ich weiter, worauf Tante Elisa sich sofort schockiert umsah. In der Öffentlichkeit darüber zu sprechen, welch Vergangenheit er hatte, war für uns Tabu. „Er hat uns belogen und uns unsere Mutter genommen. Ich verstehe nicht, wie ich die Einzige sein kann, die ihn hasst."
Schließlich seufzte meine Tante. Wir setzten uns auf eine Parkbank. Unsere Handtaschen stellten wir zwischen uns, wir überschlugen die Beine.
Sie blickte trübselig in ihren Eisbecher. „Bitte denke nicht, ich könnte nicht verstehen, weshalb du ihn hasst. Ich kann auch verstehen, warum du Samuel nicht heiraten möchtest."
Ich zog mir meinen Sonnenhut mehr in das Gesicht, damit die Strahlen mich nicht blendeten. Im Park spielten zwei Kinder miteinander, ich sah gerne dabei zu. „Sag mir, warum fühle ich mich dann noch immer so missverstanden?"
„Wir alle haben geliebte Menschen in diesem Krieg verloren, Schatz", sagte Tante Elisa. „Warum bist du die Einzige, die nach all den Jahren nicht darüber hinwegkommt?"
Daraufhin sah ich sie an. Ihre Augen waren traurig und ich fragte mich, wie sie mir diese Frage überhaupt stellen konnte. „Du bist über den Tod meiner Mutter, deiner geliebten Schwester, hinweggekommen?"
Sie brach direkt den Blickkontakt ab. „Ich habe gelernt damit zu leben. Es ist nicht immer einfach, aber ich mache einfach weiter. Was bringt es mir, jahrelang zu trauern und auf irgendetwas zu warten, das niemals kommen wird? Sie ist tot ... Und sie wird es bleiben."
Trotzdem hörte ich sie manchmal weinen, wenn sie die alten Schallplatten meiner Mutter abspielte.
„Aber sprechen wir nicht von mir", fügte sie schnell hinzu und drehte ihren Kopf von mir weg, tupfte sich heimlich eine Strähne von der geschminkten Wange. „Vielleicht wirst du es nicht bereuen, wenn du Samuel heute Abend noch einmal besuchst. Er ist wirklich kein übler Mann, wenn du ihn nur an dich heranlässt."
„Kein übler Mann", wiederholte ich feixend. „Tante Elisa, du bist doch Hals über Kopf in seine braunen Rehaugen verknallt."
Sie kicherte in ihren Handschuh, wie immer, wenn wir über Samuel sprachen. „Nur ein kleines bisschen. Aber ich sage dir, wäre ich wieder zweiundzwanzig, hätte er keine Nacht mehr alleine in seinem Bett verbracht."
Ich stumbte sie mit meiner Schulter leicht an. „Du bist eine versaute Frau. Wenn das Hubert wüsste."
„Hach, Hubert. Der nimmt doch selbst seine Augen nicht mehr von den Weibern, wenn wir Kleidung kaufen gehen."
Nun musste ich schmunzeln. „Und trotzdem seid ihr noch über all die Jahre glücklich verheiratet."
„Verheiratet ja, glücklich? Hm ..." Doch auch Tante Elisas rote Lippen verzogen sich zu einem liebevollen Lächeln und ihre Augen begannen zu glänzen. „Ich hätte keinen besseren Mann finden können, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Er schläft sehr viel und brummt ständig verwirrende Dinge vor sich hin, aber ich konnte mich bis heute immer auf ihn verlassen. Ich weiß, er würde sein Leben für mich geben, sollte ich am seidenen Faden hängen."
Ihre Worte berührten mich und erwärmten mein Herz. „Es muss schön sein, mit jemandem zusammen sein zu können, den man liebt und von dem man zurückgeliebt wird."
„Ist es, kleine Annemarie", stimmte sie nickend zu.
Dann schwiegen wir ein paar Momente. Zwischenzeitlich warfen wir unsere Pappbecher weg und genießten nur noch die wärmende Sonne. Ich fragte mich, wie Annel sich mit Tante Elisas Tresor anstellte und plötzlich stellte ich mir tausend Dinge vor, die darin versteckt sein könnten. Und sowieso plagte mich ein enorm schlechtes Gewissen. Ich liebte Tante Elisa, wir waren schlechte Nichten dafür, dass wir ihr ihre Geheimnisse stielen.
„Dieser Amerikaner", begann sie irgendwann wieder ein Gespräch. Sie sprach bedacht und als wüsste sie, sie müsste mich nun wie eine Porzellanpuppe behandeln. „Er muss ein toller Mann gewesen sein."
Es war nicht zu beschreiben, wie schnell mein Herz mir bis in die Fußsohlen rutschte. Er war ein heikles Thema, berührte mich von der Sekunde an, wenn man ihn nur andeutete und ließ mich schlagartig in eine Zeit zurück versetzt sein, in der er noch existierte. Die Art, mit der er mich anschaute, wenn es dunkel war – das war, was ich vor meinem geistigen Auge sah, wenn ich an ihn dachte.
Ich faltete meine Hände, die in cremeweiße Handschuhe gepackt waren auf meinem Schoß und versuchte, mir das innere Chaos nicht ansehen zu lassen. „Er war ein großartiger Mann, Tante Elisa."
„Ich wünschte, ich könnte mit ihm sprechen", sagte sie lächelnd. „Dann würde ich ihm am Kragen packen und ihn fragen, was ihm einfällt meine kleine Annemarie so durch den Wind zu bringen."
Meine Mundwinkel hoben sich, egal wie deprimierend all dies war. „Wahrscheinlich hätte es nicht lang gedauert und du wärst ihm noch schneller verfallen als Samuel. Im Gegensatz zu Samuel war Harry jemand, den man wollte, aber unerreichbar war. Das machte ihn umso anziehender."
„Harry", wiederholte meine Tante leise. „Wenn du seinen Namen sagst, ist es, als würde ich ihn selbst kennen."
„Wie schön wäre es, hättest du ihn kennengelernt." Mein Lächeln verschwand, stattdessen presste ich meine Lippen aufeinander, um das Zittern zu verhindern. „Aber ... mein Vater hat ihn mir nun mal genommen."
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, würde Hubert nicht mehr an meiner Seite sein. Manchmal wäre es wirklich praktisch, würde er für wenigstens zwei Stunden mal die Klappe halten, aber ... Der Gedanke tut wirklich weh."
Ich blickte auf meine Hände und dachte nach. „Weißt du, ... Annel hat mal etwas gesagt, als wir damals Gefangene waren. Ein junger Mann, in den sie sich verguckt hatte, war gestorben und ich fragte sie, wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren, den man liebt."
Tante Elisa hob den Kopf.
„Sie meinte, es fühlt sich an wie ein Schlag." Ich erinnerte mich genau, wie sie in meinen Armen lag, als sie es mir sagte. „Aber dieser Schlag trifft einen nie gezielt. Es schmerzt überall, außer da, wo es einen wirklich umbringen könnte. Es ist schwer zu begreifen, dass die Person, die man liebt, tatsächlich fort ist, deswegen schlägt es einen immer wieder."
„Das hört sich schrecklich an", kommentierte meine Tante mitleidig.
„Es tut weh", meinte ich. „Aber ich denke, es wird niemals aufhören, mich zu schlagen."
Sie atmete tief ein und aus, als müsse sie sich beruhigen. „Tu mir einen Gefallen, ja?"
„Natürlich."
„Sprich heute Abend mit Samuel. Selbst wenn du ihn nicht heiraten wirst, sprich offen mit ihm und erkläre ihm deine Situation. Ich möchte, dass du glücklich bist und wenn er nicht derjenige sein soll, der dich glücklich macht, dann sag es ihm wenigstens ins Gesicht. Das hat er verdient."
„Also erlaubst du mir, ihn endlich aus meinem Leben zu streichen?", frage ich erfreut.
Sie verdrehte die Augen, erhob sich und streifte ihren gepunkteten Rock glatt. „Freu dich nicht über solche Dinge, du sadistische Frau. Lass uns endlich nach Hause gehen, ich muss das Abendessen vorbereiten."
Zuhause angekommen, machte ich mich auf die Suche nach meiner kleinen Schwester. Ich rief nach ihr durch das ganze Haus, konnte sie aber nirgends ausfindig machen, weswegen ich Hubert fragte, der – mit einer Zeitung in der Hand – auf der Couch saß.
„Sie meinte, sie würde mir nicht sagen, wo sie hingeht und ich solle sie bloß kein zweites Mal fragen", erklärte er mir teilnahmslos. „Und ich frage nie ein zweites Mal, vor allem nicht das sechzehnjährige Biest."
Also half ich Tante Elisa in der Küche und deckte den Tisch. Mein Vater war noch immer nicht zuhause, selbst als die Uhr sechs Mal schlug. Normalerweise war er nie lange fort, vor allem war er immer pünktlich zum Abendessen.
„Die Kartoffeln brauchen noch eine Weile", sagte Tante Elisa, die, sich die Hände abwischend, aus der Küche kam. „Du hast noch bis sieben Uhr Zeit zu Samuel zu fahren und mit ihm zu sprechen."
„Du möchtest wirklich, dass ich das tue?"
„Selbstverständlich, ich erzähle doch keine Faxen. Los, husch." Sie scheuchte mich in den Flur und warf mir beinahe schon meinen Mantel hinterher. „Sieben Uhr, keine Minute später!"
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