106.
Harry
Ich begriff erst, was passierte, als ich Annes Schreie hörte. Die Wucht des Schusses, der mich in der rechten Bauchregion traf, war so hart, dass ich zwei Schritte nach hinten stolperte und mit dem Rücken gegen einen Baum knallte.
In meinem Kopf dauerte es einen Moment, bis ich realisierte, dass jemand auf mich geschossen hatte. Es war, als würde sich ein enormer Druck auf meine Ohren legen, als ich meinen Blick nach unten richtete und den wachsenden Blutfleck auf meiner Kleidung erblickte. Ich konnte nicht einmal mehr Annes Schrei vernehmen.
Verfickte Scheiße. Das war, was ich dachte.
Annes hektische Berührungen holten mich wieder ins Hier und Jetzt. Ich hob den Kopf und sah direkt in ihre blauen Augen, die rot vom Weinen waren.
„Harry", weinte sie schrecklich leidend und hielt meinen Arm. Sie wollte mich nach hinten ziehen, doch ich bewegte mich nicht. „Harry, wir müssen verschwinden, bitte!"
Allerdings lagen meine Augen schnell wieder auf dem Offensichtlichen. Dorner stand noch immer seelenruhig auf der Terrasse, während ich den Schützen, der auf mich schoss, am oberen Fenster erspähte. Sein Visier war noch immer auf mich gerichtet und er lud konzentriert nach.
Aber zwei Schüsse hatte ich noch in meinem Revolver.
„Bleib hinter dem Baum, Anne", schaffte ich es, deutlich zu sagen und stieß mich von dem Baum ab.
Der Schmerz war erschreckend schrecklich, nicht einmal das Adrenalin in meinem Blut linderte ihn.
„Nein, nicht, bitte!", rief sie und zog an meiner Jacke, doch ich würde nicht zulassen, dass dieser verdammte Nazi dort oben von weitem auf uns schießen konnte.
Deswegen riss ich mich aus ihrem Griff und ging – eher stolperte – in Richtung des Hauses. Meine freie Hand presste ich auf meine blutende Seite. Sie wurde sofort überströmt von Blut. Jeder Schritt fiel mir schwer und auch als ich den Arm hob, um den Schützen anzupeilen, dachte ich, ich hatte keine Kraft mehr.
Meine Sicht war verschwommen, der Schmerz so stark, dass ich den Schützen kaum anvisieren konnte. Aber irgendwie gelang es mir.
Also drückte ich ab. Und es gab einen zweiten Schlag.
Allerdings traf es nicht den Deutschen, sondern mich. Direkt in die linke Schulter, was mich sofort zu Boden zwang.
Ich konnte nicht beschreiben, wie es sich anfühlte, wenn sich eine Kugel durch die eigene Haut bohrte. Es war mir bis zu diesem Zeitpunkt nie passiert. Es glich dem Gefühl, was man bekam, wenn man dachte, man würde jeden Moment sterben. Jede Kugel ließ mich mehr daran denken.
Ich landete unsanft auf dem Rücken. Mein Atem ging so schwer wie noch nie zuvor. Ich konnte sogar spüren, wie ich mit jeder weiteren Sekunde mehr Blut verlor. Mir wurde heiß und kalt, es spielte sich so viel in meinem Kopf ab, trotzdem kämpfte ich dagegen an, hier liegen zu bleiben.
Alles, was ich dachte, war: Du wirst so nicht sterben.
Nur vage nahm ich Annes Schritte und Rufe wahr, die mir immer näher kamen.
Scheiße, ich würde so nicht sterben.
Ich riss mich zusammen. Der Schmerz war niederschmetternd und meine Kräfte beinahe am Ende, aber die Gedanken in meinem Kopf waren klar.
Einen Schuss hatte ich noch. Und ich würde ihn benutzen.
Deswegen biss ich die Zähne zusammen und rollte mich mit einem unterdrückten Schrei auf die Seite, um mehr Kraft zu haben, mich aufzurichten.
Verfickte Scheiße, dachte ich ein zweites Mal, als der stechende Schmerz in meiner Schulter durch meinen ganzen Körper blitzte. Sergeant Pepper hatte Kugelschüsse bereits überlebt. Aber er hatte mir nie gesagt, dass es so verflucht schmerzhaft sein würde.
Es gelang mir, mich auf die Knie und meine Hände zu schleppen, wodurch meine Augen direkt zu Anne schweiften, die auf mich zurannte. Mein Sichtfeld war umrandet von einem tiefen schwarz und ich fühlte mich, als würde mein Gehirn jeden Moment aussetzen. Alles drehte sich.
„Nein, nein, nein", schluchzte sie und kniete sich zu mir. Sie legte mir die Hände auf die Wangen, allerdings spürte ich es nicht. Sie versuchte mich anzusehen und meinen Kopf zu heben. „Harry, wir müssen rennen, steh auf!"
Ihre Worte erschienen mir so leise. Alles um mich herum war so ruhig. Es beängstigte mich.
Ich wollte ihr etwas sagen, ihr sagen, dass sie endlich abhauen und irgendwo auf mich warten sollte, aber ich schaffte es nicht. Es verlangte viel von mir ab, überhaupt auf den Knien zu bleiben.
Doch ich hörte sie noch mehr weinen. „Harry, bitte. Du darfst nicht aufgeben."
Und dann wurde sie auch schon von mir fortgerissen. Zwei Männer griffen nach ihr, sie trat und schlug um sich. Ich war so hilflos, verharrte hier auf diesem deutschen Boden und konnte sie nicht befreien und von hier fortbringen.
Es schien so aussichtslos.
Ihre Schreie wurden immer leiser. Als ich sie das letzte Mal meinen Namen rufen hörte, knickten meine Arme ein und ich fiel mit der Vorderseite zu Boden. Ich starrte auf den Revolver in meiner Hand.
Und dann auf die Beine, die neben mir zum Stehen kamen. Es war Dorner, der auf mich herabblickte.
„Scheinbar hat meine Tochter zu viel von mir geerbt", hörte ich ihn sprechen. „Sich in den Feind verlieben – was eine Tragödie."
Ich war schwach. Ich war so verdammt schwach.
Dorner drehte mich mit seinem Fuß auf den Rücken als sei ich ein Tier und neigte den Kopf. Sein Gesicht drehte sich und ich hatte kaum noch Energie, die Augen offen zu halten. Trotzdem ließ ich meinen Revolver nicht los.
Er holte seine eigene Waffe hervor und zielte auf meinen Kopf. Der Lauf seiner Pistole sah aus wie das schwarze Loch, das mich jeden Moment verschlingen würde.
„Ich habe Gnade mit dir", sagte er. „Mir fallen tausend schreckliche Tode für dich ein, aber sieh, wie gnädig ich bin."
Die Stärke zum Sprechen hatte ich schon längst verloren. Deswegen setzte ich sie in meine beiden Arme und hob damit mit aller Gewalt meine Handfeuerwaffe in Richtung seines Gesichts.
Eine letzte Kugel hatte ich noch.
Dorner lachte nur. „Du bist ein Mann von Ehre, das muss ich dir lassen." Mit einem lockeren Handgriff riss er mir die Waffe aus der Hand und meine Arme fielen direkt zu Boden. Er lud seine Pistole nach. „Aber bestell meinem alten Freund Pattons schöne Grüße, wenn du angekommen bist."
Ich schloss die Augen. Ich hatte getan, was ich konnte. Noch nie hatte ich das Ende so nahe gespürt wie in diesen Sekunden.
„Offizier Dorner!", tauchte plötzlich eine weitere Stimme auf. Sie war so leise, ich konnte sie kaum hören. Jemand sagte etwas zu dem Mann, der über mir stand.
Und das letzte, was ich hörte, war Dorner, wie er sagte: „Aber Gnade ist etwas für Schwächlinge."
Sein Schuss fiel nie. Er ließ mich einfach hier in diesem Garten liegen. Mit dem Gedanken, dass ich sterben würde, Anne niemals wirklich lieben und nie wieder ein Leben außerhalb dieser vier Wände des Krieges genießen durfte.
Es war ein seltsames Gefühl zu sterben.
Es war schrecklich und das auf so viele verschiedene Arten.
Es war alles, aber nicht so wie Liam es beschrieben hatte.
Da war niemand, der dort oben auf mich wartete. Da war kein Gesicht, das ich sah, als ich die Augen öffnete und in die Sterne über mir blickte.
Es war nicht romantisch, nicht wirklich aufregend und vor allem nicht befreiend.
Ich wünschte, ich hätte wenigstens meine Mutter gesehen, als alles in mir immer und immer ruhiger wurde.
Oder Lisbeth, die mir ihre Hand entgegenhielt so wie Grace es bei Liam getan hatte.
Zu sterben war nichts außer schmerzhaft.
Da waren keine Stimmen, die zu mir sprachen, kein Licht, das mich empfing und kein Jenseits, wo ich all die Menschen wiedertreffen würde, die ich in den letzten Jahren verloren hatte.
Ich wusste nun, ich würde nie wieder mit Liam sprechen, nie wieder mit Niall trinken, mit Keith streiten oder meiner Mutter beim Singen zuhören können. Nie wieder das Lachen meiner Geschwister hören oder die Lippen meiner einzigen Liebe auf der Haut spüren und wie sie darauf Gedichte hinterließen, die sich ewig dort einbrannten.
Ich wollte mich bei meiner Mutter entschuldigen, dass ich mein Versprechen, irgendwann vor unserer Haustür zu stehen, nicht halten konnte. Ich wollte mich bei Lisbeth und George entschuldigen, dass sie nicht nur ihren Vater sondern nun auch ihren großen Bruder verlieren mussten.
Ich wollte mich bei Sergeant Pepper entschuldigen, dass ich mein Leben nicht für ihn gab.
Bei Niall, weil ich ihn nie retten und bei Liam, weil ich seinen Brief niemals seiner Familie bringen konnte. Es tat mir leid, dass ich diesen Menschen so viel versprach und all dies brechen musste.
Ich wünschte, ich wäre gestorben noch bevor all dies beginnen konnte. Ich hätte dieses blonde, schöne Mädchen mit den unmenschlich blauen Augen mich niemals lieben lassen dürfen.
Im Endeffekt war Sterben nichts außer schmerzhaft. Und es war einsam.
Es war nichts außer der Tatsache, dass ich nun meine letzten Atemzug machen würde.
Ich spürte nichts, als ich das letzte Mal zu den Sternen hinaufblickte und dann die Augen schloss. Still, und ohne, dass es jemand mitbekam, wurde ich einfach nur einer von ihnen.
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