101.
Omg, haben wir wirklich schon über 100 Kapitel? Und seid ihr genauso wenig bereit für das Final End wie ich?
Annemarie
Es war ein Spiel mit dem Tod, als wir uns durch die Straßen schlichen und dem großen Gebäude, vor dem die unzählbar vielen deutschen Soldaten standen. Als Harry und Joseph die Tür zu einer leeren Wohnung aufbrachen, kamen wir dort zur Ruhe. Zumindest so ruhig, wie man sein konnte, nachdem die kleine Schwester einen erwachsenen Mann mit einem Revolver erschoss und der eigene Peiniger einfach fortgelaufen war.
Joseph war stets an Annels Seite. Harry hatte stets ein Auge auf sie. Jeder hier hatte ein Auge auf sie. Für mich war meine kleine Schwester meine ganz persönliche Heldin. Sie hatte mir das Leben gerettet, indem sie ein anderes nahm. Wie grob es auch klingen mochte. Ich liebte sie dafür noch mehr als ich es ohnehin schon tat.
Sie und Joseph setzten sich auf eine alte zerlederte Couch, die uns direkt in der leeren Wohnung begrüßte und Harry schloss die Tür hinter sich.
Noch bevor irgendjemand etwas sagen konnte, ging ich auf ihn zu, legte meine Arme fest um seinen Hals und küsste ihn. Es war unmöglich die Erleichterung zu beschreiben, als ich sah, dass er und Annel noch lebten. Ich dachte wirklich, beide wären gefallen. Für mich gab es keine andere Möglichkeit.
„Ich dachte, ihr hättet es nicht geschafft", flüsterte ich mit dem Ansatz meiner Tränen gegen seine Lippen, derweil er seine Hand auf meinen Rücken presste. Ich strich mit meinen Händen immer wieder durch sein Haar, über seine verletzten Wangen, seinen Hals, über alles, nur um weiterhin sicher sein zu können, dass er noch lebte. „Ich dachte wirklich, ihr ..."
„Aber wir haben es geschafft", unterbrach er mich mit seiner tiefen Stimme, die ich nie wieder vergaß. Seine grünen Augen brachten mich dazu, mich zu beruhigen. Wenn auch nur für kurze Minuten. „Ich wäre ein Narr, hätte ich dich hier alleine gelassen."
Mir kamen die Tränen, aber ich war stets versucht, sie wegzublinzeln, als ich lächeln musste. „Zum Glück bist du keiner."
Auch Harrys Mundwinkel hoben sich, als er mir mit seinen Lippen wieder näher kam. „Zum Glück bin ich keiner."
Wir küssten uns so lange und so intensiv, bis ein Räuspern unsere Zweisamkeit störte. Es war Joseph, der mit erhobener Braue zu uns sah. Annel grinste in sich hinein. Man merkte ihr nicht an, dass sie gerade jemanden ermordet hatte.
„Denkt ihr wirklich, das ist gerade der richtige Zeitpunkt, um irgendwelche Liebeleien auszutauschen?", fragte der alte Sergeant uns skeptisch.
„Bisher war es noch nie der richtige Zeitpunkt, Joseph", antwortete Harry schmunzelnd und löste sich von mir.
Ich hätte ihn ständig bei mir halten können, aber mir war bewusst, das ging nicht. Ich würde es noch bald tun. Wenn dieser Krieg vorbei sein würde. Wenn er und ich endlich zusammen sein können.
„Wie geht es dir?", fragte Harry Annel, mit einem Unterton, der deutlich machte, dass er genauso verwirrt war, dass sie beinahe schon ausgeglichen schien. „Der erste Mord sollte meist auch der letzte sein."
Meine Schwester zuckte leicht mit den Schultern. „Ich weiß nicht."
„Wie bitte?", fragten Harry und ich nach.
„Ich hatte mir oft vorgestellte es zu tun. Aber Pete war noch Teil der Vorstellung", erklärte sie.
„Um Himmels Willen, sie entwickelt Mordslust", sagte Joseph entsetzt. „Gott sei Dank ist Pete im Kampf gefallen und nicht auch noch durch die Hand einer zwölfjährigen. Sie hätte ihm wahrscheinlich noch viel Schlimmeres angetan."
Daraufhin grinste Annel nur.
Harry schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen großen Sessel. Er stemmte das Gesicht in die Hände. „Nichtsdestotrotz wissen wir nicht, was wir tun sollen. Wir sind dem ganzen Trupp viel zu nahe, um uns dort durchzuschleichen. Und Dorner ..."
„Vergiss Dorner", sagte Joseph zu meinem Glück. „Dorner war Pattons Plan nicht unserer. Dieses Arschloch liegt jetzt aber hoffentlich schon im Sterben."
Ich ließ beruhigt die Schultern hängen. Selbstverständlich wollte ich nie, dass Sergeant Pattons meinem Vater unter die Augen treten würde, denn ich hatte immer die Angst, ihn nie wieder sehen zu können. Allerdings wusste ich nun auch nicht, ob ich ihn je wiedersehen würde.
„Aber welchen Plan gibt es dann?" Harry lehnte sich erschöpft zurück. „Wir haben niemanden, keinen Einzigen. Der Einzige Plan wäre es, abzuhauen."
Daraufhin war es eine halbe Minute still. Joseph saß nur dort und spielte nachdenklich an seinen Fingernägeln herum. Annel starrte zu Boden und ich stand hier und beobachtete die einzigen drei Menschen, die noch von hundertfünzig übrig geblieben waren.
Es war erschreckend, wie schnell Menschen sterben konnten. Und wie schnell man es begriff, weil niemand einen Rat hatte.
„Das klingt nach einem guten Plan."
Wir alle hoben unsere Köpfe und sahen zu Joseph, der sich von dem Sofa erhob.
„Was hält uns noch hier?", fragte er uns. „Es gibt keinen Pattons mehr, keinen Walt, niemanden. Wir müssen uns nicht in diese Schlacht schmeißen, um irgendwem etwas zu beweisen. Also werden wir unsere beschissenen Ärsche retten."
„Das klingt nicht, als würde da Sergeant Joseph sprechen", warf Harry kritisch ein.
„Leutnant, keine Späße, ich bin immer noch dein verdammter Sergeant. Also steh auf, pack dein Mädchen und dann verschwinden wir!"
„Aber wohin?", musste ich fragen. Für mich klang der Plan gut. Bis auf die Tatsache, dass ich meinen Vater zurücklassen musste.
Joseph kramte einen alten Zettel aus seiner Brusttasche und hielt ihn in die Höhe. „Ich kann Karten lesen. Und sollte ich sterben, kann Harry Karten lesen. Unterschätze nicht unseren Überlebensinstinkt, kleine Dorner."
„Ich will nach Amerika", sagte Annel, worauf ich lachen musste.
„Ich auch", stimmte Harry mit ein, er allerdings hatte die Augen geschlossen.
Joseph packte die Karte wieder zurück und runzelte die Stirn. „Was ist los, Leutnant? Hast du lieber Lust zu sterben?"
Harry öffnete die Augen und sah an die Decke. „Ungewohnt, einen eigenen Willen zu haben. Beinahe beängstigend."
„Ich kann dir deinen Willen gerne wieder wegnehmen, wenn du dich so besser fühlst." Joseph schnallte sich die Waffe vor die Brust und richtete den Kragen seines Mantels. „Also los. Ich möchte nicht, dass ..."
Und dann passierte es so plötzlich wie all die anderen Tode um uns herum. Ein Schuss ertönte aus dem Nebenzimmer und traf Joseph direkt in den Hinterkopf. Sein Blut hinterließ viele kleine Spritzer an der Decke und den Wänden.
Harry sprang sofort auf und hatte seine Waffe in der Hand. Annel zog die Knie an und ich blickte zu Joseph, dem mit offenen Augen das Blut aus dem Kopf floss.
„Harry!", ertönte Annels Schrei, als ein Mann in das Zimmer gestürmt kam.
Es war offensichtlich ein Deutscher, der mit lautem Schreien und erhobener Pistole in den Raum gerannt kam. Er schoss auf Harry und packte mich dann so schnell an den kurzen Haaren, sodass ich gezwungen war, auf die Knie zu gehen. Ich machte die Erfahrung, dass mir das Haare ziehen mit kürzeren Haaren noch mehr Schmerzen bereitete.
Harry hatte es scheinbar an der Hüfte gestrichen, weswegen er aufzischte, aber dann direkt wieder seinen Blick auf mir hatte.
Der Deutsche hielt mir die Pistole an die Schläfe. „Die Dornersdöchter", sagte er auf Deutsch. „Euch gibt es also tatsächlich. Sag ihm, dass ich ihn erschieße, wenn er euch nicht mit mir gehen lässt."
Unter Schmerzen krächzte ich zu Harry: „Du sollst uns gehen lassen. Er kennt uns und ..."
Aber Harry hörte gar nicht zu. Er lud seinen Revolver nach und kam schnurstracks auf den Deutschen zu. „Ich spiele keine Spielchen mehr", knurrte er, hob die Waffe an und erschoss den Soldaten ohne Gnade.
Er fiel direkt zu Boden und Harry half mir auf. Annels Blick schwankte zwischen uns und dem toten Sergeant hin und her.
„Also was haltet ihr von dem Plan?", fragte Harry uns, man merkte ihm aber an, dass er in keiner freundlichen Stimmung mehr war. Er sah sich ständig nach mehr Männern um und war schon in Richtung des Ausgangs unterwegs. „Wegrennen, bevor mehr von diesen Wichsern kommen?"
Annel nickte heftig und stand auf. „Wegrennen, bevor mehr von diesen Wichsern kommen."
Als wir die Wohnung verließen, blickte ich ein letztes Mal zu Sergeant Joseph. Ich konnte mir nie eine richtige Meinung über ihn bilden und ich war bestürzt, dass er nicht mehr Teil unseres Plans sein konnte. Aber er wollte unser Leben retten. Und dafür dankte ich ihm, als wir ihn dort liegen lassen mussten.
Ich hielt Annel ständig an meiner Hand, als wir uns hinter die vielen Gebäude schlichen. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie wir aus dieser Stadt flüchten konnten. Zwar müssten wir dem Gebäude meines Vaters näher kommen, aber man würde uns nicht entdecken. Es führten viele versteckte Wege hier raus.
Die Schreie der Deutschen kamen uns immer näher, und umso näher wir kamen, umso unruhiger wurde Harry. Immer wieder sah er hinter sich, um sicher zu gehen, dass Annel und ich noch bei ihm waren.
Bis wir das große Gebäude letzten Endes kreuzten. Wir hatten hinter einer Mauer den perfekten Blick darauf. Die große Steintreppe, die hinein führte, war voller Soldaten. Sie waren überall und sie schienen bester Laune. Wir waren zu weit, deswegen konnte ich nicht verstehen, was sie feierten. Aber ich nahm an, sie feierten ihren Sieg. Sie hatten unser Plattoon endgültig überwunden. Auch wenn jeder bereits damit rechnete.
In diesem Moment trauerte ich um Louis und Keith.
„Wir müssen endlich aus dieser verdammten Stadt raus", flüsterte Harry, der ebenso zu der Masse an Menschen sah. „Wenn der Soldat euch eben schon erkannt hat, dann sollten wir es nicht darauf anlegen, dass euch noch mehr erkennen."
„Werden wir dann nach Amerika gehen?", fragte Annel leise und drehte ihren Kopf zu uns beiden. Sie wirkte traurig. So richtig traurig. Aber das war ich auch. Sie und ich wussten, wir mussten Vater zurücklassen.
„Sobald wir es können", versicherte ich ihr und küsste ihre Stirn. „Bist du bereit dafür?"
Sie holte tief Luft und schloss kurz die Augen. Dann nickte sie.
„Gut. Ich bin es auch."
„Also los", hetzte uns Harry und wir schlichen uns an dem Gebäude vorbei.
Es war schweinegefährlich, egal wie sicher diese Wege schienen. Das Einzige, das uns bedeckte waren Büsche und Bäume. Wüsste jemand, dass wir gerade mal fünzig Meter von den deutschen Soldaten entfernt waren, würde man uns sofort sehen. Aber es wusste keiner und das war unser Glück.
Harry lief vor mir, Annel hinter mir.
Ich konnte schon das Ende der Stadt sehen, womit mein Herz aufging. Noch nie hatte ich mich so frei gefühlt, obwohl ich mein altes Leben hinter mir lassen musste. Ich fühlte mich schon jetzt, als wäre ich fort von diesem Krieg, von all dem Leid, das ich in den letzten Monaten verspürt habe und den vielen Toden, die ich miterlebt habe.
„Annel", sagte ich überglücklich, mit dem Blick geradeaus. „Siehst du den Wald immer näher kommen? Gleich haben wir es geschafft!"
Sie erwiderte nichts.
„Komm schon, ich will mich nicht alleine freuen müssen!"
Wieder keine Antwort.
Schließlich drehte ich mich um. Nur, um niemanden dort zu sehen.
Ich blieb blitzartig stehen. Mein Herz pochte nicht mehr vor Freude sondern vor Angst. Meine Augen suchten alles ab, in mir tobte es. Alles schrie nach Annel, ich wollte laut ihren Namen rufen.
Aber Harry zog mich an der Hand mit sich. „Was ist los? Wir können nicht einfach stehen bleiben!" Ich entzog mich ihm, worauf er sofort wieder meinen Arm zwischen seinen Fingern hatte. „Anne!"
Mit dem Blick noch immer hektisch über die Büsche, die vielen Männer und Häuser hinter uns schweifend, konnte ich meinen Atem nicht kontrollieren. „Annel", hauchte ich und machte die ersten Schritte zurück zu dem großen Gebäude. „Sie ist weg."
„Was?", hörte ich Harry, der mittlerweile weiter weg war. Dann schien er zu begreifen und fluchte „Scheiße!"
Er kam mir hinterher und drückte mich sanft zu Boden, als ich waghalsiger Weise den vielen Männern immer näher kam. Die Büsche bedeckten uns nun wieder.
Gerade als ich kurz davor war in Tränen auszubrechen, sah ich Annel. Sie kämpfte gerade laut weinend mit mehreren Männern, die sie in das Gebäude rissen.
Ich schlug mir die Hände vor den Mund und hatte das Gefühl, ich müsse mich übergeben. „Harry, oh mein ..."
Harry atmete tief ein und aus. Er sah über die Büsche hinweg und beobachtete genauso wie ich das wilde Szenario. „Anne, ich ... Ich weiß nicht, was wir tun können."
Außer mir, schwang ich meinen Kopf zu ihm. Alles in mir schrie. Ich konnte meine kleine Schwester nicht zurücklassen. Ich wollte sie hier bei mir haben. „Wir müssen sie da raus holen!"
Er griff nach meiner Hand und hielt sie fest in seiner. „Ich weiß, du willst sie nicht zurücklassen, aber das wäre lebensmüde."
„Lebensmüde? Sie hier zu lassen, das wäre lebensmüde! Harry, sie ist meine kleine Schwester!"
Und dann sah er angestrengt zu Boden. Die Falte zwischen seinen Brauen wurde immer tiefer und er kämpfte mit sich. Ich wusste, er wollte unser Leben retten, aber ich wollte, nur um unser Leben zu retten, nicht ohne Annel leben. Das konnte ich einfach nicht.
„Nun gut", sagte er schließlich wehmütig. „Holen wir deine kleine Schwester."
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