100.
Harry
Annel und ich schlichen uns durch die Straßen. Ich hatte nicht mehr viel Munition, deswegen war ich gezwungen, nicht auf jeden Soldaten zu schießen, der uns in die Quere kam. Wir mussten einfach unentdeckt bleiben.
Natürlich sagte ich ihr nicht, dass ich nur noch wenig Schuss besaß, denn noch unruhiger als jetzt, sollte sie nicht werden. Trotzdem drückte ich ihr meinen Revolver in die Hand, damit sie sich wenigstens selbst wehren konnte, falls ich abgelenkt war.
Wir versteckten uns hinter einer zersprungenen Mauer, als gerade ein Deutscher Marsch an uns vorbeilief. Es waren ungefähr fünfzig und dennoch war ich mir sicher, sie würden innerhalb von zehn Minuten den Rest unserer Truppe erschießen.
Sowieso war mein Kopf vollgepumpt mit der Vorstellung, wie es meinen Männern ein paar Straßen weiter erging. Vielleicht waren mittlerweile alle tot und die Nazis machten sich bereits zurück zu ihrem Stützpunkt, dem wir immer näher kamen. Ja, ich mochte ein enormer Feigling in dieser Situation gewesen sein, aber ich wollte leben.
„Harry", flüsterte Annel leise, als der Deutsche Marsch vorbeizog. Sie zeigte in eine kleine Gasse, ungefähr zweihundert Meter von uns entfernt. „Anne."
Tatsächlich. Ich erkannte Pattons und Anne. Mein Herz schlug bis in die Unendlichkeit, so erleichtert war ich, dass sie noch lebte.
Wir warteten noch eine Minute, dann schlichen wir zu ihnen. Und bereits nach kurzer Zeit hörte ich Pattons und Joseph laut diskutieren.
„Ich schwöre Ihnen, Pattons", murrte Joseph und hielt sich den Nasenrücken. „Sie haben unsere ganze Truppe für diesen Mann geopfert, lassen Sie uns wenigstens jetzt einen halbwegs intelligenten Plan ausdenken."
„Einen halbwegs intelligenten Plan?", fauchte Pattons zurück. Er hatte eine Pistole in der Hand. „Denken Sie wirklich, es ist einfach mit einem Mädchen umherzuschleichen, ohne dass sie uns ihretwegen entdecken? Das nennen Sie intelligent, Sergeant Joseph?"
Als wir uns vorsichtig näherten, erblickte Anne uns als erstes, die nur starr an der Wand stand. Ihre Miene wechselte von totunglücklich zu hoffnungsvoll. Durch die Bewegung ihres Mundes erkannte ich ein leises "Harry".
Woraufhin auch Walt zu uns blickte, der allerdings nicht ansatzweise so erleichtert aussah wie sie. „Und meine Hoffnung, dieses Arschloch könnte endlich erschossen worden sein, ist gestorben", murrte er.
Josephs Gesicht spiegelte ebenfalls eine gewissen Erheiterung, doch auch Pattons war zornig. Weswegen er keifte: „Was willst du hier? Hast du etwa vergessen, wo dein Posten ist?"
Ich schulterte meine Thompson. „Mein Posten ist ein reinster Friedhof, also ist er ab sofort hier."
Natürlich verstand jeder sofort, was ich damit meinte. Zwar hätte Pattons damit rechnen müssen, dass unsere Männer keine zwei Stunden in diesem Gefecht überleben konnten, trotz alledem wirkte er sprachlos.
„Wenigstens lebt die Kleine noch", sagte Joseph und strich Annel kurz über den Kopf, woraufhin sie aber einen Schritt zurückging. „Das nächste Ziel wird das innere des Nazi-Gebäudes sein. Es ist gut, dass wir nicht mehr so viele sind, so sind wir beinahe unsichtbar zwischen den vielen Deutschen."
„Aber nicht mit einem gottverdammten Mädchen!", knurrte Pattons. Seine Nasenflügel bebten.
Ich schob die Brauen skeptisch zusammen. „Was soll das bedeuten?"
„Das soll bedeuten", übernahm Walt herrisch das Wort, "dass das kleine Miststück endlich erschossen werden kann."
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie Annel sich enger zu Anne stellte und ich wurde automatisch wütend. „Was?", zischte ich, sah dabei nur Pattons an. „Haben Sie den Verstand verloren?"
„Ich verliere meinen Verstand nicht." Pattons Gesicht wurde rot vor Wut. Er würde gerne schreien, aber kann es nicht, denn wir mussten uns leise verhalten. „Wir brauchten sie, um uns hierherzuleiten und nun brauchen wir sie nicht mehr. Und ich lasse nicht zu, dass sie uns verrät, nur weil wir sie laufen lassen. Verstanden?"
Es ging nicht anders, ich musste lachen. Wenn auch nur aus reinem Unglaube. „Nein, nicht verstanden." Ich stellte mich vor Anne. „Sie können tun, was auch immer Sie tun wollen, aber Sie werden ihr nicht schaden, solange ich hier bin."
Ich spürte, wie Anne ihre Hand in meiner Jacke vergriff.
Joseph holte seinen Revolver aus seiner Jacke. „Sergeant, Sie sollten Kompromisse eingehen. Ansonsten endet das für niemanden hier gut. Und wie sagten Sie gestern? Manche vergessen, wer der wahre Feind ist. Ich kann das auch ganz gut."
Pattons presste die Lippen zornig aufeinander, bevor er sagte: „Sergeant Joseph, kommen Sie zur Besinnung. Wir sind nicht hier, um irgendwelche dummen Weiber zu beschützen, sondern ihren Vater zu erschießen."
„Fragt sich nur, wer von uns als erster schießt, wenn es darauf ankommt", sagte ich und meinte es ernst. Nichts hielt mich noch davon ab, nicht auf Pattons zu schießen. Ich hatte bereits Niall und Liam verloren. Anne konnte er mir nicht nehmen.
Walt ballte vollkommen geladen seine Fäuste und starrte mich wutentbrannt an, als Pattons meinte: „Du wirst hier auf niemanden schießen, du gottverdammter ..."
„Genau deswegen solltest du sterben!", unterbrach Walt den Sergeant und kam mir einen Schritt näher. „Wärst du an dem Posten geblieben, der dir aufgetragen wurde, wärst du nicht hier und wir hätten das Weib erschießen können!"
Pattons hatte mich also an die Front geschickt, um mich sterben zu lassen. „Scheiße gelaufen, denn ich bin noch immer hier!", wütete ich Walt entgegen.
„Ganz recht!" Walt zog seine Pistole aus seinem Gürtel. „Und das geht mir auf den Sack! Schon von Anfang an gehst du mir auf den Sack!"
„Pack die Pistole weg, du Nichtsnutz", warnte Joseph ihn vorsichtig, doch Walt hörte nicht auf ihn.
Ich kniff die Augen zusammen. „Du kannst mich nicht erschießen. Du lebst für alles, was Pattons sagt und sein Plan ist nichts, wenn ich nicht hier bin. Warum glaubst du, hat er mich zur rechten Hand gemacht und nicht dich?"
„Warum glaubst du, wollte er dich sterben lassen?", konterte Walt.
„Weil er wusste, mir gelingt es, etwas zu beschützen, im Gegensatz zu dir. Du bist nur hier, um zu schießen und dann zu sterben, wenn er dich nicht mehr braucht."
Walts Adern am Hals stachen heraus und in seinen Augen spiegelte sich der blanke Hass. Tatsächlich hatte ich Angst, er würde auf mich schießen. Aber ich würde rechtzeitig nach meiner Waffe greifen, wenn er es tun sollte.
„Ich erschieße euch beide", presste er zwischen seinen Zähnen hervor. „Dich und die Schlampe. Das kleine Kind darf zugucken."
Meine Hand glitt schon unauffällig zu meiner Revolvertasche. „Vielleicht ist dein Herr und Meister dann endlich stolz auf dich."
Joseph lud seine Waffe nach, während Pattons nur rumstand und uns zuschaute. Doch auch er hatte seine Pistole in der Hand.
Aber dann passierte es zu plötzlich. Walt hob seinen Revolver an, Pattons riss Anne hinter mir hervor und schubste sie genau vor Walts Füße.
Ich wollte instinktiv nach meinem Revolver greifen, konnte ihn aber nicht finden. Mein Puls war heftig, als ich auf Walt zurennen wollte, um ihm die Pistole aus der Hand zu schlagen, als er auf Anne zielte. Sie hielt sich die Hände über den Kopf und schrie.
Und dann ertönte der Schuss.
Mein Herz blieb stehen.
In mir tobte die reinste Hektik. Ich blickte auf Walts Waffe, dann auf ihn, dann auf Anne. Und als Walt die Waffe langsam aus der Hand fiel, fiel auch der Groschen.
Joseph und ich blickten hinter uns, zu Annel, die dort mit erhobenem Revolver und schwerem Atem stand. Ihre Hände zitterten. Es war blitzartig totenstill geworden.
„Annel", hauchte Anne, die sich erhob.
Ich konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Annel hatte auf Walt geschossen.
Dennoch musste ich wieder einigermaßen zur Besinnung kommen und ihr den Revolver aus der Hand nehmen. Ich blickte zu Walt, der sich die Hand über die Brust hielt. Sie hatte genau sein Herz getroffen.
„Scheiße", brachte er hervor und schaute auf das viele Blut an seiner Hand. „Dieses kleine Miststück hat ... mich gekillt."
Pattons starrte Walt nur mit großen Augen an. Er bewegte sich keine Sekunde vom Fleck. Sah einfach zu, wie Walt sich die Steinwand hinabgleiten ließ.
Joseph hielt sein Blick stetig auf Pattons und schien seine Reaktion abzuwarten. Allerdings passierte nichts.
Walts Kopf schwankte schwach hin und her, es fiel ihm schwer, ihn gerade zu halten. Er blickte zu Pattons. „Es tut ... mir leid."
Für einige Sekunden war Pattons noch wie eingefroren. Nichtsdestotrotz erwachte er irgendwann. Dennoch nicht auf eine normale Art und Weise. Denn er erwachte undsetzte sich in Bewegung. Ich dachte, er würde Walt den Gnadenschuss geben, stattdessen lies er beide seiner Waffen zu Boden fallen, dazu noch seinen Munitionsfürtel mit den Handgranaten.
Und lief schließlich an jedem von uns vorbei, hinaus aus der kleinen Gasse.
Wir alle sahen ihm perplex hinterher.
„Wo wollen Sie hin?", rief ihm Joseph hinterher. „Das ist Selbstmord!"
Pattons beachtete ihn nicht. Er verließ ohne weitere Worte die Gasse. Einfach so. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ohne eine Beleidung, ohne einen letzten Schuss oder Sonstiges. Er ging einfach.
Als er komplett aus meinem Blick verschwand, musste ich mich schütteln, um mich zu sammeln.
Ich drehte mich zu Annel, die noch immer stocksteif auf der Stellte stand und von Anne gehalten wurde.
„Ich glaube, ich verspüre Stolz", war Joseph der erste, der etwas sagte. „Obwohl es sich falsch anfühlt."
Dann ertönte ein schleifendes Geräusch und mein Kopf schwenkte sofort zu Walt, der seine Pistole zu sich heranzog. Ich reagierte und schoss ihm in die Hand.
Er hatte nicht einmal die Kraft zu schreien, sondern stöhnte wie jemand, der gerade starb. Ich war froh, dass er es tat.
„Wir müssen hier weg", sagte ich, behielt meine aber auf Walt. „Irgendjemand könnte uns gehört haben."
„Werden wir tun", stimmte Joseph zu. „Regelst du den Rest und ich nehme die beiden Mädchen mit mir?"
Ich nickte, worauf ich ihre Schritte hinter mir hörte und wie sie sich entfernten.
Walt schaute mir immer noch in die Augen und ich überlegte, ob ich ihm lieber sofort in den Kopf schießen oder ihm vorher nochmal in die Eier treten sollte.
„Was ist?", fragte er mich mit schwacher Stimme. „Tu ... es endlich. Oder hast du endlich verstanden, ... wer dein wahrer Feind ist?"
Jedes seiner Worte kotzte mich an. Deswegen verzog sich mein Gesicht, als ich ihn so auf dem Boden sah und ihm Blut aus dem Mund tropfte. „Ich bin froh, dass sie es getan hat und niemand anders."
Walt hustete.
„Und wir beide wissen genau, dass du es verdient hast."
„Du ... hast wohl recht", keuchte er und stöhnte wieder vor Schmerz. „Aber jetzt tu ... es endlich."
Ich hob meine Waffe an und zielte auf seinen Kopf. Schon oft hatte ich mir vorgestellte, diesen Mann zu töten. Damals, als er mir mit Anne drohte, damals, als er Anne vor all den anderen Männern anpackte, als wäre sie Vieh und damals, als er mir sagte, er hätte dieses kleine zwölfjährige Mädchen vergewaltigt. Er hatte es so sehr verdient zu sterben.
Aber anstatt zu schießen, ließ ich die Waffe sinken. „Nein. Ich tue dir den Gefallen nicht."
Er blinzelte verwirrt. „Was?"
Ich packte meinen Revolver weg und machte einen Schritt zurück. „Du wirst hier alleine sterben. Und genauso wie viele andere Männer, die deinetwegen an der Front kämpfen mussten."
Ein letztes Mal musterte ich diese erbärmliche Figur von mir und drehte ihm den Rücken zu, um die Gasse zu verlassen.
Ganz leise hörte ich ihn noch „Komm sofort zurück und erschieß mich" flüstern, aber es interessierte mich nicht.
Walt war jedermanns Feind. Und genauso sollte er sterben. Durch die Hand eines seiner Opfer und nicht durch mich.
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