Weg mit der weißen Flagge
Direkt nach dem Frühstück versuchte Jungkook mich wegzuschicken, als wäre ich ein kleines Kind. „Magst du nicht ein bisschen im Park spazieren, Yn?", säuselte er, während er mit dem Kopf aus dem Fenster deutete und mir aufmunternd über den Rücken strich. Wenigstens hatte er spazieren und nicht spielen gesagt.
Oh nein, nicht mit mir Herr Mafiaboss. Ich würde wirklich gern mal ne Runde in dem toll angelegten Park drehen, aber bestimmt nicht jetzt, während hier drinnen der mutmaßliche Mord an meinen Eltern zum Leitthema wurde.
Auch wenn die Herren Mafiosi sich betont lässig gaben, war die Spannung, die in dem offenen Speiseraum in der Luft hing deutlich spürbar. Es war wie kurz vor dem Anpfiff eines Fußballendspiels, bei dem es um alles oder nichts geht. Unter ihrer zur Schau gestellten, relaxten Fassade, lauerte eine fast schon fiebrige Anspannung und ich würde meine Hand ins Feuer legen, dass sie bereits über mehr Informationen verfügten, als Hoseok während seiner Zeit bei Hongjoong mühsam zusammengeglaubt hatte. Sicher hatten sie schon eine Strategie für ein mögliches Vorgehen im Ärmel.
„Ich dachte, dass es Wichtiges zu Besprechen gibt", entgegnete ich, wobei ich ein Zähneknirschen unterdrückte und stattdessen betont unschuldig blinzelte.
Oje. Mit wachsendem Unwohlsein verfolgte ich, wie Jungkooks rechte Augenbraue nach oben wanderte. Niemand regte sich und mich beschlich das ungute Gefühl, dass alle am Tisch die Luft anhielten.
„Immerhin geht es um meinen Vater", fügte ich schnell an und fühlte, wie meine Wangen und Stirn brannten. Plötzlich war ich es, die sich fiebrig fühlte und ein Spaziergang im Park, um mich abzukühlen, wäre jetzt genau richtig.
Dennoch schlug ich die Hacken zusammen und drückte meinen Rücken kerzengerade durch. „Ich bleibe hier." Ich schaffte es sogar, Jungkooks Blick noch einen Moment standzuhalten. Doch als dieser nun seine Brauen immer enger zusammenzog, rutschte mir der Magen samt Inhalt in die Kniekehlen. Schnell senkte ich meinen Blick auf die Tischplatte, um ausgiebig deren Muster zu studieren. Mein Innerstes zückte bereits die weiße Fahne, schwenkte sie heftig und war kurz davor aufzuspringen, um in eiligem Sprint in den Park zu flüchten.
Doch es gab noch einen anderen Teil. Einen neuen; geboren im Verließ. Er war noch jung und unerfahren aber er rebellierte gegen jede Form der Unterdrückung. Er witterte überall den Wolf und war mit allen Mitteln bereit, sich gegen dieses Scheusal zur Wehr zu setzen.
Dieser Teil würde sich nicht unterbuttern oder bevormunden lassen. Auch nicht von einem Mafiaboss Namens Jeon Jungkook. Dieser Teil war bereit, für das einzustehen, was mein Herz mir riet.
Meine Kopfhaut prickelte, während ich das Starren der Mafiosi auf mir spürte und ich kam mir vor wie ein besonders kurioses Exponat im Museum. Ich hob vorsichtig den Kopf. Zum Glück saßen nur der Typ mit der Lederjacke und dem dunkelroten Hemd und mein Bruder in meinem direkten Blickfeld. Namjoon musterte mich aufmerksam. Seine Grübchen waren verschwunden und ich konnte nur erahnen, wo sie sonst seine glatte Haut zierten, seine Lippen waren zusammengepresst, doch seine braunen Augen hatten nichts von ihrer Wärme verloren.
Hoseok war in seiner Mimik deutlicher: Er zeigte mir einen Vogel und deutete mit Nachdruck in Richtung Park.
Und das war der Moment, in dem der rebellische Teil dem friedfertigen endgültig die weiße Fahne entriss und sie aus dem Fenster schmiss. Ruhig schüttelte ich den Kopf und erwiderte Hoseoks Blick mit gehobenem Kinn. Wir hatten vereinbart, die Sache gemeinsam anzugehen. Ich würde von dieser Vereinbarung nicht abweichen und mein Bruder sollte dies auch nicht tun. Ich würde an seiner Seite bleiben und ihn unterstützen und im Gegenzug sollte er mich als gleichwertig akzeptieren und nicht wegschicken. Ich verschränkte die Arme fest vor der Brust.
Doch mein Bruder war im Moment das kleinere Problem. Jungkooks Blick schoss mir in die Seite wie ein brennendes Gewehrfeuer. Ich wagte nicht, ihn anzusehen und wappnete mich innerlich für einen harten Kampf.
Doch seine Reaktion auf meinen Widerstand traf mich noch heftiger, als erwartet:
„Gut. Du kannst bleiben." Ich riss meinen Kopf zu ihm rum und starrte ihn mit offenem Mund an. Hatte er das wirklich gesagt? Oder war Jins Kaffee zu stark gewesen? Mein Puls schlug schneller. Angestrengt versuchte ich, in seinem Gesicht zu lesen. Doch er trug die Maske des Mafiabosses. Er zeigte mir eine eiserne, starre Fassade. Und ich fragte mich augenblicklich, woher ich den Mut genommen hatte, ihm zu widersprechen. Ich sah in seine eiskalten Augen und bezweifelte, dass ich mir das jemals wieder wagen würde.
Wie als hätte er meine Gedanken gelesen nickte er mir zu. Seine Kiefer immer noch fest zusammengepresst.
Er war starr, unnachgiebig und gleichzeitig zum Dahinschmelzen attraktiv. Wie er so mit seiner ernsten Miene in seinem weißen T-Shirt, dass die dunklen Tattoos auf seinen Armen entblößte, neben mir saß.
Zum Dank schenkte ich ihm ein zartes Lächeln, bei dem meine Mundwinkel nur ganz leicht zitterten. Dann senkte ich meinen Blick schnell wieder, da ich fürchtete, er könne es sich anders überlegen.
Mein Bruder atmete als Erster hörbar aus: „Also, wie stellen wir es an?" Er sah in die Runde - sah alle an; bis auf mich.
Namjoon schnaubte: „Wenn es so einfach wäre, den Typ zur Strecke zur bringen, warum denkst du, ist er dann noch am Leben?"
Sämtliches Blut schoss mir in die Füße und verkroch sich bei seinen Worten unter dem Tisch. Mir wurde schwindelig und ich hielt mich verkrampft an der Tischplatte fest. Sie wollen jemanden umbringen?
„Ist denn schon sicher, wer dahintersteckt?", fragte ich mit kratziger Stimme.
Der Mafiaboss neben mir seufzte. „Deswegen solltest du raus gehen." Seine Stimme klang so hart und schneidend wie ein Peitschenhieb und ich zuckte leicht zusammen. Als ich seinen Blick suchte, war dieser jedoch mehr besorgt als verärgert.
Doch als er mir verriet, wen sie verdächtigten, verdunkelte sich sein Blick; wurde so schwarz wie der Tod selbst. „Der Mörder deiner Eltern ist Kim Jong-Hyuk - Hongjoongs Vater."
„Ist das ganz sicher?" Ich schnappte nach Luft und rückte näher an Jungkook, denn ich sah ihn sofort wieder vor mir: den Wolf. Und er war nicht allein. Ein weiterer Wolf war bei ihm. Noch größer, noch kräftiger und gemeinsam stürzten sie sich auf meine Eltern und rissen ihnen die Kehlen raus, zerfetzten ihre Leiber, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb. Ich zitterte und hielt mich mit einer Hand an Jungkooks Unterarm fest, mit der anderen an der Tischplatte.
„Y/N, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche." Die Formulierung des Blonden, der neben Hoseok saß, Jimin, war flapsig aber sein Ton überraschend sanft. Hoseok nickte bestätigend. „Deswegen hatte ich mich ja bei Hongjoong eingeschleust, um Beweise gegen seinen Dad zu sammeln."
„Ja, Glanzleistung. Bruderherz." Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Was Taehyung mit einem leisen Beifall quittierte.
„Alle Indizien führen zu ihm, alles trägt seine Handschrift." Jin tippte mit dem Finger gegen seine Kaffeetasse.
„Für Kim Jong-Hyuk ist das eine Kleinigkeit, Y/n", erklärte mir nun auch Suga, während er seinen Laptop aufklappte. „Und er hatte das passende Motiv."
„Und genauso wie er deinen Vater aus dem Weg geschafft hat, hat er dessen Nachfolger aus dem Weg geräumt." Namjoon strich sich in einer eindeutigen Geste mit dem Zeigefinger über den Kehlkopf, dann nahm er seelenruhig einen Schluck Kaffee.
Ich sah sie der Reihe nach an und verstand eines: Sie waren sich sicher. Jeder von ihnen würde in dieser Sache wetten und gewinnen.
Obwohl ich diesem Kim Jong-Hyuk noch nie begegnet war, so war ich doch von seiner Schuld überzeugt.
Ich nickte zaghaft und erntete sechs Lächeln. Nur Jungkook zeigte keine Reaktion.
„Also, wie fangen wir es an?" Taehyung nahm den Faden wieder auf, lehnte sich nach vorn und sah erwartungsvoll in die Runde. Schweigen.
Jungkooks Miene war finster wie der Himmel vor einem Gewitter. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und mit jedem Mal, dass seine Finger das Holz berührten, zuckte ich leicht zusammen und fürchtete, dass der Donner sich direkt neben mir entlädt.
„Und ... wenn wir es anders angehen?" Meine Frage war nur ein Hauch, wie ein unsicheres Tasten nach vorn.
Am Tischende schnaubte Tae verächtlich. Jimin boxte meinen Bruder neckend in die Seite und schüttelte feixend den Kopf. Und selbst Namjoon zog seine linke Augenbraue bis fast zum Haaransatz hoch. Nur Jin lächelte mir aufmerksam zu. Jungkook wagte ich gar nicht erst anzusehen, aber dennoch erklärte ich nun mit fester Stimme meine Idee:
„Wenn wir ihm nicht sein Leben nehmen können, warum nehmen wir ihm nicht das, was er am meisten liebt?" Ich sah auf die Tischplatte aus Nussbaumholz und schluckte. „Schließlich war es bei uns das Gleiche. Er hat uns unsere Eltern genommen."
Eine Träne hatte sich in meinen Augenwinkel geschlichen. Hoseok war bis unter den Haaransatz blass geworden und spielte unter dem Tisch mit seinen Fingern, dass die Gelenke laut knackten. Das tat er immer, wenn er angespannt war.
Jetzt wagte ich doch einen Blick auf Jungkook zu werfen: Seine Stirn lag in tiefen Falten. „Wir können Hongjoong abknallen. Die Idee gefällt mir, Y/N. Aber leider würde das seinen Alten nicht die Bohne jucken." Seine Stimme klang bedrohlich wie ein heranrückendes Donnergrollen und ich spürte, dass sich unter seiner Oberfläche jede Menge Spannung und Zorn angestaut hatte.
„Ich habe nie gesagt...,dass... ." Ich brach ab. Das lief doch alles in eine völlig verkehrte Richtung.
„Was ich meine ist: Wofür lebt er? Was ist sein Ziel? Sein Lebenstraum?" Ich war noch nicht bereit aufzugeben und sah erwartungsvoll in die Runde.
Jungkook sah regelrecht zum Fürchten aus und ich biss mir vor Schreck auf die Zunge. Sofort breitete sich in meinem Mund ein schaler, metallischer Geschmack aus.
An seiner Reaktion erkannte ich, dass er sich mit Kim Jong-Hyuk bisher nur als reines Hassobjekt und nie näher als Mensch beschäftigt hatte.
Doch jemand pfiff durch die Zähne. „Yn hat Recht." Es war Namjoon.
„Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht." Jin kicherte in seine Kaffeetasse. Dann hob er den Blick und seine Augen strahlten heller als die Sonne durch die kahlen Bäume im Park.
„Die Wahlen, Leute! Er versucht schon ewig Bürgermeister zu werden. Dieses Jahr ist bereits sein vierter Versuch. Ihr solltet wirklich mehr Zeitung lesen, da..."
Namjoon verdrehte die Augen und unterbrach ihn: „Reicht doch, wenn du sie liest", dann sah er zu Jungkook. „Also vergeigen wir ihm die Wahl?" Die Ansätze seiner Grübchen erschienen wieder auf seinen Wangen aber sein Blick war dunkel und ernst, während er seinen Boss musterte und auf dessen Reaktion wartete.
Jungkook neben mir wirkte wie erstarrt. Sacht strich ich über ein Tattoo an seinem Unterarm. Es war eine wunderschöne Blüte. Eine Tigerblume. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Jungkook schließlich unwillig den Kopf schüttelte. Schnell zog ich die Hand zurück und meine neu geschöpfte Hoffnung rutschte unter den Tisch, doch mit einem tiefen Seufzen erklärte Jungkook neben mir:
„Tun wir das. Und wenn wir fertig sind, wird er so verzweifelt sein, dass er sich umbringt oder freiwillig zu mir kommt und mich anfleht, ihn abzuknallen." Das Lächeln, das bei diesen Worten seine Fassade durchbrach und seine Augen zum Strahlen brachte, machte mir Angst.
Dennoch war ich erleichtert, dass es nicht länger um Mord ging.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro