K A P I T E L 12
E l i z a b e t h
„Sei doch nicht so aufgeregt", lacht er und sieht zu mir rüber, während wir die einschüchternden Steintreppen nach oben laufen. Nervös kaue ich auf meiner Lippe, die schon anfängt zu bluten. „Hey", Edward hält mich am Arm fest und dreht mich zu sich. Fast schon zitternd sehe ich zu ihm auf. „Das ist nur ein Anfangsgespräch, wenn du sie nicht magst, können wir sofort gehen. Wenn du dich unwohl fühlst, reicht ein Blick und wir fahren nach Hause. Doch du wolltest das Ellie. Du hast mich dazu überredet", ernst sieht er mich an und streicht mir eine Strähne hinter mein Ohr. „Ja... okay", murmle ich und ziehe an dem Ärmel meiner Strickjacke. Kraftspendend nimmt er meine Hand und zusammen betreten mir die Praxis von Dr. Evelyn Monroe.
„Freut mich das Sie gekommen sind, wir haben ja bereits telefoniert", öffnet uns die wirklich hübsche Frau mit einem üppigen Busen die Holztür. Ihre Lippen sind rot bemalt, ihre Haare tiefschwarz und auf ihrer hoffentlich gemachten perfekten Nase, trägt sie eine rote Brille. Ich komme mir vor wie in einem Film. Die weiße, enge Bluse mit dem großzügigen Ausschnitt spannt und ihr schwarzer Bleistiftrock betont ihren Hintern, auf den viele neidisch wären. Strahlend betrachtet sie meinen Bruder, der wie ein Fels in der Brandung in der Tür steht. „Ja, freut mich ebenfalls", er reicht ihr die Hand und zu meinem Erstaunen erhascht er keinen Blick in ihren Ausschnitt. Generell erscheint er mir gleichgültig, was sie angeht. Es freut mich zu wissen, dass mein Bruder nicht wie andere Männer ist, die sofort ihre Chance ergreifen würden. Trotzdem erschreckt mich die Frau vor mir, die nun ihren aufmerksamen und durchdringenden Blick auf mich richtet. „Mich auch", schließe ich mich meinem Bruder an und nehme ihre Hand, die kühl und einehmend in meiner liegt. Ihre Nägel sind sauber, mit einem roten Nagellack verschönert. Sie scheint mir alles in allem ziemlich jung. Vielleicht nur drei Jahre älter als mein Bruder. „Mein Name ist Evelyn Monroe. Setzen Sie sich doch bitte", sie deutete auf eine Couch in der Mitte des Raums, der mit warmen Holzakzenten und braunen Möbeln gestaltet ist. Mein Bruder läuft ohne zu zögern hinein und ich folge ihm, halte mich an seinem großen breiten Rücken fest, der in einen grauen Pullover mit V-Ausschnitt steckt. Es ist fast schon automatisch, wie ich nach dem Stoff greife und mich von ihm leiten lasse. Die eigentlich angenehme Wärme, die der Raum ausstrahlt, scheint mich nun schon regelrecht zu erdrücken. Das große Fenster gegenüber der Couch spendet Licht, auch, wenn es draußen aus Eimern schüttet. Geschmeidig lässt sich Ed auf der Couch nieder und ich setze mich neben ihn. Die schlanke Psychologin hat uns die ganze Zeit aufmerksam gemustert. Während mein Bruder die Ruhe selbst ist und sein Blick so kalt wie Eis, schaue ich unruhig durch den Raum. Das alles ist eine absolut blöde Idee gewesen. Ich komme auch alleine ohne Hilfe gut klar. Bedacht schreitet Dr. Monroe durch den Raum, ehe sie sich in einem gemütlichen Sessel gegenüber von uns hinsetzt. Ed hat die Idee gehabt, zu ihr zu gehen, da er der Meinung gewesen ist, dass es mir vielleicht leichter fällt mit einer Frau zu reden, als mit einem Mann. Ich habe ihm zugestimmt, doch nun schüchtert mich die Frau mehr ein, als es ein Mann je könnte. „Nun... du musst bestimmt die Schwester sein?", sie rückt ihre Brille zurecht und sieht mir in die Augen. Eine Zeit lang sage ich nichts, bis mich der Blick von Edward trifft, der mich wieder ins Hier und Jetzt holt. In meinen sonst so selbstbewussten Körper. Aufmunternd lächelt er und streicht mir kurz über den Kopf. Nickend wende ich mich wieder zu der Frau. „Ja...", kurz räuspere ich mich, da meine Stimme kaum mehr als ein Fiepen ist. „Ja, die bin
ich." „Schön...", lächelt sie und notiert was auf ihrem Brett, das auf ihren langen überschlagenen Beinen liegt. „Du gehst noch zur Schule?", sie legt ihren Kopf schräg und streicht sich eine Haarsträhne nach hinten. „Ja... auf die Hawkins School", erzähle ich. „Und Sie?", neugierig betrachtet sie meinen Bruder. „Ich bin Trainer an der Schule." „Ah! Ja, von Ihnen habe ich gehört. Sie sollen dem Team zum Sieg verhelfen, richtig?", sie lächelt und ihre perfekt geraden, weißen Zähne kommen zum Vorschein. Leider besitze ich eine kleine minimale Zahnlücke zwischen den Schneidezähen. Deswegen bin ich früher immer Karnickel genannt worden. Keine schöne Zeit, aber Edward meint, sie sei süß. Manchmal muss ich einfach belustig den Kopf schütteln über seine brüderliche Fürsorge und Aufmunterungen. „Wir werden sehen, doch es wäre natürlich schön", sagt er und kratzt sich im Nacken. Das tut er immer, wenn er verlegen ist. „Sie haben noch mehr Geschwister, wenn ich mich recht entsinne?" „Ja. Eine Schwester und einen Bruder", erklärt er ihr. Edward's herber Duft schlägt mir entgegen, als er seinen Arm wieder senkt. Sofort bekomme ich eine Gänsehaut, meine Sinne sind betäubt und mein Bauch fühlt sich komisch an. „Wollen Sie die Therapie zusammen machen?", fragt sie. „Nein, nur heute. Wir sind aus verschiedenen Gründen hier." Verstehend nickt sie und schlägt eine Akte auf, wahrscheinlich die Akte meines früheren Psychologen. Ihre Augen lesen kontrolliert über die nächsten Zeilen, bis sie plötzlich erstaunt hängen bleibt. „Sie sind adoptiert!", kommt es überrascht von ihr und sie sieht zu mir auf. Unbemerkt zucke ich zusammen, doch sofort legt sich eine warme Hand auf mein Bein.
„Oh. Entschuldigung, das war unprofessionell.", entschuldigt sie sich sofort. „Ja, das war es.", brummt Edward. „Es tut mir leid, nur hat mich das sehr verblüfft", sie schaut noch einmal in die Akte und wieder auf. „Das bin ich ebenfalls", sagt er. Wir reden nie darüber, denn es ist uninteressant. Unsere Eltern wollten so sehr Kinder haben, doch es hat einfach nicht funktioniert, deswegen haben sie Edward im Alter von zwei Jahren zu sich geholt. Jahre später hat es dann geklappt und sie bekamen Alex und Clair. Ich bin ein Zufall gewesen. Wenn auch ein trauriger. Aber daran denke ich nicht gerne zurück. „Wie dem auch sei, deswegen sind wir nicht hier", Edward klingt bestimmt und ich sehe, wie eingeschüchtert sie von ihm ist. Wie soll sie ihm helfen, wenn sie Angst vor ihm bekommt? Ermahnend stoße ich meinen Ellbogen in seine Seite. Er räuspert sich. „Fahren Sie fort", fordert er. Augenverdrehend schüttle ich mit dem Kopf. „Ja... ähm..."
Den Rest der Stunde reden wir über uns. Nichts Tiefgründiges. Wir kennen uns nicht und deswegen ist das nur eine Kennlernstunde gewesen. Auch, wenn ich sie am Anfang etwas einschüchternd gefunden habe, werde ich ihr eine Chance geben. Wir verlassen gerade das Gebäude und seufzend schaue ich in den Himmel, der zwar noch immer grau ist, jedoch hat es aufgehört zu regnen. „Wollen wir ein Eis essen gehen?", fragt mich Edward und sofort fange ich an zu strahlen. „Ja!!", energisch ziehe ich ihn an der Hand in ein Café zwei Straßen weiter. Lachend läuft er mir hinterher. „Mach langsam Ellie, das Eis schmilzt schon nicht." „Wer weiß", zwinkere ich grinsend und zucke mit den Schultern, ehe ich die Tür aufstoße. Uns schlägt ein süßer Duft nach Gebäck, Kakao und Kaffee entgegen. Eddie fährt sich durch die Haare und ich hechte schon zu dem letzten leeren Platz an einem Fenster. Schmunzelnd schüttelt er den Kopf und setzt sich mir gegenüber. Glücklich greife ich nach der Karte und überfliege sie aufgeregt. „Was wollt ihr zwei Süßen denn?", eine ältere Frau lächelt uns höflich an. „Also... ich hätte gerne einen Kakao mit viel Sahne und kleinen Marshmallows. Dann hätte ich gerne noch den Regenbogenbecher." Dort sind alle möglichen Eissorten drin. Edward versteckt sein breites Grinsen hinter seiner Faust. „Okay! Habe ich notiert. Und was kann ich Ihnen bringen?", sie schreibt sich was auf ihren Block und sieht zu Ed. „Einen Kaffee, schwarz", bestellt er. „Kein Eis??", enttäuscht sehe ich ihn an. Schnaufend schaut er kurz auf die Karte. „Und einen kleinen Becher Schokoladeneis, bitte", mit funkelnden Augen betrachtet er mich. Zufrieden lehne ich mich nach hinten. „Kommt sofort!", grinst sie. Eine wirklich sehr sympathische Frau. „Und, wie fandst du es?", neugierig sieht er zu mir. „Gut. Ich gebe ihr eine Chance. Und du?" Unsicher sieht er durch den Laden und lehnt sich lässig nach hinten. „Ich weiß nicht Ellie..." „Was?", ich lege meinen Kopf schräg und mustere seine einnehmende Gestalt. „Versuch es doch, Eddie. Und wenn du nach ein paar Stunden immer noch denkst, dass das sinnlos ist, dann werde ich es dir nicht übelnehmen, wenn du dort nicht mehr hingehst." „Du würdest es mir übelnehmen, wenn ich nicht mehr gehe?", gespielt entsetzt sieht er mich an. „Ja!" „Na dann muss ich ja gehen", gespielt ernst nimmt er meine Hand und schaut tief in meine Augen, was mich aber total aus dem Konzept bringt. Es ist irgendwie merkwürdig. Es fühlt sich an wie Stunden. Die Geräusche um uns verstummen und da sind nur diese zwei Augenfarben, die mich drohen zu verschlingen. Mich zu fesseln und für immer zu beanspruchen. Ein Glanz, den ich die letzten Wochen immer als so natürlich angesehen habe, legt sich über sie. Heiße, glühende Wärme wandert wie Wellen durch meinen Körper. Und plötzlich ist alles, was ich will, ihn zu küssen.
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