
Kapitel 4 - Teil 2
Deutschland
„Nein", etwas genervt versuchte Halmeonis den ihrer Meinung nach viel zu besorgten Schwiegersohn am Telefon zu beschwichtigen, „mir geht es wirklich mehr als gut. Ihr macht euch alle einen viel zu großen Kopf! Außerdem ist Sofie ja noch hier."
Sofie, die neben ihrer Großmutter am Esstisch um das auf Lautsprecher geschaltete Telefon saß, nickte eifrig. Obwohl das der Anrufer natürlich nicht sehen konnte. „Das stimmt, ich bin ja noch da. Außerdem braucht ihr euch echt keinen Kopf zu machen, Oma läuft schon wieder durch das ganze Haus, verzapft Verschwörungstheorien gegen das Krankenhauspersonal und beschwert sich, dass der Gips sie beim Treppenlaufen stört."
Halmeonis warf ihrer Enkeltochter einen bösen Blick zu.
„Das hört sich echt schon wieder ganz nach Emily an.", bestätigte der Anrufer lachend. „Geht das denn für dich so mit der Uni?"
„Ja, alles gut. Die meisten Vorlesungen sind online."
„Gut. Wenn was ist, rufst du an, ok? Mein Kumpel wohnt ja auch in der Gegend, wenn ihr Hilfe braucht..."
„Hm", unterbrach Sofie gelangweilt, „Alles gut."
„Ihr hört euch ja gerade so an, als sei ich nicht mehr zurechnungsfähig. Ich hab mir das Bein gebrochen, ich liege nicht im Sterben! Michael, du musst dir wirklich keine Sorgen machen!", wies die Patientin ihren Schwiegersohn zurecht. Sofie grinste.
„Und ihr?", erkundigte sie sich, „Wie geht es e... ACH DU MEINE GÜTE!! Tae, erschreck mich doch nicht so!"
Der Genannte streckte grinsend seinen Kopf über Sofies Schulter, völlig frei von Reue.
„Wer ist dran?", flüsterte er.
„Mein Dad", flüsterte Sofie zurück.
„Ist das Koreanisch?", kam es aus dem Hörer.
„Hm? Ja. Ich hab nur gesagt, dass meine Eltern am Telefon sind."
„Ah. Mit wem hast du geredet?"
Kurz stockte sie. Wussten ihre Eltern, dass Halmeonis einen Übernachtungsgast bei sich hatte? Wenn sie herausbekämen, dass hier ein fremder Mann bei Sofie im Haus übernachtete, was würden sie sagen?
„Mit Halmeonis"
„..."
Sofort wurde ihr klar, dass das keine kluge Ausrede gewesen war.
Auch wenn Tae hinter ihr kein Wort verstanden hatte, konnte er wohl sehr wohl den Gesichtsausdruck der beiden Damen vor ihm deuten. Stumm fing er an, Sofie auszulachen.
„Gscht", mit der Hand schnappte sie nach ihm, aber er wich blitzschnell zurück.
„Tae, lass das! du bist keine große Hilfe!" rief sie ärgerlich.
„Wer war das?"
„Ähm,..." Hilfesuchend sah sie zu Emily, welche allerdings die Arme verschränkte und ihren Blick erwiderte.
„Niemand wichtiges." Versehentlich antwortete sie erst auf Koreanisch, bevor sie rasch korrigierte: „Niemand wichtiges"
„Na danke!" Taes Stimme triefte vor Sarkasmus.
„So war das nicht gemeint!"
„Wie war es dann gemeint?", fragte jemand.
„MOM!", überrascht klappte Sofie der Mund auf. Mit einem Mal wurde ihr heiß, „Ich wusste nicht, dass du auch am Telefon bist!"
„So ein Pech", antwortete ihre Mutter, „und Koreanisch kann ich auch noch!", witzelte sie. „Wer ist Tae?"
„Ähm..."
„Ja?", fragte sie in einem Tonfall der aussagte, dass Sofie jetzt besser die Wahrheit sagen sollte, „Ich höre?"
„Hm", seufzend gab Sofie zu: „Halmeonis hat wieder einen Übernachtungsgast da. D..."
„EOMMA!*", wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen, „Ich hab dir doch gesagt, du sollst das nicht machen! Was, wenn auch nur einer von denen Corona hat! Oder Kontakt zu jemand hatte, der es hat? Weißt du, was passiert, wenn du das kriegst? Wie kannst du nur so unvorsichtig sein!"
„Ja," Emily verdrehte die Augen und fuhr mit ironischer Begeisterung fort: „das nächste Mal, wenn die Polizei fragt, sag ich einfach: ‚Oh nein. Tut mir leid Herr Strubel, ich kann ihm nicht aufnehmen, was wenn er Corona hat? Es ist für uns alle humaner, wenn sie ihn auf der Straße aussetzten!'"
Einen Moment schwieg Sofies Mom, dann war aus dem Hörer ein Seufzen zu hören. „Ist es wieder einer aus dem Jugendheim?", fragte sie kalt und rational, „Oder aus einer Notfall-Familie? Oder ein junger Straftäter, den die Polizei freigelassen hat und der jetzt nicht in seine Familie zurückkann?"
Wieder ein Seufzen.
„Schon mal an Sofie gedacht?", fuhr sie mit weicherer Stimme fort, „Was du da aufnimmst sind keine Kleinkinder, Eommi. Das sind ausgewachsene Frauen und Männer. Was, wenn was passiert?"
„Eommi.", unterbrach da endlich Sofie, „Ich weiß, was du meinst, aber mir geht es gut. Tae ist einer der nettesten Menschen, die ich kennenlernen durfte und emotional hab ich ihn schon als kleinen Bruder adoptiert! Er ist kindisch, tiefsinnig und schräg aber mit größter Sicherheit nicht gefährlich! Außerdem hat er kein Corona und wird, nachdem was er mir erzählt hat, ein paar Wochen bleiben. Das heißt, dass in den Wochen auch niemand anderes kommen wird, der uns anstecken könnte! Außerdem sind wir nicht allein. In dem unmöglichen Fall, das was passieren sollte, ist immer noch Halmeonis da!"
Einen Augenblick war nur Schweigen zu hören.
Dann hörte man etwas deutsches Gemurmel im Hintergrund.
Sofie vermutete, dass ihre Mom ihrem Dad übersetzte.
„Und es macht dir wirklich nichts aus?", fragte ihr Dad.
Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Annyo!"
„In Ordnung", entschied schließlich ihre Mom, „ich habe nichts dagegen. Aber falls ihr Hilfe braucht, oder sonst etwas ist, meldet ihr euch sofort, abgemacht?"
„Ja, Mama", stöhnte Emily, was alle Anwesenden zum Lachen brachte.
„Gut, dann wünsche ich euch alles Gute. Meldet euch, wenn was ist und dann hören wir uns wieder übermorgen."
„Natürlich, wir hören uns. Annyo."
„Annyo!" rief Sofie noch, dann drückte ihre Großmutter auf einen Knopf und legte auf. Sie sah zu Tae, der mit gemischten Gefühlen immer noch hinter Sofies Stuhl stand. Grinsend wackelte sie mit den Augenbrauchen. „Freu dich. Du hast jetzt offiziell Schuhmachers Aufenthaltsgenehmigung.", sie zwinkerte, „das ist mindestens so viel Wert wie ein Pass!"
Nach dem Gespräch stand Sofie auf und schnappte sich einen Stapel Karteikarten vom Sideboard. Mit einem Klatsch landeten sie auf dem Tisch.
Sofie begann, sie durchzusehen, während Halmeonis sich dann in der Küche zu schaffen machte. Neugierig belegte Tae den nun frei gewordenen Stuhl.
„Was machst du?", fragte er, nachdem er sie einige Minuten beobachtet hatte.
„Das Nierenbecken – pelvis renalis; die Wirbelsäule - spina", murmelte sie.
Tae runzelte die Stirn und rutschte ein bisschen näher an sie heran.
Sie ignorierte ihn. „Die Eingeweide – viscera, viscerarum, Singular viscus.", sie sah hoch und damit Tae direkt ins Gesicht. „Also ein viscus, viele viscera, viscerarum.", erläuterte sie, als würde er sie verstehen.
Doch stattdessen kniff er nur die Augenbrauen zusammen. „Visca....?"
„Viscera", verbesserte sie ihn.
„Und das ist?"
Sie ignorierte seine Frage und machte mit der nächsten Karte weiter. „Die Milz – lien, lienis"
„Dei Miltsch"
„Huh?", verwirrt sah sie hoch.
„Dhei Mieltsche", wiederholte er.
„Was?", noch verwirrter kniff Sofie die Augen zusammen. Dann ging ihr endlich ein Licht auf. „Achso! Die Milz!", lachte sie.
„Was ist das?" Tae, dem offensichtlich langweilig war, drückte seinen Kopf an den ihren um in ihre Karten schauen zu können.
„Ist das was zu essen?"
Sofie blinzelte. „Nein", gab sie schließlich an.
„Eine Stadt?"
„Nein."
„Ein Name?"
„Tae... Was studiere ich?"
„Oh! Ein Organ!"
„Ding, ding, ding! Hundert Punkte der Kandidat!"
Sie wandte sich wieder ihren Karten zu.
„Und wo liegt das?"
Die Lippen zusammenpressend sah sie erneut zu ihm hoch.
Ratend zeigte er irgendwo auf seinen Dünndarm.
Sie musste grinsen, lernte aber sofort weiter. Der Wirbel, wiederholte sie, vertebra.
Mit einem Mal spürte sie, wie sich ein Gewicht auf ihrer Schulter ablagerte. Sie musste nicht mal hochsehen um zu wissen, dass er sich hinter sie gestellt und sein Kinn auf ihrer Schulter abgelegt hatte. Sie versuchte ihn zu ignorieren. „Der Wirbel-„
„Pff", schelmisch grinsend blies er ihr ins Gesicht.
„Tae, das stört."
Er grinste.
„Ich muss das für den Test lernen, das ist wichtig."
„Hm", beleidigt schmollend stand er auf und ließ sich einige Meter weiter hinten auf das Sofa plumpsen. Endlich unbehelligt, widmete sich Sofie wieder ihren Karteikarten. Der Wirbel – vertebra; die Hornhaut – cornu...
„Warum ist da ein Haken an der Decke über dem Sofa?"
Sie regierte nicht. Was er wohl auch merkte. Als nächstes hörte sie, wie er an ihr vorbei zur Küche schlappte.
„Halmeonis, warum ist da ein Haken über dem Sofa?"
„Oh, da haben wir immer Weihnachtssterne aufgehängt"
Ich sollte in mein Zimmer gehen überlegte sie sich und versuchte ihre Umgebung auszublenden. Was ihr für die nächsten 20 Minuten erstaunlich gut gelang. Sie war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie sogar das ständige Rumpeln und Kratzen überhörte, dass nach fünf Minuten vom Sofa aus zu hören war.
Phlegmone, phlegmasia = Griechisch. Infalammatio, inonis = Lateinisch. Nein. Phlegmone, phlegmasia und phogosis ist alles drei griechisch. Sie spiele mit der Ecke ihrer Karteikarte. Also: Die Entzündung: griechisch: phlegmone/phlegmasia/phogosis/phlogist- irgendwas. Und auf lateinisch: inflammatio/ ionis. Inflammatio, wiederholte sie in ihrem Kopf, Inflammatio, inflammatio. Ionis, Ionis, Ionis, Ionis.
„Ionis"
„Sofie?"
„WAH!", ernüchtert kniff sie die Lippen zusammen, als sie Taes Kopf vor sich auftauchen sah. „Was?"
„Kann ich deinen Stuhl haben?"
„Ha?"
Erst jetzt warf Sofie einen Blick auf ihre Umgebung. Der Stuhl auf dem sie saß, war der einzige Verbliebene am Esstisch. Selbst der Schreibtischstuhl, der sonst in der kleinen Büronische neben der Haustür gestanden hatte, war auf einmal spurlos verschwunden. Stattdessen stapelte sich jeglicher Krempel vor Sofie auf dem Tisch, der eigentlich auf das Sideboard gehört hätte... Ein Sideboard von dem jegliche Spur fehlte. Ebenso wie von dem Kleiderständer, der mal neben der Eingangstür gestanden hatte. „Wo..."
Und mit einem Mal erkannte sie, wohin alles verstaut worden war.
Eine große Höhle aus Decken spannte sich, ausgehend von dem kleinen Haken an der Decke, vom Sofa in den Flur hinein und über den Fernseher.
Nur konnte der kleine, unschuldige Haken wohl die schweren Decken, mit denen die Höhle gebaut worden war, nicht mehr alleine tragen, weswegen jetzt Kleiderständer, Sideboard und sämtliche Stühle herhalten mussten. „Was zum?!" Mit ernstem Gesichtsausdruck drehte sie sich zu ihrem Freund herum.
„Tae?", fragte sie neugierig, „Bist du vier?"
„Pff.", beleidigt wackelte er mit der Nase. Dann erinnerte er sich, weswegen er gekommen war. „Krieg ich deinen Stuhl?"
„Und wo soll ich dann sitzen?"
Musternd warf sie einen ausgiebigen Blick auf das Ungetüm aus Decken, dass fast ein Viertel des Wohnzimmers in Beschlag nahm. Sie hatte als Kind auch öfter solche Höhlen hier gebaut. Allerdings hatte sie die nie so groß hinbekommen... Wie er das wohl geschafft hatte?
„Darf ich mal reinschauen?"
Er nickte eifrig. Sie legte ihre Karteikarten auf den Tisch und stand von ihrem Stuhl auf, welcher noch in derselben Sekunde wie von Zauberhand unter dem Berg von Decken verschwand. Nur dass es keine Zauberei war, sondern Tae. Belustigt beobachtete sie ihn, wie er sich aus Versehen in den Decken verhedderte.
„Wo ist der Eingang?"
„Ächz"
Sie krabbelte zum Stuhl um ihm zu helfen. Kaum hatte er eine Hand frei, hielt er die Decke nach oben, damit sie eintreten konnte.
„Uh, von innen ist es kleiner"
„Das sind die Stühle", erklärte er betrübt, „aber ohne die klappt es nicht!"
„Und?" fragte er stolz, als er sich neben sie vor das Sofa setzte.
Sie lächelte. „Bisschen unbequem", meint sie und zeigte auf den blanken Holzboden unter sich.
„Hm", nachdenklich biss er sich auf die Lippe.
„Lass uns den Wohnzimmerteppich von draußen holen", schlug sie vor. Mit einem Schlag kehrte ein begeistertes Strahlen auf sein Gesicht zurück.
Schnell kletterten die beiden durch ein Loch zwischen den Decken wieder nach draußen. „Der da", bestimmte Sofie und zeigte auf den ausgefransten, durchgescheuerten Wohnzimmerteppich.
Shin runzelte die Stirn. „Wie kriegen wir den ins Zelt?"
„Ohne dass er die ganzen Laken mit runterreißt?"
Er nickte. „Oh!", rief er aufgeregt, „Wir können ihn einrollen und drinnen wieder ausrollen."
Sofie grinste. „Probieren wir's!"
„Du hast ihn schräg eingerollt", beschwerte sie sich einige Sekunden später.
„Uff ist der schwer.", Tae ging nicht auf ihre Deklamation ein.
„Warte, ich helf dir."
„Nein, halt die Decken beiseite."
„Kriegst du das hin? Oh, pass auf der Stuhl!"
RUMMS
„Ups"
Mitleidig sah sie zu Tae herunter. „Alles Ok?"
Er hatte mit dem Teppich einen Stuhl beiseitegeschoben und damit zwei Decken heruntergerissen, unter denen er jetzt begraben lag. Mit einem Mal fingen die Decken an zu beben und Sofie hörte gedämpftes Kichern. Grinsend zog sie sie beiseite. Mit einem „Warte", hielt er sie davon ab, sie aufzuräumen, „lass uns erst den Teppich reintragen!"
Also ließ sie sie fallen und hob stattdessen die im Weg befindlichen Decken beiseite. Zuletzt rollten sie den Teppich im Höhleninneren wieder aus.Dann stellten sie zusammen den Stuhl zurück und befestigten wieder die Decken daran. „Ich hab noch Kissen in meinem Zimmer", fiel Sofie ein, „warte!"
Tae nickte zwar, rannte dann aber in sein eigenes.
Beide kamen mit dem Arm voller Kissen zurück. Ihre Blicke begegneten sich im Flur und sie begannen zu lachen.
„Warte, ich zuerst", entschied Sofie und zwängte erst sich und dann die Kissen durch die schmale Luke zwischen den Decken. „Jetzt gib mir deine"
Begeistert folgte hinter seinen Kissen schließlich Tae, der fröhlich das Innere seiner Höhle musterte. Es sah nun um einiges bequemer und heimeliger aus.
„Lass und noch was zu essen holen", schlug Sofie schließlich vor und er nickte.
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*Eomma = Mom in Koreanisch
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