Kapitel 20
Am nächsten Morgen wache ich überfordert auf. Mein Schädel dröhnt und mein Mund ist trocken. Mein Wecker klingelt ununterbrochen und meine Augen wollen sich nicht öffnen.
Was hast du dir nur dabei gedacht?
Das weiß ich doch auch nicht. Nerv mich jetzt bloß nicht.
Nachdem Finnick mich gestern völlig unvorbereitet geküsst hat, habe ich es erwidert. Was für eine Frage, natürlich habe ich es erwidert. Davon träume ich schon, seitdem ich ihn das zweite Mal gesehen habe.
Ganz allgemein, keine schlechte Leistung: Gerade mal 5 Wochen auf der neuen Schule und schon zwei Kerle geküsst.
Gott, du bist doch nicht mehr ganz dicht.
Jaa, ich weiß.
Ich bin so dämlich.
Das weiß leider schon jeder, deswegen hast du ja auch kaum Freunde.
Ohh, halt die Schnauze.
Mit einem quängeligen Geräusch klettere ich aus dem Bett, nehme mir Klamotten und gehe ins Badezimmer, um zu duschen.
Nach der Dusche kämme ich mir die Haare und laufe nach unten, wo meine Eltern schon am Esstisch sitzen.
»Guten Morgen, mein Spatzi«, trällert meine Mutter vor sich hin und schmiert sich ein Käsebrötchen.
»Morgen«, grummele ich nur und lasse mich auf meinem Platz nieder.
»Sag mal, wer war denn gestern Abend noch an der Tür«, fragt Mom interessiert. Oh, nein.
»Finnick«, antworte ich so neutral wie möglich. Ich muss nur noch hoffen, dass sie nicht wissen will, warum er hier war.
»Und, was wollte dieser Finnick hier?«
Mist.
»Errr wollte mir .... die Hausaufgaben vorbei bringen«, lüge ich.
»Du warst doch gestern in der Schule?« Boah, was ist denn los hier?
»Ich habe sie halt vergessen. Bin ich hier bei der Polizei oder was?«, rufe ich auf einmal laut aus. Mom und Dad gucken mich erschrocken an und auch ich starre nur zurück. »Tut mir leid«, murmele ich entschuldigend und erhebe mich. »Ich gehe jetzt.«
Ich weiß selbst nicht mal, warum ich so reagiert habe, aber in letzter Zeit steigt mir alles über den Kopf. Reeve, der sich seltsam verhält und Finnick, der einfach Finnick ist, aber dennoch seltsam. Das wird mir zu viel. Die ständig gute Laune von Bobby. Die ist zwar nicht verboten, aber unpassend in Verbindung zu meiner pessimistischen Ader.
***
An der Schule stelle ich mein Fahrrad in den dazugehörigen Ständer, drehe mich um und werde voll aus dem Weg geschubst.
Was zur ...? GEHT'S NOCH?
Ich verliere das Gleichgewicht und versuche mich an meinen schweren Rucksack in meinem Korb festzuhalten. Doch leider ziehe ich ihn dabei mit heraus und mein Körper knallt nach hinten gegen ein Auto.
Autsch.
Hast du ja super hinbekommen, du anonymer Aus-dem-Weg-Schubser. Grr.
Mein Ellbogen tut höllisch weh, genauso wie mein Rücken. Nohh, ich hasse Menschen.
Ich höre eine Autotür zuknallen und schwere Schritte, die sich in meine Richtung bewegen. Da ich mit meinem Hintern auf dem Boden sitze, sehe ich nur dunkelbraune Stiefel, die sich in mein Blickfeld stellen. Allein schon wie die da stehen, macht einen nicht erfreuten Ausdruck des Autobesitzers klar.
Meine Augen wandern die helle Jeans nach oben, über das weiße T-shirt, welches unter einer dunkelbraunen Jacke hervor lugt und enden schließlich im Gesicht der Person.
Innerlich stöhne ich auf. Das darf doch wohl nicht wahr sein.
Die Person tritt noch einen Schritt näher und beugt sich etwas hinunter, um eine Beule am Auto ausfindig zu machen. Idiot.
»Du hast Glück, dass mein Auto keinen Kratzer abbekommen hat«, sagt er dann und stellt sich wieder aufrecht hin.
Ich verdrehe nur meine Augen und rappele mich irgendwie vom Boden auf, was gar nicht so leicht ist, weil mir alles wehtut.
Als ich ihm dann gegenüberstehe, sehe ich erst, dass er echt fertig aussieht. Seine Haare sind ein einziges Chaos (schlimmer als sonst) und seine Augen verzieren dunkle Augenringe.
Er hat mein Starren wohl mitbekommen, denn er greift nach seiner Sonnenbrille und setzt sie sich auf.
Bye bye, ihr schönen karamellfarbenen Augen ...
»Hast du etwa im Auto geschlafen?«, frage ich überrascht und mustere ihn genau. Auch seine Klamotten sind zerknittert.
Sein Kopf wendet sich in Richtung Auto und wieder zurück. Seine Augenbraue ziehen sich leicht zusammen und er steckt seine Hände in die Hosentaschen.
»Neugier steht dir nicht, Six.« Er hat meinen Namen benutzt, das heißt wohl, er meint es ernst.
Als Antwort nicke ich nur, hebe meinen Rucksack auf und maschiere an ihm vorbei. Nach zwei Metern bleibe ich nochmal stehen.
»Danke für's aufhelfen, Reeve Hunter«, sage ich über meine Schulter hinweg und gehe weiter ins Schulgebäude.
Auch ohne, dass er mir geantwortet hat, weiß ich, dass er im Auto geschlafen hat. Das laute Knallen von Türen und Motoren gestern war wohl er und anscheinend ist er auch nicht wieder zuhause aufgetaucht. Ob es das erste Mal war? Oder ist es vielleicht schon öfter passiert?
Nach den ersten beiden Stunden treffe ich Karen an meinem Schließfach, die gedankenverloren in eine Richtung starrt. Geht's ihr nicht gut? Automatisch drehe ich meinen Kopf in dieselbe Richtung. Achhh sooo. Bobby steht dort mit Lois, Jared, Maddy und Reeve.
Sie sind zu weit weg, als dass man verstehen könnte, was sie sagen, doch es muss lustig sein, denn Reeve lehnt sich lachend an die Wand hinter sich; eine Hand in der Hosentasche und die andere fährt gerade durch seine Haare.
Oh, diese Haare und uuhh, diese Muskeln, die sich leicht anspannen, wenn er den Arm hebt (Sabbergefahr).
Plötzlich rammt sich ein Ellbogen in meine Seite. Empört schaue ich zur Seite.
»Aua, was soll das?«
»Hör auf zu sabbern«, grinst Karen mich an. OhGott.
Unauffällig und vielleicht mit sehr viel Hektik, so dass es nicht mehr unauffällig ist, wische ich mir mit meinem Ärmel über den Mund. Hm.
»Ich habe überhaupt nicht gesabbert«, sage ich ärgerlich und drehe mich zu meinem Spind.
»War auch nur metaphorisch gemeint«, lacht sie. Hahaha, witzig. »Was ist jetzt eigentlich mit Finnick und dir?«
Weiß sie etwa, dass wir uns geküsst haben?
»Was meinst du?«, frage ich mit großen Augen, denn ich bin ab jetzt auf der Hut.
»Ich meine, du hast die ganze Zeit für Finnick geschwärmt und jetzt starrst du Reeve hinterher. Außerdem habt ihr euch schon geküsst, auch wenn es nur ein Spiel war, aber mit Finnick sehe ich dich auch«, gibt sie mir ihre Analyse über mein „Liebesleben" kund. »Wann hat das denn mit Reeve angefangen?«
Also, dass Reeve mich noch zweimal nach dem Spiel geküsst hat, erwähne ich jetzt mal lieber nicht.
Okay, zurück zur Frage. Hm, jaa, gute Frage. Das war in meinem Garten, um genau zu sein, an den Mülltonnen.
»Das war drei Wochen nachdem ich auf diese Schule gekommen bin. Sagen wir mal so, es war ein ... peinliches Aufeinandertreffen und na ja, seitdem hat er mich irgendwie auf dem Kieker«, spreche ich meine Gedanken laut aus.
»Und was ist jetzt mit Finnick?«
Das weiß ich auch nicht so genau. Einerseits bin ich total glücklich, dass wir uns geküsst haben und er so nett ist, aber andererseits weiß ich nicht, wie ich mich ihm jetzt gegenüber verhalten soll. Finnick scheint mir nicht so einer zu sein, der gleich die Tür einrennt und die Dinge am Schopf nimmt.
»Tjaa, er ist auf jeden Fall noch anwesend.« Mit einem Seufzen tausche ich meine Bücher aus und drehe mich wieder zu Karen.
»Und da kommt er auch schon«, sagt sie und deutet auf einen Punkt hinter mir. Shit.
»Karen, Finger runter und umdrehen«, zische ich ihr zu und gebe ihr eine geborene Vorlage.
Mein Kopf steckt wieder im Spind, meine Haare verbergen mein Gesicht und mein Körper bewegt sich keinen Millimeter.
Ja, vielleicht ist das kindisch und auch nicht verständlich, wieso oder was ich hier tue, aber ich kann ihm wirklich nicht, UNTER GAR KEINEN UMSTÄNDEN, jetzt über den Weg laufen. Es sind nicht einmal 24 Stunden vergangen, wo er mich einfach gepackt und geküsst hat.
Ist das verständlich?
Nach ein paar Minuten komme ich wieder heraus und sehe Karen fragend an. »Hast du dich etwa nicht versteckt?«
»Nein, warum?« Doppelt shit.
Hektisch schaue ich mich in dem überfüllten Gang um, kann ihn jedoch nicht entdecken.
»Hat er mich gesehen?« Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe und schaue sie eindringend an.
JETZT SAG SCHON!
»Keine Sorge, er hat nicht einmal in diese Richtung gesehen. Was ist denn passiert?« Soll ich es sagen? Oder lassen?
Sie ist meine beste Freundin ...
»Okay, du darfst jetzt gleich nicht kreischen oder ein Wort zu irgendwem sagen. Auch nicht zu Bobby«, sage ich mit Nachdruck, denn ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass sie ihm Dinge weitererzählt.
Wie hypnotisiert nickt sie und drängt mich zum weiterreden.
»Also, gestern Abend hat Finnick bei mir an der Tür geklingelt. Er hat nichts gesagt, er hat mich einfach an meinem Arm zu sich gezogen und geküsst. Einfach. So«, beende ich meine Geschichte.
Karens Augen werden immer größer und ihr Mund öffnet sich. »OhmeinGott, OhmeinGott, OhmeinGott«, sie schnappt nach Luft, ehe sie einen freudigen Quieker ausstößt. »Ja, und? Was ist jetzt?«
»Das weiß ich nicht, wir haben nicht mehr geredet. Du glaubst nicht, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe und jetzt weiß ich nicht, wie ich ihm gegenüber treten soll.«
»Dann warte doch einfach, bis er zu dir kommt«, schlägt sie vor.
Ist wohl am besten. Für mich.
»Du hast Recht, ich warte lieber ab.«
Als es zur dritten Stunde klingelt, hüpft Karen auf Bobby zu, welcher sie an der Hüfte zu sich zieht und ihr einen Kuss gibt. Bei deren Anblick lächele ich leicht.
»Bist du etwa weich geworden?«, fragt mich eine belustigte Stimme neben mir.
Keep calm, beruhige ich mich selber.
»Darf man heutzutage nicht mehr Lächeln?«
»Selbstverständlich, aber du bist zu sehr auf die Aufgabe fokussiert, alle umherlaufenden Menschen mit deinen Blicken zu töten. Es ist ungewohnt dich lächeln zu sehen.«
»Es ist auch ungewohnt, dass du nicht nur die Flirtsprache beherrschst«, sage ich und blicke Jared von der Seite an.
Ein kleines Lächeln bildet sich auf seinem Gesicht aus. Sein Kopf dreht sich zu mir und sein Lächeln verwandelt sich in ein freches Grinsen.
»Dein Lächeln steht dir übrigens hervorragend«, sagt er und zwinkert mir zu, dabei läuft er an mir vorbei ins Klassenzimmer.
Uuund da hätten wir wieder Jared Johnson, den äußerst charmanten und flirtbedürftigten Jungen. Mit einem Augenrollen und einem Grinsen laufe ich ebenfalls in die Klasse.
***
Nachdem die letzte Stunde vorbei ist, laufe ich nach draußen zu meinem Fahrrad. Ungefähr zehn Meter entfernt, steht Finnick an der Wand gelehnt und tippt irgendwas auf seinem Handy rum. Es ist ein ungewohnter Anblick: die lockere Haltung, die er anlegt.
Plötzlich vibriert mein Handy in meiner Hosentasche und ich schrecke zusammen, weil ich zu sehr in Gedanken gewesen bin. Ich hole mein Handy heraus und öffne die Nachricht. Unbekannt. Seltsam.
Hallo Rosie, wie geht es dir? Ich hoffe, du hast dich etwas erholt, seit unserem letzen Treffen. Es wäre wirklich Schade, wenn du nicht mehr gut auf mich zu sprechen wärst. Ich hoffe, man sieht sich. Einen schönen Tag wünsche ich dir noch.
Fassungslos starre ich auf das Display und lese die Zeilen immer wieder. Mein Fahrradschlüssel hat sich schon längst auf den Boden verabschiedet. Ich bücke mich, um ihn aufzuheben und schaue automatisch zu Finnick rüber, welcher gerade sein Handy in der Hosentasche verstaut, sich von der Wand abstützt und davonläuft.
Aufgebracht schaue ich wieder auf mein Handy und würde es am liebsten gegen das nächstbeste Harte werfen, nur um zu sehen, wie es in viele Einzelstücke zerspringt und diese Nachricht nicht mehr existiert. Doch sie tut es. Und es gibt nur EINEN, der mich Rosie nennt und das ist ER.
Wieso schreibt er mir ausgerechnet jetzt? Was will er von mir? Von mir aus kann er zur Hölle fahren und da so lange braten, bis nichts mehr als nur seine Asche übrig ist.
Heute mal etwas melodramatisch?
Heute fängt der Krieg an, das schwöre ich dir. Mir. Euch allen.
Soll ich die Nachricht jetzt ignorieren? Was erwartet er von mir? Denn ich würde das genaue Gegenteil machen. Also, WAS erwartet er von mir?
Okay, hör zu. Bleib erstmal auf dem Teppich. Es ist nichts passiert. Vielleicht solltest du erst einmal abwarten.
Damit er einfach so auftauchen kann? Garantiert nicht. Ich muss zuschlagen; jetzt oder nie.
Dann wähle das nie, denn sonst machst du, und somit ich, alles nur noch schlimmer. Der will doch nur, dass du Schiss kriegst. Ignorier ihn.
Vielleicht habe ich recht. Ich sollte es ignorieren. Vor allem sollte ich IHN ignorieren.
Aufgebracht schnappe ich mir mein Fahrrad und radle die Straßen entlang bis zu unserem Haus. Aggressiv befördere ich es an den Zaun, doch durch den Schwung kippt das dämliche Fahrrad auch noch um.
»Ooch, komm schon«, rufe ich verärgert aus, »kann man nicht mal mehr ein einfaches Fahrrad an den Zaun lehnen?« Mit großen, festen Schritten marschiere ich zum Zaun.
»Also nach einem einfachen Anlehnen, sah das aber nicht aus, kleiner Parrot«, sagt auf einmal jemand neben mir. Und richtig, dieser jemand heißt Reeve Hunter.
Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich hoch und begegne seinen belustigten Blick. »Kommentier nichts, wovon du keine Ahnung hast, Mister.«
Seine Augenbraue schießt in die Höhe und er setzt sich zur Hälfte auf den Zaun. »Deine Anrede gefällt mir«, sagt er leicht lächelnd. Gefährlich lächelnd.
»Noh, halt die Klappe, Hunter«, sage ich und stelle das Fahrrad endgültig an den Zaun. »Hast du eigentlich nichts besseres zu tun?«
»Ja, das habe ich tatsächlich«, grinst er. Mit einem geschmeidigen Schwung stößt er sich vom Zaun ab und wirft seinen Football einmal hoch und fängt ihn wieder auf. Whow, wo kommt der denn auf einmal her?
»Wie du siehst, muss ich zum Training.« Mit zwei großen Schritten ist er bei mir, streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr und küsst mich leicht auf die Wange. »Einen schönen Tag wünsche ich dir noch.«
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