Kapitel 1 - von Jasper und seiner Unordentlichkeit
Das verabscheuenswerte Hauptgebäude ragte über mir auf und ließ den Hass auf meine Eltern wieder in mir hochkommen. In der siebten Klasse wollten sie mich loswerden und schoben mich auf die andere Seite der Welt, in die schottischen Highlands, ab.
Und seitdem saß und lernte ich hier, um die Zeit bis zu meinen A-levels totzuschlagen. Weit ab von der Zivilisation in einer uralten Festung aus dem achtzehnten Jahrhundert. Hier war es immer kalt, egal ob Sommer und Winter. Und die Sonne schien nicht einmal dieselbe Strahlkraft wie in Kalifornien zu haben.
Okay, so schlimm war es dann doch nicht. Ich hatte meine Freunde und auf dem Campus gab es alles, was man als Jugendlicher benötigte. Wir hatten, wie im College, unsere Unterrichtsstunden, zu denen man aber nicht unbedingt gehen musste.
Generell war es den Lehrern ziemlich egal, was wir taten, solange wir nur Vorzeignoten schrieben und das fiel mir leicht.
Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie eine kleine Person mitn einem breiten Lächeln die Treppen vor der Eingangstür herunterlief und ich konnte ihn sogleich als meinen besten Freund Jasper entlarven. Der Franzose kam mit seinem schiefen Grinsen auf mich zu und rückte seine Brille auf der Nase noch einmal gerade. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass er seit der siebten Klasse mein Zimmernachbar und bester Freund war, denn ich wüsste nicht, was ich ohne ihn und seine Fähigkeit, mich in jeder Lebenslage aufzumuntern, getan hätte.
„Wenn das mal nicht mein Lieblingsmitbewohner ist", begrüßte er mich mit seinem deutlich französischen Akzent, welcher nach den Sommerferien immer besonders ausgeprägt war und zog mich in eine feste Umarmung. Ich erwiderte die Umarmung und spürte nun, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Schnell war der vertraute, brüderliche Moment zwischen uns vorbei und Jasper schob seine Brille ein weiteres Mal zurecht.
„Ich bin dein einziger Mitbewohner, du Idiot", neckte ich ihn in alter Gewohnheit und brachte ihn damit zum Schmunzeln. Dann fing er an, leise in sich hinein zu lachen. „Warum sollte ich mich auch sonst mit dir abgeben, du Schlaftablette."
Empört riss ich den Mund auf und boxte ihn gegen den Oberarm, woraufhin er beleidigt eine Schnute zog. Selbst Schuld, dachte ich mir, packte meinen Koffer und drückte ihm wortlos meine Sporttasche in die Hand.
Ebenfalls schweigend nahm er sie an und trottete neben mir her, die Treppen hoch und zurück ins Hauptgebäude. Innerhalb der Steinmauern, war es nicht unbedingt wärmer und die Eingangshalle war noch nie wirklich einladend gewesen. Die Decke war zu hoch um sie mit einem Blick einzufangen und die großen Steine waren dunkel und kalt. Nicht einmal verziert waren sie.
Trotzdem war ich sie gewohnt und eher ein Zuhause für mich als unser modernes Haus in Miami, wo ich geboren wurde.
„Wie waren die Sommerferien?", fragte mich Jasper nun in einem ernsteren Ton. Er wusste, dass meine eigentliche Familie bei mir ein schwieriges Thema waren, welches ich nicht gerne ansprach.
Unbewusst zuckte ich mit den Schultern und stockte, bevor ich ihm erzählte, wie meine Eltern sich gegenüber mir verhalten hatten und was ich erlebt hatte, was zugegeben nicht viel war. Obwohl meine Eltern mich nur sechs Wochen im Jahr um sich hatten, machten sie sich nicht viel daraus. Ich glaube, am meisten Gespräche hatte ich mit ihrer Haushaltshilfe Ella geführt, welche die einzige Person in dem Haushalt war, die liebevoll zu sein schien.
„Also war es so wie immer?", fragte Jasper nach und ich nickte nachdenklich, während wir die Stufen zum Jungentrakt hinauf gingen. Das war wohl das Stichwort für Jasper, mir von seinen Sommerferien zu erzählen, obwohl schwärmen es wohl eher treffen würde. Seine Augen fingen an zu leuchten und er lebte auf, als er anfing, von seinen kleinen Schwestern zu erzählen, die in den Sommerferien sechs Jahre alt geworden waren.
„Wir waren am Meer unten in Nizza und es war so schön! Natürlich wäre ich gerne auch mal wieder zu Hause gewesen, aber Nizza ist wirklich nicht zu übertreffen!", schwärmte er und verfing sich in seinen Erzählungen, gestikulierte wild und sein Akzent stach immer mehr hervor, bis er schlussendlich komplett im französischen landete, wovon ich dann nur noch Bruchstücke verstand.
Belustigt stupste ich ihn an und brachte ihn damit komplett durcheinander, sodass er fast meinen geliebten Lacrosseschläger fallen ließ.
„Du bist wieder in Schottland, Monsieur Anôuki und sprichst mit einem Nicht-Franzosen", klärte ich ihn auf und er fing an zu grinsen, was mich jetzt verwirrte.
„Was grinst du so?"
„Nach all den Jahren kannst du meinen Namen immer noch nicht richtig ausprechen", erklärte er und blickte mich nun gespielt tadelnd an. Schnaubend schüttelte ich den Kopf und riss ihm den Zimmerschlüssel aus der Hand, welchen er eben gerade aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
Bei all dem was ich ihm eben gesagt hatte, war nur das angekommen. Das war so richtig typisch für Jasper.
Unser Zimmer hatte die Nummer 201 und lag komischerweise trotzdem im ersten Stock. Mit einem Schmunzeln betrachtete ich den Schlüssel, den Jasper und ich irgendwann mal bunt gesprayt haben, da wir ihn so zu langweilig fanden. Das war in der Achten gewesen.
„Jetzt steck den Schlüssel schon rein und schau nicht so rührselig, sonst mal ich ihn wieder silber an", fauchte Jasper mich ungeduldig an und verwundert hob ich den Kopf.
„Was denn?! Mir ist kalt und deine Sachen lasten schwer auf meinen Schultern!"
„Memme", bemerkte ich belustigt, doch er riss mir den Schlüssel nur aus der Hand, steckte ihn ins Schloss und riss die Tür auf. Innerhalb von Sekunden hatte er uns beide plus Gepäck ins Zimmer gezogen, den Schlüssel wieder aus dem Schloss gezogen und die Tür hinter uns geschlossen.
Erleichtert ließ er sich auf sein Bett fallen und ließ seine Schuhe, von seinen Füßen aus, durchs Zimmer fliegen. Ich betrachtete unser kleines heimeliges Zuhause. Es war noch genauso wie letztes Jahr. Wir hatten es irgendwann persönlicher gemacht, indem wir die Wände gestrichen haben, obwohl die zwei Farben überhaupt nicht zueinander passten.
Seine war ein helles starkes Pink und an der Wand, wo mein Bett stand, war es ein dunkles Rot. Jeder der hier reinkommen würde, dachte sich wahrscheinlich, ich würde auch unter dieser Pink-Geschmacksverirrung leiden. Aber das tat ich nicht. Die Wand war nicht unter meiner Einwilligung pink gestrichen worden.
Vor allem war es extrem unordentlich und die Hemden, die Jasper jeden Tag trug, lagen auf dem Boden verstreut herum. Es waren ja eigentlich Hemden, die glatt sein mussten, aber das hatte Jas nie eingesehen und ich räumte schon immer hinter ihm her.
Aber das hier so eine Unordnung herrschte, obwohl er erst seit ... wie viel Tagen hier war? vielleicht zwei? Unfassbar. Nur seine Fliegen lagen noch in einem ordentlichen Stapel in seinem Koffer. Dazu musste man sagen, dass Jas einen ungewöhnlichen Kleidungstil für Jungs in unserem Alter hatte. Er trug jeden Tag Hemden mit Hosenträgern und Fliegen. Wirklich jeden Tag. Auch am Samstagabend, wenn wir eigentlich nur im Gemeinschaftsraum vor dem Fernsehr gammelten.
Mir war es Recht. Doch was mir nicht Recht war, war die unglaubliche Unordnung in diesem sechs Quadratmeter großen Raum.
„Kannst du bitte aufräumen Jas", brummte ich genervt und stellte meinen Koffer neben das Bett. Auspacken konnte ich später.
Dieser hob den Kopf ein kleines Stück, um mich anzuschauen und schüttelte provokant den Kopf.
Genervt ließ ich mich auf mein Bett sinken und nahm mein Kopfkissen, um ihn abzuwerfen, doch er fing es geschickt und warf es zurück.
Auch ich fing es und legte es wieder neben mich.
„Bitte Jasper", bat ich ihn in einem zögerlichen Ton und er setzte sich stöhnend auf, als wäre er siebzig Jahre alt. Ernst blickte er mich an und seufzte: „Aber auch nur, weil du es bist."
Quälend langsam und kommentiert mit den Geräuschen eines sterbenden Schwans erhob er sich, hob ein Kleidungsstück auf und blickte es eine Ewigkeit an, bevor er sich dazu entschied es in den Schrank zu legen. Wenn er in dem Tempo weitermachen wollte, würde ich gleich einen Anfall bekommen, weswegen ich mich auf die Füße schwang und ihm half einräumen. Als ich auch noch sah, dass er es komplett falsch einräumte, entriss ich ihm die Klamotten und sagte ihm er solle gefälligst seine Schulsachen ordnen, während ich seinen Schrank einräumte.
Da der Stapel der Bücher deutlich geringer war, als der der Klamotten war er nach kurzer Zeit fertig und grinste mich von seinem Bett aus frech an. Das ich auf diese dämliche Theater immer wieder rein fiel, qualifizierte mich nicht unbedingt als Aufpasser und Teamcaptain, aber da das niemand außer uns Zweien wusste und auch Jas es nie weiter erzählte, war es okay. Ich kümmerte mich um seine Unordnung und er kümmerte sich um meine seelischen Problemchen. So lief das einfach bei uns.
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