Schlag 10
Manchmal ist es das schwerste, sich die Wahrheit einzugestehen, wenn der Moment vorbei gezogen ist, in dem es noch in Ordnung gewesen wäre. Denn die Wahrheit wird nicht weniger wahr mit der Zeit. Sie wird immer nur prominenter und lauter und sie klopft an die Hintertür und will nichts lieber, als einfach rein gelassen zu werden.
Doch wenn man das Klopfen an der Hintertür schon monatelang ignoriert hat und Musik anmacht, um es nicht mehr hören zu müssen, ist es dann umso schmerzhafter, wenn besagte Musik verstummt und man wieder das Klopfen hört. Das Klopfen ist dann nicht mehr nur ein Klopfen, sondern eine Warnung, ein Zeichen und vielleicht auch ein höhnischer Hinweis. Das Klopfen wird nicht lauter, es erscheint nur lauter zu werden.
Und nach einer Weile, die man damit verbracht hat, das Klopfen zu ignorieren, gehört es dazu. Es ist weiterhin da, aber es stört einen nicht mehr. Man hört es nicht mehr.
Auch wenn es immer noch da ist, wie ein stetiger Rhythmus.
Tock, tock, tock.
Es ist genau fünf Uhr morgens, als ihm klar wird, was er in seinem Leben alles falsch gemacht hat.
Und es fühlt sich wie ein Messer an, welches sich gnadenlos durch seine Haut in sein Fleisch bohrt. Das Stechen in der Brust geht dann hinüber in die Schultern, die Arme, die Hände und schließlich zittert sein ganzer Körper von dem Schmerz.
Auch wenn er körperlich nicht wirklich da ist, ist er es doch in seinem Kopf. Und die punktartigen Stiche in seine Füße fühlt er als würden ihm gerade wirklich Nadeln in die Arterien gesteckt werden.
Es ist fünf Uhr morgens und ein Dienstag. Der Regen prasselt draußen an die Fensterscheibe und der Wind brummt um die Wände seines Zimmers.
Er liegt auf seiner voll geschwitzten Matratze, im dämmernden Licht und starrt nach oben wie er es schon so oft getan hat.
Es ist fünf Uhr morgens, dienstags und seine Bettdecke bedeckt nur die Hälfte seines Körpers. Die andere Seite liegt frei, aber zu seiner Verwunderung schwitzt er auf beiden Seiten gleichermaßen.
Er hat einen Traum gehabt. Einen Alptraum. Und auch, wenn dieser Traum nur dies war und nicht mehr, so bleibt das Gefühl weiterhin bei ihm und lässt sein Herz vor Verzweiflung und Angst schneller schlagen.
Seine Träume waren schon als Kind so realistisch, dass er an besonders düsteren Tagen das Reale kaum vom Geträumten unterscheiden konnte.
Und doch war es dieser Traum gewesen, der ihn wieder zurück in die Realität holen wollte. Gerade dieser Traum, der ihn begreifen ließ, was falsch in seinem Leben gelaufen war.
Jetzt muss er nur noch versuchen dieses merkwürdige Gefühl in Worte zu fassen.
Gerade das scheint das schwerste von allen zu sein.
Wenn man erst einmal verstanden hat und es dann anderen erklären muss.
Seine Augen, die vorher weit aufgerissen an die Decke und auf die dort befindlichen Schatten gestarrt hatten, schließen sich nun langsam wieder. Es ist fünf Uhr morgens. Noch viel zu früh für ihn.
Doch auch der nächste Traum, der ihn wie eine Herde Pferde überrennt, als er wieder schläft, meint es nicht gut mit ihm und so pellt er sich um kurz vor sechs Uhr aus dem Bett, zieht sich die Pantoffeln über und einen Bademantel an, den er sich in seinem letzten Urlaub gekauft hatte.
Dann geht er leise die Treppe hinunter und rutscht auf der letzten Stufe aus. Er kann sich am Geländer festhalten, aber der Schock sorgt dafür, dass er nun hellwach ist und den Kaffee eigentlich nicht mehr braucht.
Trotzdem geht er dann mit klopfendem Herzen in die Küche und bereitet sich einen zu.
Der Stoff des Bademantels schützt ihn vor der Kälte, die draußen immer noch so präsent ist, obwohl der Winter in den Frühling übergeht. Es zieht, obwohl nirgendwo ein Fenster offen steht.
Aber vielleicht bildet er es sich einfach nur ein.
Als die Kanne summt, nimmt er sie vom Gestell und schenkt sich die heiße, braune Brühe in eine der Tassen ein, die er schon seit seinem Einzug in das Haus hat.
In das viel zu große Haus.
Er gibt ein Schuss Milch hinzu und setzt sich dann an die Kochinsel, um sich dort sein Tablet zu nehmen und sich zu beschäftigen.
In seinem Rachen ist immer noch ein Klos. Und er wird auch nicht kleiner, als er die entsetzlichen Nachrichten des heutigen Tages liest.
Katastrophen, Schießereien, Hass und Gewalt.
Man könnte meinen, die Welt bestehe nur aus Monstern.
Und vielleicht tut sie das auch.
Er schließt die Seite und legt das Tablet zurück auf die Oberfläche, um seinen Kaffee zu schlürfen.
Langsam. Genüsslich.
Vielleicht sollte er immer so früh aufstehen. Vielleicht ist er dann bei der Arbeit wacher und glücklicher.
Vielleicht ist das der Weg zur Zufriedenheit.
Er schüttelt den Kopf, als würde er gerade nicht mit sich selbst, sondern mit einem Gegenüber sprechen, der auf der anderen Seite des Tisches sitzt und ihn erwartungsvoll ansieht.
Nein, seine Zufriedenheit liegt sicherlich nicht im frühen Aufstehen.
Und wahrscheinlich wird es so etwas für ihn nie geben. Denn er ist einfach nur ein Haufen...
Er hört oben eine Tür quietschen. Die Badezimmertür. Er weiß, dass das die einzige Tür ist, die quietscht.
Er nimmt einen weiteren Schluck und wartet ab. Er schaut nur auf den Eingang, der zur Küche und zum offenen Wohnzimmer führt und tut nichts anderes.
Nach einer Klospülung und dem erneuten Öffnen der Tür, gehen Schritte über den Flur und poltern dann schnell und ungestüm die Treppe hinunter.
Die Schritte näheren sich der Küche, bis er dann im Türrahmen steht.
„Was um Himmels Willen machst du hier?"
„Ich trinke Kaffee."
Matthew seufzt. Etwas verwirrt und übermüdet. Denn das scheint er trotz seines schnellen Weges nach unten noch zu sein.
„Ich konnte nicht mehr schlafen", erklärt William dann und nimmt die letzten drei Schlucke auf einmal, bevor er die Tasse auf den Tisch stellt und ein theatralisches „Ah!" von sich gibt, als sei es der beste Kaffee gewesen, den er je getrunken hat.
„Ich dachte schon, du wurdest geklaut." Matthew schlurft barfuß zum Tisch und setzt sich auf den Stuhl, auf dem er immer sitzt. Er reibt sich den Schlaf aus den Augen und fährt durch seine Haare.
„Wer würde mich klauen wollen? Würde ich einbrechen, würde ich eher dich klauen. Willst du auch einen Kaffee?"
„Ja, du Junkie. Ist doch klar, dass du dich selbst nicht klauen würdest. Das wäre dann ja auch ein Paradox, man kann sich nicht selbst klauen."
„Nein, wenn ich jemand anderes wäre, dann würde ich dich klauen."
William stellt die Tasse vor Matthew und lächelt ihn an.
Matthew bedankt sich leise und nimmt die warme Tasse an seine Lippen, um mit den warmen Dämpfen des gut riechenden Kaffees sein Gesicht zu wärmen. Es funktioniert.
„Du bist barfuß", stellt William fest.
„Jap", antwortet Matthew.
„Ich kann mich sehr gut an den Tag erinnern, an dem ich dir Pantoffeln gekauft habe."
Matthew schürzt die Lippen, als würde er schwer überlegen, nach Erinnerungen, tief in seinen Gehirnwindungen suchen. „Und ich kann mich an den Tag erinnern, an dem du mir Pantoffeln gekauft und ich sie die Treppe herunter geschmissen habe, weil ich so etwas nicht brauche."
„Jeder braucht Pantoffeln. Sie verhindern, dass du dich erkältest", besteht William auf seinen Standpunkt.
„Dein Fußboden hat mich aber noch nie angeniest oder angehustet, also halte ich ihn für ziemlich gesund", grinst Matthew und überschlägt unter dem Tisch die Beine. Seine Füße mögen vielleicht kalt sein, aber das heißt noch lange nicht, dass er jetzt aufgibt.
William hat seine Augen auf ihn fixiert und es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, die er Matthew gegenüber steht und ihn einfach nur ansieht. Sein Blick sagt so viel wie: Hör auf mich zu verarschen und zieh deine Hausschuhe an.
Matthew bleibt stark. Er starrt nur zurück und versucht dabei noch zu grinsen.
Was halbwegs gelingt.
William löst das Starren dann auf, indem er seine Augen von Matthew löst und halb um die Kochinsel herum geht. Eine Hand ist immer noch auf der Oberfläche des Tisches und die andere ist in der Tasche seines Bademantels.
Dann bleibt er vor Matthew stehen.
Sein Gesicht kommt näher an Matthews als dieser es erwartet hätte. Er spürt Williams Atem auf seiner Haut.
„Hör auf mit dem Quatsch." Der Ton lässt keinen Platz für Interpretationen. Es ist glasklar, was William damit sagen will.
„Welcher Quatsch?", versucht Matthew sich dumm zu stellen, aber er ist immer noch so hin und weg von Williams Nähe, dass er es fast schon stottert. Direkt in Williams Gesicht stottert, wo dieser es wie ein angenehmes Parfüm aufnimmt und genüsslich die Augen schließt.
„Matthew", raunt er warnend.
Es ist schwer bei diesem Ton und diesem Anblick die Fassung zu bewahren. Wirklich mehr als schwer.
Also schluckt Matthew nur und schaut zur Seite.
„Du gehst jetzt hoch", beginnt William. „Und dann ziehst du dir etwas über deine Füße. Nicht weil der Boden niest, nicht weil du dich sonst erkältest, sondern weil ich das sage."
In diesem Moment weiß Matthew nicht genau was er tun soll, denn die Hälfte seines Körpers ist in Aufbruchstimmung, aber die andere weigert sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
Denn: Jetzt erst recht.
„Und was wenn ich einfach hier sitzen bleibe und die Füße in der Luft baumeln lasse? Dann sind sie nicht auf dem kalten Boden."
„Ich schwöre", zischt William. „Wenn ich muss, schmeiße ich dich über meine Schulter und trage dich höchstpersönlich zu deiner Sockenschublade."
„Immerhin würde ich so nicht den Boden berühren. Du kannst mich auch den ganzen Tag tragen."
Nach diesem Satz, der für William wohl der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt, kommt er noch ein Stück näher an Matthews Gesicht heran. „Steh auf, Matthew."
„Nein."
„Steh jetzt auf."
„Nö." Matthew schüttelt mit dem Kopf.
Er kneift die Augen zusammen und wartet auf die Konsequenz.
Aber als er die Augen wieder öffnet, hat William den Rücken zu ihm gedreht und ist gerade dabei, den Raum zu verlassen.
Matthew hält den Atem an und lässt seine Arme vor lauter Schock verschränkt.
Er sitzt nur da und hört Williams Schritte, die die Treppe nach oben gehen.
Es dauert vielleicht eine oder auch zwei Minuten, da hört er die Schritte wieder, diesmal kommen sie nach unten. In seine Richtung.
Matthew schließt die Augen wieder und presst diesmal auch die Lippen aufeinander.
Dann fühlt er etwas Weiches an seinem linken Fuß.
Er öffnet die Augen wieder.
William kniet vor ihm, wie ein Diener vielleicht vor einem König kniet und ist konzentriert dabei, die Socken über Matthews Füße zu ziehen, als würden sie zerbrechen, wenn er sie nicht sanft genug zieht.
Und Matthew sitzt auf seinem Stuhl wie ein König und lässt es sich gefallen.
William schweigt und sieht ihn nicht an.
Ein warmer Schauer fährt durch seinen Körper und macht an keinem Körperteil Halt. Er reicht bis zu seinen Haarspitzen, seine Kopfhaut bekommt Gänsehaut, als William sich wieder hinstellt, seinen Bademantel zurecht rückt und Matthew ansieht.
„Zufrieden?"
Matthew kann nur nicken.
William geht wieder herum um die Kochinsel und holt Matthews Müsli aus dem Schrank, danach die Milch. Während er das Frühstück zubereitet, starrt Matthew ihn einfach nur an.
William lächelt ihn an. Nicht mit irgendeinem Hintergedanken. Er sieht ihn nur einfach an.
„Bitte sei wieder mein Dom", flüstert Matthew, ohne vorher über die Worte nachzudenken, bevor er sie sagt.
Williams Gesichtsausdruck verändert sich in pure Überraschung.
Dann nickt er.
Beim Frühstück sprechen sie kein Wort. Sie schauen sich nur ab und zu an.
Okay, was sagt ihr zum Kapitel?
You ready for some sexy times?
Jasper
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