Kapitel Vier - Der Lügenbaron
Als er noch ein Kind war, hatte Joschka die Dunkelheit gehasst. Die Schwärze um ihn herum bedeutete Unsicherheit; nicht sehen zu können, was um ihn herum geschah, machte ihn nervös. Bence, sein älterer Bruder, hatte irgendwann begonnen, ihm Geschichten zu erzählen. Meistens Märchen, die er irgendwo einmal aufgeschnappt hatte.
Eine war Joschka im Gedächtnis geblieben, obgleich er sie nicht mehr vollständig zusammenkriegte. Sie handelte von einem Edelmann, der im Winter mit seiner Stute nach Wien ritt. Die meisten von Bences Geschichten spielten in Wien, eines Tages wolle er dort hin ziehen, hatte er gesagt. Das wollte der Edelmann aus der Erzählung auch, nur waren die Straßen so hoch mit Schnee bedeckt und der Himmel so nebelig, dass er bald nicht mehr weiter kam.
Da band er seine Stute an einen Pfahl und legte sich auf den Boden zur Ruh. Als er am nächsten Morgen aufwachte, lag er selbst auf einem Kirchhof und die Stute hing an der Spitze des Glockenturms. Der Pfahl stellte sich als ein Wetterhahn heraus und der Schnee als so hoch, dass er das Dorf unter sich begraben hatte. Am Ende musste er das Halfter des Pferdes abschießen, um es wieder herunterzuholen.
Mit acht hatte Joschka die Geschichte jedes Mal lustig gefunden. Und sie hatte ihn dazu gebracht, auch das Schießen lernen zu wollen. Nur für alle Fälle. Man konnte schließlich nie wissen, wann man einmal durch den Schnee ritt, nur um am nächsten Morgen zu seinem Pferd auf einem fremden Dach zu erwachen.
Das war nun dreizehn Jahre her und von dem Kind, das jede Nacht für Stunden wachlag, aus Angst vor den Kreaturen, die um Mitternacht hervorkriechen könnten, war nicht mehr viel übrig. Heutzutage schätzte Joschka die Dunkelheit, er war sich sogar sicher, dass er den Mond jederzeit der Sonne vorziehen würde.
Und trotzdem war er wach. Es hatte elf geschlagen, während er mit verschränkten Armen zurückgelehnt an seinem Schreibtisch saß und aus dem Fenster starrte. Vor ihm stand ein Tintenglass, darin eine alte Feder. Ihm war, als würden sie nach ihm rufen. Vielleicht waren es aber auch die unsterbliche Seele von Herrn Preuß, dessen Tod er morgen feststellen würde.
Joschka schnaubte. Vielleicht hätte er die Komplikationen im Fall des jungen Mannes früher feststellen können, wenn man ihn von Anfang an mit dem Fall betraut hätte. Anstelle von Mannheim, dem alten Scharlatan. Der Mittfünfziger war alles, was man sich in der Stadt herablassend über Dorfärzte erzählte. Ach, was dachte er da - dieses ganze, gottverlassene Dorf war alles, was man sich in der Stadt herablassend über Dörfer erzählte. Diese Idiotie. Diese Gutgläubigkeit.
Mit einem Ruck stand Joschka auf, so abrupt, dass der Stuhl über die alten Dielen quietschte. Der mahnende Blick seiner Feder - oder Preuß' unsterbliche Seele, die ihn laut Schwester Hildegard irgendwann für seine angeblich heidnischen Praktiken heimsuchen würde - hatten gewonnen. Er würde noch einmal vor die Tür müssen.
Seinen Mantel hatte er gar nicht erst ausgezogen, seine Schuhe ebensowenig, weswegen es keine Minute dauerte, bis er die schmale Holztreppe hinuntergestiegen war und im Hausflur stand.
,,Herrgott, das ist ja duster hier", seufzte eine weibliche Stimme aus der Dunkelheit. Kurz darauf flackerte es kurz und eine Laterne erhellte den Raum. Martha, eine ältere Dame mit roten Locken, die bereits weitestgehend ergraut waren, blickte sich überrascht um. ,,Herr Gerber, machen Sie doch das Licht an, wenn sie hier herumlaufen." Sie lachte, wobei kleine Falten um ihre Augen tanzten. ,,Nicht, dass Sie sich noch stoßen."
,,Alles gut", murmelte Joschka. Seinen Sinn für jegliche Interaktionen hatte er in dem Moment abgelegt, in dem er mit zwölf-Stunden-Schichten im Lazarett begonnen hatte. Und dabei waren die Überstunden, die er machte, um so viele von Mannheims Patienten, wie ihm eben möglich war, auch noch zu untersuchen, noch nicht mit einberechnet.
,,Na, Heinrich wollte eigentlich längst schon neue Schwefelhölzer besorgen. Bald sind sie alle aus und dann kann ich wieder sehen, wie ich zurecht komme, wenn er in der Kutsche ist." Sie schüttelte tadelnd den Kopf. ,,Wo wollen Sie denn noch um diese Uhrzeit hin?"
,,Einkaufen", antwortete er knapp und versuchte, an ihr vorbeizugehen.
,,Das ist ja wunderbar. Könnten Sie dann Eier mitbringen? Falls der Krämer noch geöffnet hat, selbstverständlich. Du sollst ja nicht einbrechen." Sie lachte über ihren eigenen Witz. ,,Ich geb Ihnen eben ein paar Mark für die Eier, warte kurz."
,,Nicht nötig. Ich wollte eigentlich nur Papier-" Doch es war schon zu spät, Martha war bereits in der Küche verschwunden und kam mit ihrer Brieftasche zurück. ,,So, hier. Das sollte reichen."
,,Das liegt nicht auf meinem Weg", unternahm Joschka einen letzten, verzweifelten Versuch. Martha sah ihn überrascht an.
,,Zur Papeterie wollen Sie?"
Joschka nickte.
Martha lächelte mit einer Mischung aus Herzlichkeit und Verwunderung.
,,Aber Herr Gerber, das liegt doch ganz wunderbar auf Ihrem Weg. Ja, der Kurt, bei dem ich immer meine Eier kaufe, hat seinen Laden direkt daneben." Gespielt rügend hob sie den Zeigefinger. ,,Haben Sie denn noch nie Eier hier gekauft? Nicht beim Kurt?"
Joschka unterdrückte einen Seufzer. Nein. Keine Eier, nicht beim Kurt. Er hatte Wichtigeres zutun.
,,Gut." Er nahm die Mark und steckte sie in die Manteltasche. ,,Ich hoffe, Sie brauchen die nicht heute."
,,Nein nein", versicherte Martha fröhlich. ,,Morgen ist mehr als genug. Bis Erntedank ist es ja noch ein bisschen. Ich wäre sonst die Woche über bei Gelegenheit einkaufen gegangen, aber wenn du sowieso gehst, wäre das ja nur praktisch. Ich muss mich nur noch entscheiden, ob ich einen Pflaumenkuchen oder einen Apfelkuchen backe. Normalerweise macht die Apfelkuchen immer Ruth, aber dieses Jahr tragen unsere Bäume so viele gute Äpfel."
Joschka nickte unbeteiligt. Ob die Äpfel nun gut oder schlecht aussahen, konnte ihm nicht egaler sein, und er wusste nicht, wie Martha das nach fast einem halben Jahr immer noch nicht bemerkt haben konnte.
,,Ich geh jetzt, sonst hat die Papeterie wirklich zu", hakte er schnell dazwischen, bevor seine Vermieterin ihm noch eine detailliertere Abhandlung über Ruth und ihren Apfelkuchen geben konnte.
,,Ach ja, natürlich! Passen Sie gut auf, es ist ja schon so finster draußen!"
So warm es tagsüber war, umso frischer war die Nacht. Harter Wind peitschte Joschka entgegen, als er die ländliche Wohngegend verließ und sich auf den Weg in die nahegelegene Stadt machte. Über ihm erstreckte sich der Himmel, schwarz wie die Tinte in seinem Zimmer, und ebenso schwarze Wolken, die vom Wind gejagt wurden.
Er zog den Mantel enger, seinen Hut tiefer ins Gesicht. Die Straßen von Naumburg waren menschenleer, hier, in der Einöde zwischen Stadt und Land. Wenn man hier jemanden umbrächte, schoss es ihm durch den Kopf, hätte man dabei alle Zeit der Welt. Des nachts sind alle Schreie stumm.
Joschka sog die frische Luft ein, als könne er damit die düsteren Gedanken vertreiben. Er hatte es schon genug mit Morden in seinem täglichen Arbeitsleben zutun. Auch, wenn die Versuchung manchmal groß war.
Unweigerlich musste er an den Pfarrerssohn denken. Natürlich hatte es ihn nicht überrascht, dass der ganz nach seinem Vater kam. Aber dieses Selbstvertrauen. Wie felsenfest er davon überzeugt war, recht zu haben, während vor seinen Augen jemand am eigenen Blut erstickte.
Unterbewusst stieß er einen kleinen Kieselstein mit der Fußspitze an, der sofort quer über die Straße und von dort aus ins Gras sprang. Joschka hoffte, dass Staps sich nicht öfter im Lazarett herumtreiben würde. Es reichte schon, dass die Schwestern seine Nerven jeden Tag aufs Neue strapazierten.
Mittlerweile hatte er das Stadtzentrum von Naumburg erreicht. Hohe Gebäude, wie das Rathaus im Renaissancestil mit seiner hellen Außenwand, dem roten Portal und den auffälligen Fachwerk-Dachfenstern, starrten ihn aus leblosen Fenstern an. Das Denkmal irgendeines Krieges in der Mitte des Marktplatzes, daneben eine Krähe, deren Schatten durch die Nacht hüpfte. Und in einiger Entfernung der Turm des Naumberger Doms, der wie ein mahnender Finger über allem thronte.
Kurz blieb Joschka stehen und ließ die Szenerie auf sich wirken. Die Stadt hatte etwas Gespenstisches um diese Uhrzeit. Als wäre es nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr möglich, die Schrecken des Krieges hinter verschlossenen Kirchentüren vor der Bevölkerung zu verbergen.
Das Papeterie- und Verlaghaus Enke&Palm lag nur wenige Meter vom Marktplatz entfernt. An der Außenwand war ein altes Metallschild angebracht, auf dem die Namen der beiden Inhaber und ihrem Geschäft prangten. Rost hatte sich an einigen Stellen durch das Material gefressen, ansonsten musste es jedoch gerade geputzt worden sein. Es sah sauberer aus als bei Joschkas letztem Besuch vor zwei Wochen.
Drinnen brannte noch Licht, im Gegensatz zu den meisten anderen Läden. Nichts anderes hatte er erwartet. Die langen Öffnungszeiten waren der Hauptgrund, warum Joschka immer wieder ausgerechnet hier her kam.
Die Ladenglocke bimmelte, als er die quietschende Ladentür aufschob. ,,Guten Abend", sagte er, ein wenig zögerlich, als nicht dieselbe Frau wie sonst hinter dem Thresen stand.
,,Guten Abend der Herr." Ein Mann, schätzungsweise in seinen Vierzigern, mit hoher Stirn und durchdringendem Blick sah von dem schweren Buch auf seinem Tresen hoch. Auf der Nasenspitze trug er einen schmalen Zwicker mit goldenem Rand.
,,Was kann ich für Sie tun?" Er klappte das Buch zu und legte es zur Seite, hinter eine Reihe versiegelte Tintenfässer, die laut Beschilderung zehn Mark das Stück kosteten.
,,Zwei davon bitte. Und drei Dutzend Blätter." Er legte einen Schein auf den Tisch und beobachtete den Verkäufer, wie er rüber zum Papierregal ging.
,,Sie müssen der junge Herr sein, der immer so spät abends kommt." Der Mann lachte. ,,Maria hat mich schon gewarnt."
Maria. Soweit er sich erinnern konnte, kannte Joschka keine Maria, nahm aber an, dass damit die Frau gemeint war, die normalerweise hier stand.
,,Mag sein", erwiderte er. ,,Tagsüber habe ich zutun."
Palm hatte ihm den Rücken zugewandt und kramte in einem hohen Regal, das sich bis an die Decke erstreckte.
,,So so. Etwas, für das Sie regelmäßig siebzig Blätter brauchen?" Seinen Zwicker zurechtrückend steckte er die Blätter in eine Papiertasche und schrieb etwas ins Kassenbuch. ,,Fünfundzwanzig Mark wärn's dann einmal." Er hielt den Schein prüfend hoch, öffnete die Kasse und schob das Wechselgeld rüber.
,,So ungefähr, ja."
,,Sind Sie Student? Schriftsteller?" Der Mann räusperte sich. ,,Der Verlag hat ja nun einige Zeit auf Eis gelegen, aber da ich wieder im Hause bin..." Er lächelte professionell und erinnerte Joschka an Viehzüchter auf dem Wochenmarkt, die einen überreden wollten, doch noch eine ihrer Legehennen mitzunehmen.
,,Dann sind Sie Herr... Palm. Oder Enke?" Bisher hatte er angenommen, Maria sei die alleinige Inhaberin des Ladens.
,,Palm war schon richtig", lachte sein Gegenüber. ,,Johann Philipp Palm; ich teile mir den Verlag mit meinem Vetter. Nun war ich einige Zeit in Nürnberg unterwegs, aber jetzt können wir unsere Zeitschriften wieder produzieren. Wenn Sie zufällig Ahnung vom Journalismus haben-"
,,Ich bin weder Journalist noch Schriftsteller", fuhr Joschka eilig dazwischen. Maria oder nicht, was ihm an der früheren Verkäuferin gefallen hatte, war, dass sie nicht so viel redete.
,,Stattdessen?"
Er runzelte die Stirn.
,,Nun, welcher normale Mensch braucht denn eben Mal so siebzig Blätter?" Palm warf einen Blick auf das Register, in dem er vermutlich die Einkäufe seiner Kunden verzeichnet hatte. ,,Und das fast wöchentlich?"
Er war versucht, eine knappe Antwort zu geben und einfach wieder zu verschwinden. Maria hatte ihm wirklich besser gefallen. Doch irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass Palm sich mit einer unklaren Antwort nicht zufrieden geben würde.
,,Ich würde mich nicht als Schriftsteller bezeichnen, aber es ist am nächsten dran", erklärte er schließlich ausweichend.
,,Interessant", entgegnete Palm. Irgendetwas an ihm irritierte Joschka. Er kannte ihn. Das wusste er sicher, dafür hätte er seine frisch erworbene Tinte verwettet. Aber woher?
Auch im Hirn des Verlegers schien es zu rattern. Der Mann mit den hellen Locken schien über seine Brillenränder hinweg jedes Detail seines Gesichtes zu analysieren, als würde er nach einer Übereinstimmung in seinen Erinnerungen suchen. Er bildete es sich also doch nicht ein.
,,Nun, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend." Joschka tippte sich an seine Hutkrempe.
,,Ebenso." Er konnte sich nicht an sein Äußeres erinnern, zumindest dieses prägnante Kinn wäre ihm in Erinnerung geblieben. War es also der Name, den er gehört hatte?
,,Und überlegen Sie vielleicht, das nächste Mal früher zu kommen." Palm lachte kehlig.
,,Ach, eine Frage noch." Joschka tat, als ob er die Bemerkung des Verkäufers nicht gehört hätte. ,,Wissen Sie zufällig, wo ein Kurt hier Eier verkauft?"
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Eine Wolkendecke hatte den Himmel überzogen, als Joschka vor der Tür seiner Wohnung stand und mit dem Schlüssel kämpfte. Zumindest so weit, als dass der Mond zur Hälfte zu sehen war und ihm ein wenig Licht spendete, bis er endlich den richtigen Winkel gefunden hatte.
Die Packung mit den Eiern stellte er vor Marthas Haustür. Joschka hoffte, in der Nacht würde kein Fuchs auf den Geschmack eines kleinen Mitternachtsmahls kommen. Dafür war er nicht eine halbe Stunde später als geplant nach Hause gekommen.
Nicht, dass er sie aus purer Höflichkeit abgestellt hatte, um Martha nicht aufzuwecken. Es war ihm schlichtweg genug an ziellosen Gesprächen für einen Tag und noch ein Schwall an Fragen, die er beantworten und gegebenenfalls erwidern musste, würde er nicht aushalten.
Die Kirchturmuhr hatte bereits vor einiger Zeit Mitternacht geschlagen, nun ging es bald auf die ein Uhr zu, und Joschka spürte die Müdigkeit so heftig an ihm nagen, dass er das Gefühl hatte, sie würde ihn verschlingen.
Gähnend, die Papiere im Arm und das Tintenfass säuberlich in der Manteltasche verstaut, schloss er die Haustüre hinter sich und ging im Dunkeln die Treppe hoch. Von hier aus gab es nur einen Raum, ansonsten war der Flur recht bald zuende. Aber in diesen Raum wollte Joschka gerade ohnehin mehr als alles andere.
Ohne Licht öffnete er sein Schlafzimmer, navigierte irgendwie an Schreibtisch, Regal und Bett entlang, legte die gekauften Sachen ab, und zog sich eilig um, um erschöpft ins Bett zu fallen.
Weiße und schwarze Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, als er sie endlich schloss und das Gefühl hatte, im Kissen zu versinken. Wie gern er das jetzt getan hätte. Sinken, tiefer und tiefer, bis die Oberfläche außer Sichtweite und die Welt um ihn herum immer schwärzer wäre, bis keine menschliche Stimme, kein Schrei und kein Klagen der Welt mehr bis an sein Ohr kommen könnte.
Er hatte genug von dem Geruch nach Chemie und Kräutern und dem Jammern der Nonnen. Genug von Menschen, die ihm unter den Händen wegstarben und Ordensschwestern, die ihn tadelnd ansahen und darauf bestanden, dass alles nicht so gekommen wäre, wenn er nur ein Gebet mehr gesprochen hätte.
Und er hatte genug von vorlauten Priestersöhnen, die auf einmal auftauchten und irgendeinen engstirnigen Blödsinn von sich gaben, nachdem ihre eigenen Kameraden eben noch vor ihren Augen gestorben waren. Es ergab keinen Sinn. Staps ergab keinen Sinn. Aber was erwartete er auch. Bei diesem Vater. Allein von dem Gedanken angewidert verzog er das Gesicht.
Angestrengt rieb sich Joschka über die Schläfen. Nicht denken. Er wollte für eine Minute einfach nicht denken. Vielleicht genügten sechzig Sekunden ja zum einschlafen.
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