Kapitel Drei - Der Gefallene Soldat
,,Das wurde auch Zeit", brummte Doktor Gerber, als Friedrich zurückkehrte. Mehr zu sich selbst als zu Friedrich, und wenn er es nicht schon vorher bemerkt hätte, so wüsste er zumindest jetzt, dass Gerber genauso viel von ihm hielt, wie umgekehrt.
,,Wenn Sie es schneller gekonnt hätten, will ich Ihnen nicht im Weg stehen", entgegnete Friedrich trocken und ließ die Tasche vor dem Arzt fallen. Der zog nur die Brauen hoch, ging aber nicht weiter darauf ein.
,,So Herr Krüger, das wird jetzt wehtun."
,,Was meinst d- ah verdammt!" Herr Krüger stieß eine Reihe an Flüchen aus, als Gerber das Knie mit einem Handgriff wieder einrenkte, bevor er es mit Bandagen stabilisierte.
,,Wenn Sie Pech haben - oder entgegen meiner Empfehlung in der nächsten Woche wieder arbeiten - kann es Ihnen passieren, dass sich die Luxation bei einer alltäglichen Bewegung wiederholt. Sollten Sie innerhalb von vierzehn Tagen noch starke Schmerzen haben, wenden Sie sich direkt ans Krankenhaus." Er schrieb etwas in ein Notizbuch, dass er samt der Bandagen aus seiner Tasche geholt hatte, riss die Seite aus und gab sie Herrn Krüger.
,,Sie haben Krankenhaus zweimal unterstrichen", stellte dieser sichtlich amüsiert fest. ,,Machen's wohl nicht genug Moos mit mir, wenn ich hier behandelt werde."
,,Wenn Sie unbedingt hier behandelt werden wollen", entgegnete Doktor Gerber, ,,melden Sie sich bei der Musterung. Im Rathhaus, habe ich mir sagen lassen." Er zog eine schmale Lesebrille aus der Brusttasche seines Kittels und begutachtete den Unterschenkel des Dachdeckers. ,,Wobei ich bezweifle, dass Sie durch die Musterung kommen. Seit wann haben Sie diesen Ausschlag?"
,,Na na Junge, ich bin hergekommen, damit du mein Knie wieder einrenkst. Nicht um jeden Flecken analysiert zu haben. Dagegen gibt mir meine Ilse manchmal Kräuter. Die helfen besser als dieser Chemie-Kram, den ihr Mediziner einem immer verschreibt." Er lachte keckernd.
Doktor Gerber sah auf. Die schmale Brille ließ ihn älter wirken, doch allzu dringend schien er sie nicht zu brauchen, denn er klappte sie wieder zusammen und steckte sie zurück in die Tasche.
,,Hören Sie, mit so etwas ist nicht zu spaßen. Aktuell bringt Ihnen Ihr Bein noch eine Woche Arbeitsausfall ein. Wenn Sie solche Anzeichen ignorieren, steigen Sie vielleicht nie wieder auf ein Dach."
,,Unsinn", schnaubte Herr Krüger. ,,Ich mach das schon seit guten vierzig Jahren, mich haut so schnell nichts um."
Doktor Gerber holte Luft, als ob er etwas sagen wolle, rieb sich dann aber nur über die Schläfe. ,,Ich hoffe für Sie, dass Sie nicht gerade auf der Arbeit sind, sollte es sich um das handeln, was ich denke." Er nahm seine Tasche und wandte sich zum Gehen. ,,Nein, eigentlich hoffe ich es, damit es für Ihre Kollegen eine Lehre sein wird, auf Ärzte zu hören. Aber wie Sie meinen, ich muss Ihren Körper nachher nicht vom Asphalt kratzen."
Friedrich verschluckte sich beinahe vor Überraschung über den harschen Tonfall.
,,Doktor Gerber." Ein dunkelhaariger, deutlich älterer Arzt stand mit einem Mal ein paar Schritte hinter ihnen.
Er schien seinen Kollegen mit Blicken töten zu wollen. Friedrich vermutete jedoch, dass diese immer noch Herrn Krüger gebürten.
,,Wenn Sie schon hier sind", erwiderte Gerber, ohne sich vom Fleck zu rühren, ,,können Sie sich gleich schon Mal den Ausschlag hier ansehen. Es-"
,,Auf ein Wort." Der Ältere, bei dem es sich um Doktor Mannheim handelte, deutete ihm, mitzukommen. Für einen kurzen Moment schien er im Zwiespalt mit sich selbst zu sein, ob er dem nachkommen oder auf seiner Position beharren sollte. Schließlich schien Doktor Gerber zu der Erkenntnis gekommen zu sein, dass es keinen Wert hatte, seufzte und folgte ihm.
,,Sie können gehen", sagte er über die Schulter an Herrn Krüger gerichtet und ließ ihn und Friedrich zurück.
Die nächsten Stunden verbrachte Friedrich hauptsächlich damit, Hildegard bei Verbandswechseln und dem Aufräumen der Sakristei zu helfen - wobei ihm Letzteres deutlich lieber war. Diese Art von Arbeit war ihm vertraut, er hatte es nicht mit Menschen zutun, die morgen vielleicht nicht mehr leben würden. Und für ein paar Minuten konnte er sich einbilden, das alles beim Alten war.
Die Sakristei war ein schmaler Raum mit großem Schrank, einer Kommode und einem Schreibtisch, auf dem ein Bild Martin Luthers auf der linken und eines der Kreuzigung Jesu auf der rechten Seite stand. Dazwischen hatte Friedrich einen Kerzenständer abgestellt, der ihm ein wenig Licht spendete, während er die wichtigsten Dinge in eine Kiste packte. Am nächsten Morgen würde er sie nach Goseck bringen, in deren Kirche in nächster Zeit die Naumburger Gottesdienste stattfinden würden.
Gerade, als er den Deckel der zweiten Kiste befestigt hatte, kam Hildegard zur Tür herein.
,,Ich denke, du kannst jetzt gehen", sagte sie. Das Kerzenlicht warf harte Schatten auf ihr Gesicht, sodass das rechte blaue Auge fast in vollkommener Dunkelheit lag, während das andere im Licht blitzte. ,,Du sollst ja nicht im Dunklen nach Hause."
Friedrich sah aus dem kleinen Fenster über dem Schreibtisch. Auch im Glas spiegelten sich die vier Altarkerzen. Von Draußen war kaum etwas zu erkennen.
,,Ich bin gerade fertig geworden", erklärte er und hob die beiden Kisten auf die Kommode. Auf dem Boden nahmen sie nur Platz weg.
,,Vielen Dank", sagte Hildegard folgte ihm aus der Tür. ,,Grüß deine Brüder schön von mir. Georg sehe ich ja morgen schon wieder im Unterricht."
Friedrich nickte. ,,Ich komme morgen um elf um die Sachen nach Goseck zu bringen."
,,Gut. Hab einen gesegneten Heimweg." Mit einem der Schlüssel des Schlüsselbundes, der an ihrem Gürtel hing, schloss Hildegard die Sakristei ab. Ein paar der Türen, die dieser Schlüsselbund öffnen konnte, waren Friedrich bekannt. Eine gehörte zum Schulhaus, in dem sie unterrichtete. Ein anderer zum Pfarrheim und zur Kirche. Wahrscheinlich gab es noch welche für das Wohnheim der Nonnen und das Kloster, und was auch immer sich darin noch für Räume befanden.
Friedrich hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Seine Augen brannten von Schlafmangel und stickiger Kirchenluft. Doch der Wunsch ins Bett zu fallen und zu schlafen und eine Minute lang nicht über die vielen gefallenen Seelen nachdenken zu müssen, musste warten. Denn noch größer war die Hoffnung, daheim sogleich den Geruch nach Blut und Tod abwaschen zu können. Natürlich war der hier nicht vermeidbar gewesen und würde sich draußen wahrscheinlich schnell wieder verflüchtigen. Trotzdem war er da, Friedrich spürte ihn wie unter die Haut gebrannt.
War er vor ein paar Stunden noch durch den Mittelgang auf der linken Seite gekommen, verließ er die Kirche nun durch den rechten Gang, nahe an der Fensterseite. Während Friedrich Hildegard geholfen hatte, war er hauptsächlich beim Altarraum und links gewesen, sodass es ihn umso mehr überraschte, als er nun Hans sah.
Hans war nicht auffällig gewesen. Hier, in denselben Feldbetten, immer und immer wieder aneinandergereiht, mit immer und immer den selben Überresten der Soldaten darin, war niemand auffällig. Doch seines stand nahe der Tür, beinahe unmittelbar unter einer Statue der Jungfrau Maria, und aus irgendeinem Grund hatte Friedrich es sich angewöhnt, beim Verlassen der Kirche immer zu der Figur hochzuschauen.
,,Hans? Was ist passiert?"
Für einen Moment wirkte der hochgewachsene Blonde, der noch mehr von einem Jungen als von einem Mann hatte, orientierungslos. Sein Gesicht war zerschrammt, ein blutdurchsogener Verband bedeckte das rechte Auge. Das andere erhellte sich, als die Worte zu ihm durchdrangen.
,,Ah, Friedrich!" Er hustete. Es klang schrecklich.
,,Ich dachte, du kämpfst für die Franzosen." Der Hans vor ihm hatte nur wenig mit dem zutun, der vor einem Monat begeistert losgezogen war.
,,Hab ich." Stolz machte sich in seinem Gesicht breit. ,,Ich war der beste im Regiment! Wir haben den Feind zerschlagen." Ein erneuter Hustenanfall unterbrach ihn, dieses Mal spuckte er Blut. Friedrich versuchte, den aufkommenden Würgreiz zu unterdrücken.
,,Habt ihr das?", erwiderte er langsam. Im Moment sah Hans eher aus, als ob der Feind ihn zerschlagen hätte, aber das behielt Friedrich lieber für sich. Hans hatte schon immer den unersättlichen Drang gehabt, der beste zu sein. In allem. Das war vielleicht auch der Grund, warum er einer der ersten gewesen war, der sich für die Armee gemeldet hatte.
,,Sicher."
,,Und... Was ist dann passiert?" Vorsichtig begutachtete Friedrich die vielen notdürftigen Verbände und Schienen. Hans' Miene verdunkelte sich.
,,Der Österreicher war ein Hund. Ein verdammt treffsicherer Hund." Er schüttelte langsam den Kopf und verzog augenblicklich das Gesicht. ,,Tot. Alle tot. Hab's irgendwie geschafft, keine Ahnung wie. Ich weiß nur, was mit meinen Kameraden passiert ist, weil Joseph es mir erzählt hat. Kurz bevor er dann auch weg war."
Friedrich schluckte. Joseph. Ein weiterer Junge, den er mal gekannt hatte. Nur flüchtig, nur, weil er ihm mal Brot auf dem Schulhof gestohlen und Friedrich ihn daraufhin verprügelt hatte. Aber immerhin.
,,Aber er hat auch gesagt, dass Hauptmann Tredeau stolz auf uns war." Hans klopfte sich schwach auf die Brust. ,,Seine Einheit, wir haben die Österreicher aus Wagram verjagt. Für's Vaterland. Dafür ist's mir wert." Er hustete wieder, es schüttelte ihn richtig.
,,Das sieht nicht gut aus", merkte Friedrich an. ,,Soll ich einen Arzt holen?" Hans winkte ab.
,,Unsinn. Die Schwester hat gesagt, das ist gut so."
,,Und das Blut?"
Hans lachte, wenn auch gequält. ,,Bist du jetzt unter die Mediziner gegangen?"
Friedrich dachte an Doktor Gerber. ,,Nur über meine Leiche."
,,Na bitte." Hans nickte, sich selbst beipflichtend. ,,Ich werd schon wieder."
Eine andere Option wollte Friedrich sich auch lieber nicht vorstellen. Er war nie besonders eng mit Hans befreundet gewesen. Aber er war immerhin zehn Jahre lang mit ihm zur Schule gegangen und er kannte ihn besser als so manchen anderen hier. Und, wenn er ehrlich zu sich selbst war, war seine Bewunderung ihm gegenüber durch den erfolgreichen Kriegszug nur gestiegen.
Auch, wenn er das niemals zugeben würde. Friedrich war immer schon ein wenig neidisch auf Hans gewesen.
,,Und selbst wenn", nahm dieser nun den Satz von eben wieder auf, ,,Dann bin ich beim Herrn im Himmel. Ich habe das Richtige getan."
Friedrich nickte langsam.
,,Es ist ungewohnt mit den Franzosen", gab Hans zu bedenken. Seine Stimme klang mit jedem Satz wackliger. ,,Aber Tredeau ist ein guter Mann. Streng, mit Disziplin. Du würdest ihn mögen." Trotz der abstrusen Situation musste Friedrich lachen.
,,Das Militär ist nichts für mich. Napoleon ist eben da, und das ist gut so. Aber für ihn töten..." Er zuckte mit den Schultern.
,,Du warst schon in der Schule so."
,,Wie?"
Hans verzog amüsiert die Mundwinkel. ,,So ein Feigling."
Jetzt fiel Friedrich auch wieder die Schattenseite von ihm ein. Sobald er erreicht hatte, was er wollte, pflegte er auch, dies jedem unter die Nase zu reiben.
,,Ich bin kein Feigling."
,,Wo warst du bei der Musterung? Ach stimmt ja. Du wurdest nicht genommen."
Friedrich verdrehte die Augen.
,,Aber das ist nicht so schlimm", erklärte Hans versöhnlich. ,,Für die Verteidigung des Vaterlandes braucht es echte Männer. Manche sind als Krieger geboren. Manche haben diesen unbändigen Trieb nach Gerechtigkeit und Gemeinschaft in sich. Und andere... Naja. Halt nicht."
Friedrich schluckte jeglichen Kommentar dazu hinunter. Hans' Gesundheitszustand sah nicht gut aus, da wollte er keinen Streit anfangen. Und er hatte ja Recht. Irgendwie. Das Militär war wirklich nichts für ihn, auch, wenn das nicht hieß, dass er diejenigen verurteilte, die für Napoleon und Europa in den Krieg zogen. Im Gegenteil.
,,Umso besser, dass es-" Weiter kam Hans nicht, denn ein kräftiger Hustenanfall unterbrach ihn. Er war härter als der letzte und wieder spuckte er Blut.
Sorgenvoll runzelte Friedrich die Stirn, als Hans hustend nach Luft rang. Rat der Nonnen hin oder her, er musste einen Arzt holen. Aber was, wenn es dann schon zu spät war? Konnte er Hans allein lassen?
,,Was zum Teufel tust du denn noch hier?"
Erleichterung über Doktor Gerbers plötzliches Auftauchen überschattete Friedrichs Ärger über seine Worte.
,,Er hustet, schon die ganze Zeit. Jetzt hat er eben Blut gespuckt, ich glaube, er bekommt keine Luft", schilderte Friedrich schnell die Situation. Das wäre jedoch nicht nötig gewesen, denn Doktor Gerber hatte es nun auch bemerkt und eilte um das Bett herum.
,,Traumabedingter Pneumothorax, dazu grobe Verletzung in der Schädelwand..." Gerber biss die Lippen zusammen. Sein Blick glitt in Bruchteilen einer Sekunde von der Ablage, an Friedrich entlang durch den Kirchenraum, der immer leerer geworden war.
,,Du, los, wir brauchen Salzwasser. Und feuchte Tücher."
Friedrich nickte, unfähig, etwas zu sagen.
,,Verdammte Scheiße, warum hast du das nicht gemeldet?"
Er wollte gerade protestieren, als Doktor Gerber ihm mit einer Handbewegung anwies, ruhig zu sein.
,,Ich kann die Atemnot nur versuchen zu lindern, das sieht nicht gut aus. Bei einem Pneumothorax ist sofortiges Eingreifen essentiell für den Verlauf der Behandlung. Besonders in Verbindung mit weiteren Kriegsverletzungen."
Hans reagierte nicht. Er quälte sich unter dem Husten, würgte, spuckte. Am liebsten wäre Friedrich weggegangen, er konnte und wollte das nicht mitansehen. Aber er konnte ihn nicht alleine lassen. Das könnten seine letzten Stunden sein. Er musste bei Hans bleiben.
Doktor Gerber schwieg, während er Hans in eine Position brachte, die es ihm leichter machen sollte, zu atmen. Er schwieg, während er die beschädigten Lungen mit Salzwasser zu befreien und er schwieg, während er versuchte, die Krämpfe mit feuchten Tüchern und Medizin zu lindern und er schwieg, als Hans irgendwann ruhig wurde.
,,Er war ein guter Soldat", murmelte Friedrich, als sie eine Viertelstunde später zusammen die Kirche verließen. Sein ehemaliger Klassenkamerad war soeben vor seinen Augen verstorben, doch er fühlte nichts. Friedrich war sich sicher, dass das noch kommen würde. Sobald das Adrenalin abgeebbt war und die Realisation sich ungestört ausbreiten konnte.
Doktor Gerber, der nun statt des weißen Kittels einen schwarzen Mantel trug, der ihn beinahe mit der Dunkelheit verschmelzen ließ, zuckte mit den Schultern. ,,Davon kann er sich jetzt auch nichts mehr kaufen."
Friedrich runzelte die Stirn. ,,Er hat seiner Familie große Ehre eingebracht. Natürlich tut es weh, aber... Er ist jetzt beim Vater." Er wusste selbst nicht, warum er mit Doktor Gerber darüber sprach. Vielleicht wollte er auch einfach sich selbst beruhigen.
Gerber lachte. Es war kein freudiges Lachen, dennoch, wie Friedrich fand, nicht weniger unangebracht. ,,Kommst du nicht in die Hölle, wenn du tötest?"
Friedrich schwieg. Was sollte er dazu auch sagen?
,,Oh, ich seh schon. Glaubst du, dein toller Soldat war in diesem Krieg, ohne jemandem ein Haar zu krümmen?"
,,Nein-"
,,Glaubst du, dass er nicht genauso getötet hat wie alle anderen?"
,,Es war fürs Vaterland. Österreich hat uns angegriffen."
,,War es fürs Vaterland?", fragte Doktor Gerber, ,,Oder für Frankreich?"
,,Schließt das eine das andere aus?" Friedrich sah ihn herausfordernd an. ,,Wir sind immer noch unter französischer Regierung. Natürlich ziehen wir dann auch unter französischer Flagge in den Krieg."
Sein Gegenüber schüttelte nur den Kopf. ,,So einen Mist habe ich wirklich noch nie gehört."
Da war er wieder. Der Tonfall, den Friedrich schon in der Kirche bemerkt hatte. Dieser arrogante Unterton sagte mehr über Doktor Gerber aus als seine Worte. Er hielt jeden Menschen um sich herum für dumm, und er machte keinen Hehl daraus.
,,Sie scheinen nicht viel mit ihren Mitmenschen zu reden", sagte Friedrich, die Hände in seinen Taschen verborgen zu Fäusten geballt.
,,Wenn das hier die vorherrschende Meinung ist, plane ich auch nicht, etwas daran zu ändern", erwiderte Doktor Gerber und wandte seinen Blick wieder von Friedrich ab, als sei das Gespräch hiermit für ihn beendet.
,,Ich denke, Sie tun uns allen damit einen Gefallen."
So gingen sie eine Weile still nebeneinander her, ihr Weg schien für eine schmerzlich lange Zeit derselbe zu sein. Am liebsten wäre Friedrich einfach schneller gegangen. Allein die Präsenz Doktor Gerbers neben ihm bereitete ihm Unbehagen. Zwischen ihnen lag eine Spannung in der Luft, die der eines heißen Sommertages kurz vor einem Gewitter glich.
Doch beschleunigen schien bei Gerbers schnellem Schritt nicht möglich, und zurückfallen lassen wollte Friedrich sich nicht. Er war schon spät genug dran.
Etwa fünfhundert Meter weiter hielt Friedrich die Stille nicht mehr aus.
,,Was meinen Sie damit?" Als hätte er ihn aus einer Art Trance gerissen, blieb Doktor Gerber stehen und sah Friedrich beinahe überrascht an.
,,Womit?"
,,Dass das Mist ist. Sie wollen doch wohl nicht in Frage stellen, dass es Napoleon ist, der von Frankreich aus regiert?" Doktor Gerber seufzte.
,,Du willst doch wohl nicht nicht in Frage stellen, dass wir von einem Tyrannen regiert werdet. Das ist der eigentliche Skandal hier, Staps. Nicht meine eigenen Zweifel, die ich wünschte, gegen die Existenz dieses Franzosen hegen zu können." Dabei sprach er Franzose aus, als wäre es eine schwere Beleidigung.
Wie konnte dieser einfache Stadtarzt, der kaum älter als er selbst sein konnte, glauben, über höheren Mächten zu stehen? Warum meinte er entscheiden zu können, welche Regierungsform ihm genehm war oder nicht?
,,Ich stelle das nicht infrage", erwiderte er langsam. Auch, wenn sein Herz dabei vor Wut so heftig schlug, dass er ihm seine Gedanken am liebsten entgegengeschleudert hätte. Doch dass man mit Ärger nie weit kam, wusste Friedrich selbst.
,,Die Regierungsform ist gottgegeben. Der Allmächtige setzt ein, wen er für würdig erachtet und jegliche Aktion gegen den Staat ist eine Aktion gegen Gott. Sie hören es selbst, Napoleon fährt militärische Erfolge seit seiner Ernennung. Wäre das geschehen, wenn Gott ein Problem mit ihm hätte?" Friedrich schnaubte. ,,Ich nahm an, Grundkenntnisse der Bibel wären auch in städtischen Schulen Pflicht. Haben Sie nicht studiert?"
Doktor Gerber sagte lange nichts, doch Friedrich bemerkte, wie seine Augen, die im Mondschein eisgrau wirkten, zuckten. Der laue Abendwind pfiff durch die Kronen der links und rechts den Weg säumenden Bäume, Getier huschte durch die Gräser, in der Ferne schrie ein Vogel. Doktor Gerber und Friedrich standen gegenüber voneinander und starrten sich eine Zeit lang einfach nur an. Dann wandte der Arzt sich ab.
,,Ich muss hier abbiegen", sagte er ohne einen Hauch von der Zustimmung in seiner Stimme, die Friedrich erwartet - oder zumindest erhofft - hatte. Dann ging er desselben schnellen Schrittes davon, mit dem er schon den ersten Teil des Weges bestritten hatte.
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