⏳XII - Levia⏳
Levia keuchte.
Ihr Atem bäumte sich protestierend auf, als sie sich den Ärmel gegen das Gesicht presste, um die leisen Geräusche zu ersticken. Sie zwang ihre Füße über den polierten Marmor, der die Fläche zu diversen Ladeneingängen bedeckte, stolperte, fing sich unsicher wieder.
Der erste Adrenalinstoß war verflogen und hatte sie verlassen, ohne ihr mitzuteilen, warum er diesen Weg für sie ausgewählt hatte. Es war keiner der Boulevards der großen Straßen, die von der Hauptstraße abwichen, sondern eine etwas schmalere Passage, die von teuren Restaurants gesäumt wurde. Solche Wege wie diese verbanden für gewöhnlich die breiten Querstraßen miteinander. Ein Werbehologramm vor einem der längst schon geschlossenen Lokale verriet ihr, dass sie sich noch immer auf der selben Seite der Hauptstraße befand, auf dem Durchgang zwischen der dritten und zweiten Querstraße... Nach dem anfänglichen Schock mühte sie sich ab, ihre Schachzüge nachzuvollziehen. Niemand würde sie hier vermuten, sie bewegte sich weiter und weiter von ihrer Wohnung fort. Was sollte sie näher an die Barriere ziehen?
Aber was sollte sie jetzt hier tun?
Kaum stand sie wenige Sekunden lang still, kochten die Bilder wieder in ihr auf. Blut, Blut, so viel Blut- warum? Warum eine gewaltige Lagerhalle, hunderte Meter unter Londons Oberfläche? Warum die Namen... warum Morpheus... warum Aidan? Warum ausgerechnet er? Die Verzweiflung drohte sie einen Moment lang zu übermannen, ihre Füße zitterten unsicher, wandten sich um, aber-
Die Scurios.
Sie unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. Natürlich... jedes bessere Modell verfügte über diverse Linsen. Es wäre ein außerordentlicher Zufall, würde ausgerechnet der reiche Konzern Morpheus keine Wärmebildkameras einsetzen. Und damit würden sie sie problemlos aufspüren können, schneller, als sie erwarten konnte... Sie musste handeln, sofort, musste klüger sein, zumindest für den Moment-
Bleib stehen. Dann bleib einfach stehen. Sie wimmerte leise, als die Stimme in ihrem Kopf ertönte. Warum solltest du weglaufen? Sie haben dir nichts angetan. Sie verfügen über eine Blutbank, ja, aber sie muss legal sein, sonst könnte sie niemals über derartige Ausmaße verfügen... er konnte nichts von deiner Hämatophobie wissen. Aidan hat dir nichts getan.
Noch während in ihrem Kopf die Worte brannten- so süß, so schön- hatte ihr Verstand die Kontrolle über ihren Körper erlangt und steuerte ihn weiter, weiter in Richtung der Barriere. Unbewusst war sie in den Laufschritt verfallen, duckte sich in die Schatten, wechselte pfeilschnell auf die gegenüberliegende Seite der zweiten Straße.
Bleib stehen, drängte die Stimme, bleib stehen... du hast ohnehin keine Chance. Nicht gegen die Technik.
Die Technik. Die Technik... fieberhaft wühlte sie in ihrem Kopf nach einem rettenden Ausweg, während sie die Passage entlanghetzte. Durch den feinen Regenschleier schimmerte in nicht abschätzbarer Entfernung bereits ein warmes Licht wie aus geschmolzenem Gold. Die Barriere.
Atemlos drückte sich Levia gegen die nächste Hauswand. Die Feuchtigkeit drang bereits unter ihre erste Kleidungsschicht, als die nächste Erkenntnis durch ihren Kopf pulsierte- die Kleidung. Aidan hatte sie ihr gegeben. Verwanzt, möglicherweise... oder schlimmer... entsetzt presste sie sich den Handrücken gegen ihre Lippen, um einen leisen Schreckenslaut zu unterdrücken. Sie hatte viel gesehen, vieles geschrieben, doch nichts hätte sie auf diesen Schockmoment vorbereiten können.
Vieles... geschrieben... ihre Erinnerungen arbeiteten auf Hochtouren, suchten gelassen nach zusätzlichen Informationen, die sie damals verwertet hatte, während sie die zitternden Arme um ihren bereits unterkühlten Oberkörper schlang und mit ängstlich geweiteten Augen in die dämmrige Düsternis zurückspähte, aus der sie hervorgebrochen war. Unkontrolliert trat sie einen Schritt zurück, weg, weit weg von Morpheus... von Aidan.
Ein einziger Gedanke hielt sich im Mittelpunkt des Geschehens. Sie... sie hatte einmal einen Artikel zu einem Häftling geschrieben, der zwei Menschen umgebracht hatte, indem er einen Virus in ihre Schrittmacher geschleust und dabei gleichzeitig einen Scurio außer Gefecht gesetzt hatte... es... wäre einfach gewesen, zu einfach, hatte er gesagt...
Fieberhaft schloss Levia die Augen und tippte sich gegen die Schläfen, um ihre Konzentration zu steigern. In dem Artikel hatte sie keine Details nennen dürfen, doch einige brisante Informationen lagerten bis heute in einer Schublade ihres Büros... sie konnte sie sogar vor sich sehen, unschuldige weiße Blätter, bedeckt von ihrer mikroskopisch kleinen Schrift. Damals hatte ihr niemand erlauben wollen, solche Notizen digital zu speichern, aber sie waren in der Redaktion, hundertprozentig-
Wenn sie sich nur daran erinnern könnte...
Plötzlich klang jedes Geräusch wie das Klacken von Schuhabsätzen, jeder Regentropfen, der am Boden zerplatzte, wie ein elektrisches Summen. Levia wimmerte verzweifelt. Es gab keine Möglichkeit, zu ihrem Büro zu kommen, nicht bevor die Scurios sie eingeholt hatten, gehetzt bis zur Unkenntlichkeit-
Damien.
Damien. Damien- sie kannte ihn... er würde nach der SciGala sofort seinen Artikel verfasst, die Bilder geordnet, eine mehrseitige Kolumne erstellt und eine Rezension für das Inhaltsverzeichnis geschrieben haben. Unverzüglich. Er lieferte sofort, sobald er Blut geleckt hatte, wahrscheinlich druckte er inzwischen, unterstützt von einem sicherlich komplett überforderten Stephen Launch, schon ein Extrablatt, das bereits an diesem Tag erscheinen würde.
Damien war in der Redaktion. Er muss da sein. Er muss einfach...
Mit fliegenden Fingern rief sie ihr Hologramm auf und suchte nach seinem Namen...
Damien Cafarel. Sie erinnerte sich noch zu gut an den Tag, als sie seinen Kontaktnamen geändert hatte.
Er nahm den Anruf nach wenigen Sekunden ab und erweiterte ihn auf Video Call.
"Hey, Lev."
Seine Augen schimmerten glasig, teils wahrscheinlich vom Alkohol- er vertrug nicht sonderlich viel davon, und an diesem Abend hatte er zahllose Sektgläser kippen müssen-, teils von der Übermüdung. Die Krawatte um seinen Hals und das Jackett war er losgeworden, die Hemdärmel waren unordentlich hochgekrempelt. Im Hintergrund sirrten die Druckermaschinen. Der Daily Pass besaß nur fünf Stück- außer exklusiven Hochglanzberichten wurde alles digital veröffentlicht- doch Damien schien ihnen alles abzuverlangen. Wäre ihre Situation eine andere gewesen, hätte Levia über den konfusen Gesichtsausdruck von Stephen Launch gelacht. Der Kameramann war im Hintergrund mit der Aufgabe betraut worden, die Magazine in Kartons zu packen, und mit der einfachsten Stapeltechnik völlig überfordert.
"Damien... ich brauche deine Hilfe."
"Mach mal langsam, okay? Ich bin hochbeschäftigt."
Er lallte nicht, doch seine Zunge schien größere Mühe mit dem Formen von Worten zu haben als sonst.
"Damien, du musst in mein Büro, sofort-"
"Unser Büro", korrigierte er stoisch und forderte Launch mit einer Handbewegung zur Beeilung an.
"-und in meinem Schreibtisch-"
"Es ist unser Büro."
"In der zweiten Schublade-"
"Lev- unser Büro."
"Ja, verdammt!", fauchte sie mit gedämpfter Stimme und fuhr sich durch die Haare. An den Fingern blieben Wasserperlen haften.
"Sag es." Ein spöttisches Grinsen schlich sich in sein Gesicht. Himmel, er war noch unausstehlicher als sonst, wenn er getrunken hatte.
"Damien, geh doch bitte in unser Büro-" Sie hielt einem Moment inne und beobachtete seine zufriedene Reaktion, bevor sie fortfuhr. "In der zweiten Schublade meines Schreibtisches liegen Notizen von mir."
"Ach, die Papierhölle", seufzte er resigniert und fuhr sich mit der Hand durch sein ohnehin schon zerwühltes Haar.
Hektisch blickte sich Levia um. Noch schien das leicht bläuliche Licht, das das Hologramm verströmte, bis auf das goldene Leuchten der Barriere das einzige Zeichen von Leben zu sein. Sanfte Regentropfen benetzen den Boden mit ihren nassen Fingern.
"Ich brauche deine Hilfe. Bitte, ich- könntest du dich vielleicht ein klein wenig beeilen?"
"Ich sagte doch, dass ich beschäftigt bin..." Er warf einen gelangweilten Blick in den Druckereiraum.
Levia schloss resigniert die Augen. Ein gutes hatte die Situation- er konnte nicht so schwer zu beeinflussen sein wie sonst. "Ich... brauche dich."
Augenblicke, und sie hatte seine volle Aufmerksamkeit. "Hast du das gerade gesagt, Lev?", fragte er ungläubig nach. "Steht es wirklich so schlimm?"
Sie beschränkte sich auf ein kleines Nicken und einen gehetzten Gesichtsausdruck, der sich wie von selbst über ihre Züge legte. Levia wusste, dass es jetzt nicht mehr in ihrer Hand lag, als sie in seine Augen sah... oh bitte, bitte, bitte-
"Okay", erwiderte er knapp, und sie stieß vor Erleichterung geräuschvoll die Luft aus.
Seine Schritte waren etwas unsicher, doch er eilte trotzdem in die Richtung des Büros, ohne weiter zu zögern. Damien drückte die Tür auf und aktivierte die Beleuchtung.
Grelles Licht flutete den Raum, als er mit langen Schritten vor ihren Schreibtisch trat. Als er stehenblieb, wankte er einen Moment lang wie ein Baum im Sturm.
"In der zweiten Schublade", wiederholte Levia mit einem leicht hektischen Unterton. Ihr wurde klar, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Sofort verschloss sich Damiens Blick wieder eine Spur, er hob genervt die Hände. "Ich mache hier etwas für dich, vergiss das nicht, Lev."
Sie hob beruhigend die Hände und zwang sich zu einem Lächeln. "Ich weiß... es tut mir leid."
Er grummelte leise vor sich hin und öffnete die Schublade mit unverhohlenem Widerwillen. Vier reinweiße Stapel aus dickem, karierten Papier starrten ihm entgegen, jeder Bogen bedeckt von jener winzig kleinen, leicht ungeordneten Schrift, die Levia als ihre eigene erkannte.
"Und... jetzt?" Auch in seine Stimme hatte sich ein verzweifelter Unterton geschlichen, wenn auch offensichtlich aus einem anderen Grund.
"Da muss ein Zettel sein. Keine Überschrift. Der... erste Absatz ist aus irgendeinem Buch abgeschrieben, die wirklich relevanten Informationen kommen erst danach."
"Was steht in dem Buchauszug?"
Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. "Keine... Ahnung", gab sie stockend zu.
Damien runzelte die Stirn. "Aus welchem Buch?"
Sie hielt seinem Blick statt. "Der Titel beginnt mit einem Adjektiv", erklärte sie fest. "Den Rest habe ich vergessen."
Damien starrte sie an, einen Moment lang, der zu einer Ewigkeit anwuchs.
Damn holte er tief Luft und hob besänftigend die Hände.
"Tust du das, um dich wichtig zu machen? Dann sag es doch einfach."
Levia schnappte nach Luft, kaum in der Lage, ihre Wut zu unterdrücken. Einmal, einmal brauchte sie einen winzigen Gefallen, und plötzlich war aus dem einfachen Gespräch wieder eine Anschuldigung gewachsen.
"Damien- ich brauche jetzt wirklich diesen Zettel", drängte sie.
"Tja, Levia", gab er zurück und zupfte an seinem Ohrläppchen. "Dann solltest du ganz schnell einen neuen Ton anschlagen, der ein wenig mehr Spielraum zulässt."
Levia verzichtete darauf, genauer über diese Worte nachzudenken, und bemühten sich stattdessen, auf sie einzugehen.
"D...Daim." Das Wort floss geradezu über ihre Lippen, erschreckend leicht dafür, dass sie es seit Ewigkeiten nicht mehr ausgesprochen hatte. "Es hängt eine ganze Menge davon ab, dass ich in den nächsten Sekunden den Inhalt dieses Zettels lesen kann."
Einen Moment lang musterte er sie nur stumm. Dann kniete er sich vorsichtig neben die Schublade.
"Welcher Stapel?"
"Einer von den beiden rechten."
Damien arbeitete schnell und konzentriert, obgleich seine langen Finger zitterten. Trotzdem verstrich eine Minute, bis er die Hälfte des ersten Stapels durchgegangen war.
Levia presste sich enger an die Hauswand. Die Kälte kroch unter die klammen Kleidungsschichten und verursachte ein seltsam taubes Gefühl in ihren Beinen, das sie unbewusst sofort die Fluchtchancen überschlagen ließ... augenblicklich verschnellerte sich ihr Herzschlag erneut, schlug mit nahezu übernatürlicher Intensität gegen ihre Rippen.
Während Damien weitersuchte, schob sie sich vorsichtig an der Wand entlang, immer dieselbe Richtung beibehaltend- die Barriere.
"Bist du dir sicher, was den Titel angeht? Hier ist ein Stapel bezüglich Süskinds Parfum..."
"Nein, das ist es nicht." Sie wechselte instinktiv in den Flüsterton. Die Furcht pulsierte in ihrem Blut.
"Zitate aus dem Herrn der Ringe... Harry Potter... Gotteswahn..."
"Ganz sicher mit Adjektiv."
"Ein gutes Omen? Terry Pratchett und Neil Gaiman?"
"Das könnte es sein... was steht darunter?"
Ein vager Faden Hoffnung schlich sich in ihre Stimme.
"Ein Interview mit einem Priester-"
Sie fluchte leise. "Nein, auch nicht."
"Da ist etwas von Huxley... 'Die größten Triumphe der Propaganda wurden nicht durch Handeln, sondern durch Unterlassung erreicht. Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, ist das Verschweigen von Wahrheit.'- Lev, das ist aus-"
"Schöne neue Welt. Brave New World, ich weiß. Erschienen 1946. Was steht darunter?" Gehetzt warf sie einen Blick über ihre Schulter. Düsteres Nichts.
"Siebenziffrig, analog, elf bis vierzehn Buchstaben. AU drei 9 fünf. Und dann geht das Zitat weiter..."
"Das ist es!", fiel sie ihm ins Wort und keuchte erleichtert auf.
Augenblicklich machte sie sich an dem Hologramm zu schaffen, öffnete ein Operationsfeld und parallel dazu eine Applikation, die sie rasch mit den Daten fütterte, die Damien ihr vorgelesen hatte. Sofort flimmerten Buchstabenkolonnen über die Seite.
"Was genau machst du jetzt damit?", verlangte Damien zu wissen. "Das klingt nach-" Stirnrunzelnd überflog er den Zettel erneut. "Lev, was für ein Programm schreibst du da?"
Levia ignoriert ihn und setzte sich erneut in Bewegung. Ihre Füße drängten sie zur Beeilung.
Während grünlich glimmende Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben sich rasant abwechselten, huschte sie fast schon lautlos über die erste Straße, ein von düsteren Metallgebäuden gesäumtes Viertel, das bis auf einige Militärakademien und einige billige Ein-Zimmer-Wohnungen großteils leer stand.
"Levia... sprich mit mir!", verlangte Damien mit plötzlicher Intensität. "Was hast du mit diesen Daten- oooh..." Seine Augen weiteten sich, doch da hatte sie den Anruf bereits abgebrochen.
Die plötzliche Stille zerrte an ihrem Körper. Eine Welle der Hilflosigkeit drohte sie zu überwältigen, als sie die undurchdringliche Häuserwand vor sich wahrnahm, und die Angst blähte sich auf, wuchs- reckte sich nach ihren Gliedmaßen, um sie zu blockieren-
Das Programm ließ den implantierten iPersonal-Chip in ihrem Arm vibrieren, ein unangenehmes Gefühl, aber nicht schmerzhaft.
Erleichert schloss sie kurz die Augen, bevor sie den herausgefilterten Code kopierte... einen Moment lang zögerte sie, ihn einzufügen.
Dieses Virus kann mit den nötigen Mitteln jedes Kind zusammenbauen... es ist wie ein Hammerschlag. Verdammt primitiv, die Spuren sind nicht zu verwischen und danach sind deine Fingerabdrücke daran... aber ein Hammerschlag ist noch immer ein Hammerschlag. Knockout.
Der Mann hatte gelacht, als er das gesagt hatte, daran erinnerte sie sich nur zu gut- gelacht, als hätte er mit ebendiesem Virus keine zwei Menschen umgebracht, indem er ihre lebenserhaltenden Prozessoren ausgeknockt hatte.
Die erste Straße war kein reiches Pflaster, darauf musste sie bauen... dass niemand zu Schaden kommen konnte, weil die Mittel für hochtechnische Schrittmacher nicht auftreibbar waren.
Ihre Finger zitterten dennoch, als sie den Code einfügte und die Datei bestätigte. Mit einem leisen Piepsen drang sie aus dem Hologramm, und das iPersonal stürzte ab.
Ein schlaffes Rascheln ließ Levia in Todesangst herumfahren...
Einen halben Meter hinter ihr war ein Scurio in einem marineblauen Anzug zusammengebrochen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro