55. Gegen die Zeit [2]
»Was meint Ihr mit nach Hause?«, fragte Joseph.
Laurent klammerte sich an den Arm seines Gefährten. »Doch nicht das, was ich denke, oder?«
Kilian blickte in die Gesichter seiner Geschwister und Vertrauten, die sich um ihn herum versammelt hatten. »Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Wenn wir dem König glauben können, wäre es zumindest hypothetisch möglich, dass wir zu einer Zeit in die untere Welt zurückkehren, in der unsere Familien noch leben.«
Laurent starrte ihn entgeistert an. »Penny, Finka und Jonas könnten noch leben?«
»Ich kann es nicht versprechen«, antwortete Kilian, wobei er eine besonders missmutige Miene aufzusetzte, als könnte er auf diese Weise alle aufkeimenden Hoffnungen dämpfen. »Aber ich persönlich denke, dass wir es auf jeden Fall versuchen müssen.«
Kollektives Nicken antwortete ihm.
»J-ja, ja, unbedingt«, hauchte Laurent, der so benommen aussah, wie Emma sich im ersten Moment gefühlt hatte. Inzwischen überwog die Freude, die sie beim Gedanken daran empfand, dass ihre Familie vielleicht noch leben könnte – ganz egal, wie es mit Zahlen und Wahrscheinlichkeiten aussah.
»Wir müssen das tun«, sagte Kamilla eindringlich.
Ihr großer Bruder nickte. »Gut. Dann ist es beschlossen.« Er wandte sich nach Miragel um, der seinen Vater stützte und der Unterhaltung bis dahin schweigend gelauscht hatte. Umbraniel wirkte noch immer etwas blass im Gesicht, aber dank des Leuchtenden schien er sich schnell zu erholen. »Was ist mit dir, Miragel? Willst du uns begleiten?«
Der Elf runzelte leicht die Stirn, so als hätte er eine Fliege in seinem Essen entdeckt. »Natürlich, Baron. Mein Platz ist nun einmal an Eurer Seite.«
»Das ist es also, was aus dir geworden ist«, brummte Umbraniel.
»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig«, entgegnete Miragel. »Nur, weil du mich damals im Stich gelassen hast, bin ich überhaupt zum Berater des Barons geworden.«
Umbraniels Mundwinkel zuckten. »Im Stich gelassen?«, fragte er matt. »Ich war fast tot. Die Prinzessin dachte, ich wäre tot.«
»Wie auch immer«, gab Miragel steif zurück. »Deine Abwesenheit hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin.«
Umbraniel schwieg.
Emma wollte etwas sagen, um das Gespräch wieder in angenehmere Bahnen zu lenken, da hörte sie Umbraniel flüstern: »Vielleicht hätte ich dann noch öfter abwesend sein sollen.«
Miragel schien von dem ungewöhnlichen Kompliment genauso überrumpelt zu werden wie Emma und die anderen Morgenwind-Bewohner. Er fasste den Arm seines Vaters fester und legte seine schmale Hand über die Hand des alten Elfs. Eine vertrautere Geste war von den beiden vermutlich nicht zu erwarten.
Plötzlich vernahm Emma helles Gelächter und blickte über die Schulter, um den Ursprung des Lachens herauszufinden. Zu ihrer grenzenlosen Überraschung war es Masumi, die sich über einen Witz des Königs zu amüsieren schien.
»Das darf doch nicht wahr sein«, ächzte Derrick.
Zeitgleich stürmten Emma und Derrick los, um sich vom Wahrheitsgehalt ihrer Beobachtung zu überzeugen. Sie hatten den Thronsaal halb durchquert, da wurde ihnen klar, dass ihre Ohren sie nicht betrogen hatten. Masumi war in eine angeregte Unterhaltung mit dem König vertieft, in der es augenscheinlich um die Krone ging, die er dem Kaiser abgenommen hatte. Jedenfalls spielte er damit, während sie sprachen, warf sie hoch und fing sie wieder auf, als wäre sie nur ein albernes Spielzeug.
»Masumi!«, rief Derrick. »Du kannst sprechen?«
Die junge Frau wandte den Kopf und lächelte ihn an. Es war das erste Mal, dass Emma sie auf diese Weise lächeln sah, so voller Energie und Tatkraft, als hätte sie endlich jemanden gefunden, mit dem sie ihre Leidenschaft teilen könnte. Jemand, der keine Puppe war. »Du sprichst die Wahrheit, Derrick«, sagte sie. Ihre Stimme war so glockenhell wie der höchste Ton auf dem Xylophon. Ein anderes Instrument hatte Emma nie gespielt, aber sie konnte sich daran erinnern, dass sie als Kind eine sehr leidenschaftliche Xylophon-Spielerin gewesen war – jedenfalls in der ersten und zweiten Klasse.
»Ich habe noch nie eine so brillante Erfinderin getroffen, die nicht aus dieser Welt stammt«, meinte der König.
Masumi errötete leicht. Auch diese Gefühlsregung hatte Emma noch nie bei ihr gesehen. »Das ist alles eine Frage der Übung«, meinte sie. »Und wohl auch der Motivation.«
»Dann nehme ich an, du willst jetzt hier bleiben?«, mischte sich Kamilla in die Unterhaltung ein.
»Ja, das ist mein Wunsch«, erwiderte Masumi. »Ich will weiter lernen und noch andere Dinge erschaffen. Puppen habe ich inzwischen wirklich mehr als genug gebaut. Und...« Sie blickte sich nach Belle um, aber dann schien ihr wieder einzufallen, dass sich ihre Freundin noch auf der Morgenwind befand, von wo aus sie die Geschicke der Puppen-Armee gelenkt hatte. Ihre Miene wurde wieder ernst. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Aber Belle gehört nicht an diesen Ort. Sie braucht die Morgenwind und hat es verdient, endlich frei zu sein.«
»Ich verstehe«, sagte Kamilla und trat vor, um Masumi zu umarmen. »Wir werden dich auf jeden Fall vermissen.«
Emma zwang sich zu einem Lächeln und machte es Kamilla nach, auch wenn sie sehr traurig über Masumis Abschied war. Als sie sich wieder voneinander lösten, bemerkte sie, dass Karel soeben etwas ganz Ähnliches durchmachte. Den Tränen mehr als nur nahe, verabschiedete er sich von der Prinzessin, aber nicht ohne ihr hoch und heilig zu versprechen, dass er irgendwann zurückkehren würde, damit sie ihm alle Wunder der geeinten Lande zeigen konnte. Dabei war er so rührselig, dass sich Emma eine Träne aus dem Augenwinkel streichen musste. Sie wusste noch genau, wie es war, zum ersten Mal verliebt zu sein – und wie es sich anfühlte, getrennte Wege gehen zu müssen. In ihrem Fall war der Auslöser für den wohl heftigsten Liebeskummer in ihrem Leben ein fünfzehnjähriger Ostfriese mit hellroten Haaren und Sommersprossen gewesen, den sie im Familienurlaub auf Fehmarn kennengelernt hatte. Sie konnte daher nur zu gut nachfühlen, wie es Karel in diesem Moment ergehen musste.
»Wie habt Ihr Euch nun entschieden?«, fragte der König, warf die Krone hoch und fing sie mit seinem Kopf wieder auf, ein offensichtlich lange einstudierter Trick.
Kilian trat neben Emma und legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken. »Euer Majestät, es tut mir leid, aber wir müssen zurückkehren.«
Der König nickte. »Ja, das habe ich mir schon gedacht.« Er nahm die Krone wieder vom Kopf und betrachtete ihre grobe Struktur im Licht der Kronleuchter.
»Die Reliquien, die wir Eurem Doppelgänger gegeben haben, waren nicht echt«, erklärte Kilian. »Ein Hexenzauber hält sie zusammen.« Bei diesen Worten schien er sich auf etwas zu besinnen. »Hier. Ich denke, das gehört Euch«, sagte er und wollte dem König den Schneidenden reichen.
»Oh nein«, wehrte der König ab. »Behaltet ihn nur. Ich werde einfach eine neue Krone erfinden. Das sollte mir und meinen Bediensteten nicht schwer fallen. Engelsstahl gibt es in dieser Welt ohnehin mehr als genug.« Er senkte die Stimme. »Wenn Ihr es genau wissen wollt, haben meine Vorgänger die Krone ohnehin nur erfunden, damit...« Mit einem verstohlenen Blick zu seiner Tochter, als erwartete er, für die kommenden Worte gescholten zu werden, ergänzte er: »...sie auch mal bestimmten Bedürfnissen nachgehen konnten.«
Emma erstickte ein Glucken mit der Hand, aber Kilian schien nicht zu verstehen, worauf der König hinauswollte. »Was meint Ihr?«
»Na, wie denkt Ihr, ist es, wenn man den ganzen Tag auf einem Stuhl hocken muss und nicht aufstehen darf?«, gab der König zurück. »Aber wenn die Natur ruft, dann ruft sie eben, also musste eine Lösung her...« Er ließ die Krone um seinen Finger kreisen. »Dank dieser Krone können wir Könige jederzeit von unserer Dienerschaft auf dem Thron vertreten werden. Erst später kamen meine Ahnen dann auf die Idee mit den Reliquien.«
Kilian zögerte, da er ganz offensichtlich nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Schließlich wechselte er wenig elegant das Thema: »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir aufbrechen.«
»Auf normalem Weg werdet Ihr es niemals rechtzeitig in die untere Welt schaffen«, erwiderte der König. »Aber wenn Ihr durch den Abyss und die Finsternis fliegt, könnt ihr in die untere Welt gelangen, bevor sich die Sphären wieder normalisieren.«
»Die Finsternis?«, wiederholte Derrick. »Ist das eine gute Idee? Wie sollen wir dort navigieren?«
Der König zupfte gedankenverloren an seiner Krone herum. »Soweit ich mich erinnere, befindet sich der Baron von Morgen in Besitz einiger Instrumente, die ihm den Weg zeigen, die Finsternis erhellen und die Wahrheit enthüllen können.«
»Die Reliquien«, erkannte Emma.
Der König lächelte ihr zu und der Zuspruch in seinen Augen gab ihrem Selbstvertrauen einen ordentlichen Schub. Fast fühlte es sich an, als wäre er ihr eigener Vater – nur, dass ihr Vater sie nie so angesehen hatte.
»Gut«, entschied Kilian. »Dann brechen wir jetzt auf.«
Derrick schlug die Hacken aneinander und salutierte zackig. »Aye, aye, Kapitän.«
*
»Na los! Wir müssen uns beeilen!«, trieb Kilian seine Vertrauten an, während sie durch die verschlungenen Gänge des Schlosses hasteten, um den höchsten Turm zu erreichen. »Der König wird sich bald setzen müssen und wenn das geschieht, wird die Zeit wieder fließen.«
»Das hat doch mit Physik nichts mehr zu tun«, grollte Derrick, der neben Emma herstolperte und sich eine Hand in die Seite presste. »Und wie soll das überhaupt funktionieren? Ein Ort ohne Zeit? Ein Ort jenseits der Zeit?«
»Denk' nicht darüber nach«, riet ihm Emma. »Konzentriere dich einfach auf den Gedanken, Layla wiederzusehen.«
Derrick schürzte die Lippen. »Sie würde mir zustimmen.«
»Vielleicht kann sie dir das bald selbst sagen«, meinte Emma lächelnd und beschleunigte ihre Schritte, um zu Kilian und Kamilla aufzuholen, die die Gruppe anführten. Gemeinsam stürzten sie durch die Tür zum Turmzimmer, das der Morgenwind am nächsten lag.
»Tut mir leid, aber wir werden klettern müssen«, erklärte Kilian und riss die dunkelblauen Seidengardinen zurück. »Der Regenfall ist erschöpft und der Weg über die Regenbogenbrücke würde zu lange dauern.«
»Kein Problem«, erwiderte Emma. Die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen, hatte ihr so viel Kraft gegeben, dass sie es, wenn nötig, auch noch einmal mit General Erelis aufgenommen hätte.
Kamilla stieß die bereits geöffneten Fensterläden weit auf, lehnte sich hinaus und angelte nach der Strickleiter, die vom Himmel herabbaumelte. »Hier«, sagte sie und straffte die Taue. »Du zuerst, Emma. Beeil' dich! Aber nicht runtersehen!« Ihre mütterliche Fürsorge entlockte Emma ein Schmunzeln. Manche Dinge änderten sich wohl einfach nie. Beinahe war es, als wäre gar keine Zeit vergangen, seit sie an ihrem ersten Tag auf der Morgenwind von Kamilla durch die Sonnenfelder geführt worden war.
Emma schwang sich auf die Leiter und machte sich, so schnell es vernünftigerweise ging, an den Aufstieg. Die Leitersprossen bestanden aus festem Holz und waren außergewöhnlich stabil, sodass es ihr nicht schwer fiel, darauf Halt zu finden. Der schneidende Wind trug einen widerlich säuerlichen Gestank an Emmas Riechnerven, der nur von toten Megamon stammen konnte. Das grünliche Wetterleuchten, das den Horizont fest umschlossen hielt, spiegelte sich in der Metallhülle der Morgenwind. Meter für Meter kletterte Emma am Rumpf der Stadt hinauf. Trotz ihrer Eile und ihres aufgeregt pochenden Herzens fand sie noch die Zeit, die schiere Größe der Morgenwind zu bewundern. Wie ein Berg aus Metall schwebte sie in der Luft. Tausende Tonnen Stahl, Kupfer, Blech und Messing – und darin ein wacher Verstand, der sie vermutlich jetzt schon beobachtete und fiebrig ihre Rückkehr erwartete.
*
»Na, wen haben wir denn da?« Ein älterer Mann mit wirren grauen Haaren und einem Zahnstocher zwischen den faltigen Lippen half Emma über die Abgrenzung am Rand des Krähennestes, einem Ort, der den Bewohnern der Morgenwind in erster Linie als Aussichtspunkt diente.
»Desmond?«, hauchte Emma.
Der Mann stemmte die Hände in die Taille. Er hatte ein markantes Gesicht mit hoher Stirn, fliehendem Kinn und leuchtenden Augen, in denen so viel Leben steckte, dass Emma ihn trotz seiner Frisur und seiner einprägsamen Züge beinahe nicht wiedererkannt hätte. »Dann bist du wohl Emma! Mein Sohn hat mir schon viel von dir erzählt!«
»Und er würde gern noch mehr erzählen, wenn er das hier überlebte«, ächzte Derrick, während er sich über die Mauer zu hieven versuchte. Emma kam ihm zu Hilfe, packte seine Jacke und zerrte so lange an ihm bis er schließlich auf sicherem Boden landete. Mühsam rappelte er sich wieder auf und strich sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht. »Du erinnerst dich also noch an meinen Vater?«
»Aber natürlich«, antwortete Emma. »Ich kann nur nicht fassen, dass Sie sich so schnell wieder erholt haben.«
»Du«, wurde sie von Desmond korrigiert. »Wir sind doch alle Freunde.«
Derrick spähte in den Abgrund. »Es hat sich herausgestellt, dass mein Vater gar nicht wirklich im Koma lag.«
»Ach nein?«, fragte Emma.
»Nein«, bestätigte Derrick.
»Aber...«, begann Emma, doch Desmond kam ihrer Frage zuvor.
»Es war die Morgena«, erklärte er. »Sie hat mich gerettet.« Mit einem Blick in den grünlich flackernden Himmel ergänzte er: »Bei meinem Sturz hatte ich mich lebensgefährlich verletzt. Daraufhin hat die Morgena meine Seele aufgenommen, um mich zu schützen.«
»So ähnlich wie Rasputin es bei Karel gemacht hat«, ergänzte Derrick und streckte sich, um Camio über die Mauer zu helfen.
Desmond zuckte mit den Schultern und schob seinen Zahnstocher mit der Zunge vom einen in den anderen Mundwinkel. »Aber dann war sie zu schwach, um mich wieder freizugeben. Sie brauchte meine Seelen-Energie, um sich selbst am Leben zu erhalten. Erst, als ihr der Morgenwind die Seelen der Hexen zugeführt habt, konnte sie mich wieder freilassen.«
»Er ist aufgewacht, Karel hat ihn geheilt und voilà«, meinte Derrick. »Fit wie ein Turnschuh, der alte Knacker.«
Desmond klopfte Derrick väterlich auf den Rücken. »Das – und sehr gespannt, was der Baron jetzt vorhat.«
»Der Baron-« Kamilla schwang sich elegant über die Mauer. »-möchte, dass wir die Morgenwind startklar machen. Wir müssen so schnell wie möglich abreisen.«
»Welche Route?«, fragte Desmond dienstbeflissen.
»Der Abyss«, antwortete Kamilla.
Desmond starrte sie einige Herzschläge lang an und seufzte dann schicksalsergeben. »Na gut. Dann eben in den Abyss.« Er zwinkerte Emma zu. »Ich werde mal den Sternenzähler aufwecken. Könnte ja sein, dass wir seine Hilfe brauchen.«
»Emma, du musst hier die Stellung halten«, wies Kamilla sie an. »So lange bis alle sicher in der Stadt sind. Ich mache mich auf den Weg zum Hof der Morgena.«
Emma nickte. »Geht klar.«
»Am besten schickst du alle zum Bauch der Morgenwind. Kann sein, dass es ein unruhiger Flug werden wird«, ergänzte die Baronin, dann eilte sie auf hohen Hacken davon. Derrick folgte derweil seinem Vater.
»Was ist?«, fragte Emma an Camio gewandt. »Willst du mir helfen?«
Der kleine Junge, der inzwischen Größe und Aussehen eines Zehn- oder Elfjährigen erreicht hatte, pustete sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus der Stirn und nickte. Gemeinsam lehnten sie sich über die Mauer und streckten sich nach dem nächsten Bewohner der Morgenwind, der das Ende der Strickleiter erreicht hatte.
Auf diese Weise halfen sie nach und nach allen Bewohnern auf festen Grund. Karel und Klarissa bedankten sich bei ihnen, machten sich dann aber schnell aus dem Staub, um Kamilla zur Hand zu gehen. Als Letzter schwang sich Kilian über die Abgrenzung. Kaum hatte er seinen Körperschwerpunkt auf die richtige Seite der Mauer verlagert, setzte sich die Morgenwind auch schon in Bewegung. Dabei rammte sie die Spitze des Schlossturms und sandte einen Regen aus Dachziegeln über die Dächer und Gärten des Palasts, die inzwischen wieder so friedlich dalagen, als wäre Schloss Allezeit nie das Ziel einer Invasion gewesen.
»Schnell! Zurück!«, drängte Kilian und schob Emma und Camio zum anderen Ende des Krähennests, damit sie nicht von der Bewegung der Morgenwind in die Tiefe katapultiert werden konnten. Mit dem Rücken an den Stein des Felsvorsprungs gepresst, sahen sie der Finsternis entgegen, die immer schneller auf sie zugeschossen kam.
Der Fahrtwind zerrte an Emmas Haaren und machte es ihr schwer, zu atmen. »Was denkst du, Kilian?«, rief sie über das Dröhnen und Knarren hinweg, das aus dem Rumpf der Morgenwind drang. »Werden wir es rechtzeitig schaffen?«
Kilian nickte, erst zögerlich, dann kräftiger. »Ja, Emma.« Er lächelte sie an. »Und weißt du, warum?«
Emma spürte, wie sich Camio an ihren Gürtel klammerte. »Nein. Keine Ahnung.«
»Weißt du noch, was wir in Pax Angelus gesehen haben?«, erwiderte Kilian.
»Den Spalt«, erinnerte sich Emma.
»Ja, genau«, sagte Kilian. »Derrick glaubt, dieser Sphärenriss wäre schon das erste Anzeichen des Durcheinanders, das der König aller Welten und der Kaiser der Vogelmenschen angerichtet haben. Kurz zuvor muss sich der König hier oben von seinem Thron erhoben haben, was zum Zerfall der Zeit geführt hat. Derrick vermutet, die untere Welt könnte als eine der ersten Sphären davon betroffen gewesen sein.«
Emma hing an Kilians Lippen. Sie wollte alles hören, was er ihr zu sagen hatte, solange es sie davon überzeugte, dass sie ihre Familie wiedersehen würde.
»Und wenn das stimmt, dann kann seit Pax Angelus nicht so viel Zeit vergangen sein.«
»Das macht total Sinn«, sagte Emma, auch wenn sie sich in diesem Moment an jede noch so abstruse Hoffnung geklammert hätte.
Die Morgenwind schoss über den Rand des Kraters hinaus, direkt auf die Finsternis zu, die sich wie ein gähnender Abgrund direkt vor ihnen auftat. Das Wetterleuchten hüllte sie ein und ließ die dunklen Wolken, die um den Rand des Abyss kreisten, geheimnisvoll hervortreten. Es war wie ein Schattentheater, nur andersrum, denn es waren nicht die Schatten, die sich bewegten und Geschichten erzählten, sondern die Lichter, die über den Himmel wanderten und dabei immer neue Formen und Konstellationen aus dem Verborgenen auftauchen ließen.
Instinktiv suchten und fanden sich Emmas und Kilians Hände. Mit der freien Hand streichelte Emma Camio über den Kopf. Der Anblick der Finsternis schien sogar den Halbdämon zu beeindrucken. Doch Emma empfand keine Angst, nicht einmal, als die Morgenwind mit röhrenden Maschinen in die Dunkelheit eintauchte. Alles, was sie spürte, war ihre Liebe zu Kilian und ihre Vorfreude auf Zuhause.
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