
54. Die letzte Illusion [1]
Emma wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Immerhin waren für Kilian zwei Jahre vergangen seit sie von der Morgenwind gestürzt war. Sie hatte keine Ahnung, was er in dieser Zeit getan oder wie er sich gefühlt hatte. Sie wusste auch nicht, wie er sich jetzt fühlte, denn seine Miene und sein Verhalten gaben nicht viel Aufschluss darüber.
Als sie gemeinsam aus dem Tempelportal traten, wo Nori, Kamilla, Rasputin, Camio, Miragel und Umbraniel bereits auf sie warteten, hielt Emma es nicht mehr aus. Vergessen war der Umstand, dass ihre Freunde nicht an ihre Verschwiegenheit geglaubt hatten. Vergessen waren auch Rasputin, die Prinzessin, der General und die Gefahr, in der sie noch immer schwebten. Emma hörte allein auf ihr Herz, vielleicht auch auf eine Region, die deutlich tiefer lag, aber das zu unterscheiden, war sie im Moment nicht in der Lage. Ruckartig fuhr sie herum und umarmte Kilian. Dabei sagte sie kein Wort, sondern schlang einfach die Arme um seine Taille und hielt ihn so fest, als könnte er ihr jederzeit durch eine Laune des Schicksals wieder entrissen werden. Der Baron erwiderte ihre Umarmung zaghaft, aber als sie sich streckte, um ihn zu küssen, wehrte er sie ab.
»Nicht jetzt, Emma«, sagte er.
Emma löste sich von ihm und wich einen Schritt zurück. Sie konnte spüren, wie sich ihre Wangen erwärmten. »Was ist denn?«, fragte sie verwundert. »Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen. Immerhin-« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, sondern ließ die Arme hängen und blickte ihn fragend an, in der Hoffnung, in seinen Augen irgendeine Erklärung zu lesen. Doch da war nichts.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Kilian steif. Er schien dem noch etwas hinzufügen zu wollen, doch dann nahm er lediglich die Kette, die er dem General abgenommen hatte, und hängte sie Emma um den Hals.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Miragel. »Wenn der König nicht bald wieder auf dem Thron von Schloss Allezeit sitzt, werden die Sphären untergehen.«
Emma zupfte an ihrem Ohrläppchen und betrachtete die Primeln, die in einer Nische der Tempelfassade aus der Erde sprossen. Sie war absolut ratlos und fühlte sich so fehl am Platz, als wäre sie in einen ihr unbekannten Film geplatzt. Irgendwie lief dieses Wiedersehen nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie kämpfte gegen die Tränen, die in ihr aufstiegen und ihr den Hals zuschnürten. Nicht der richtige Zeitpunkt, sagte sie zu sich selbst, aber ihr geistiger Zuspruch verfehlte seine Wirkung. Ob sie es sich nun eingestehen wollte oder nicht, sie war gleichzeitig verwirrt, mordswütend, erschöpft und unendlich enttäuscht. Vielleicht erwartete Kilian von ihr, dass sie diese Gefühle überwand und sich ganz auf die Sache konzentrierte, aber Emma konnte es nicht. Wollte es nicht.
»Was ist denn los?«, platzte es aus ihr heraus.
Kilian und Miragel, die gerade ihren Fluchtplan besprachen, hielten überrascht inne.
Emma schniefte und versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu verdrängen. »Ich weiß, für mich sind nur ein paar Tage vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben, aber... denkst du, ich hätte dich nicht vermisst?« Sie wollte Kilian in die Augen sehen, aber er wich ihrem Blick aus. »Hast du mich denn vermisst? Oder haben sich deine Gefühle inzwischen verändert?« Den letzten Satz konnte Emma kaum aussprechen. Allein der Gedanke, dass Kilian diese Frage bejahen könnte, erfüllte sie mit unsäglichem Schrecken.
»Natürlich habe ich dich vermisst. Und nein, meine Gefühle für dich haben sich nicht verändert«, antwortete Kilian ohne sie anzusehen. Emma konnte sich nicht erklären, wieso er ihr bei diesen Worten nicht einmal in die Augen blicken konnte. Auch wenn er beteuerte, dass sich seine Gefühle für sie nicht verändert hatten, spürte sie, dass etwas anders war. Vielleicht lag das nur daran, dass er sie zwei Jahre nicht gesehen hatte, aber gerade unter diesen Umständen konnte man doch eine etwas herzlichere Begrüßung erwarten. Mal ganz davon abgesehen, dass sie soeben fast im Alleingang General Orel Erelis erledigt hatte. Wenn schon nicht mit Wiedersehensfreude, dann konnte sie doch wenigstens mit ein wenig Dankbarkeit rechnen. Emma wäre es im Moment sogar recht gewesen, wenn Miragel oder Anoushka sie aufgrund ihrer Leichtfertigkeit ausgeschimpft hätten, doch keiner ihrer Freunde erwähnte ihren Einsatz auch nur mit einem einzigen Wort. Genau wie niemand über das sprach, was der Prinzessin zugestoßen war.
Während sich Kilian wieder Miragel zuwandte, fasste Emma den Anhänger, den er ihr gegeben hatte und der sich viel schwerer anfühlte als sie es in Erinnerung hatte. Vorsichtig ritzte sie mit seiner Spitze die Kuppe ihres Zeigefingers. Als der erste Blutstropfen aus der Wunde quoll, so rund und perfekt wie ein geschliffener Rubin, erstrahlte der Engelsstahl in leuchtendem Hellblau. So sehr sie sich auch ein anderes Ergebnis gewünscht hätte; sie musste erkennen, dass sie sich nicht in einer Illusion befand. Was um sie herum geschah, war real. Kilian war real. Genau wie seine Reaktion.
Emma schluckte hart und ließ ihren Blick an der Fassade des Tempels hinaufwandern, um ihre Tränen zurückzuhalten.
»Ihr könnt aufhören, zu diskutieren«, meldete sich Kamilla zu Wort. »Sie werden gleich hier sein.«
Kilian und Miragel stellten ihr Gespräch ein und blickten zum Himmel hinauf. Emma machte es ihnen instinktiv nach. Auf diese Weise stellte sie fest, dass die Regenbogenbrücke verschwunden war. Auch die Blitz- und Wasserkanonen waren verstummt. Doch es sollte noch viel schlimmer kommen, denn die Vogelmenschen, die vor einer Weile zur Morgenwind aufgebrochen waren, befanden sich auf dem Rückflug. Etwa zwanzig von ihnen verließen die Formation und segelten in ihre Richtung.
Emmas Blicke suchten Nori, der bei Kamilla im Gras hockte, schwitzte und dampfte, als wäre er soeben einer viel zu heißen Sauna entstiegen. Seine Nacktheit, jedenfalls den Teil davon, der nicht für die Augen der Allgemeinheit bestimmt war, verbarg er mit Kamillas Reitjacke und seinen Händen. Anhand seiner schlaffen Haltung und seiner erschöpften Miene wurde deutlich, dass er sich so schnell nicht mehr verwandeln würde. Aber gegen die Vogelmenschen zu kämpfen, schien auch gar nicht Kilians Plan zu sein.
»Hör mir zu, Emma«, sagte der Baron, strich sich die Prinzen-Locke aus der Stirn und wischte sich die Hände an der Jacke ab. »Das wird jetzt nicht leicht werden.«
»Hah!«, machte Emma, verschränkte die Arme vor der Brust und grub ihre Zehen ins feuchte Gras. »Als ob es bis hierhin leicht gewesen wäre! Als ob es leicht wäre, dich auch nur anzusehen, so wie du dich mir gegenüber verhältst.«
»Emma, ich-«, begann Kilian, aber Emma ließ ihn nicht aussprechen.
»Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber ich habe hier ganz schön was durchgemacht!« Mit jedem Wort steigerte sie sich mehr in ihre Wut hinein. »Ich bin von der Morgenwind gefallen! Ich habe gedacht, ich müsste sterben! Und dann haben mich die Vogelmenschen hierher gebracht. Ich habe mich für den Tod entschieden und dann musste ich auch noch zusehen, wie der General Camio foltert!« Sie fuhr herum und deutete anklagend auf Rasputin. »Und als wäre das noch nicht genug, hätte Rasputin mich beinahe dazu gebracht, mit ihm zu schlafen!« Ihr Blick wanderte wieder zu Kilian, der ihrem Wutausbruch gelassen lauschte. Nicht einmal die Sache mit Rasputin schien in ihm irgendein Gefühl auszulösen.
»Du musst dich beruhigen, Emma«, sagte er.
»Wir können das alles später besprechen. In Ruhe«, mischte sich Anoushka ein.
»In Ruhe?«, krächzte Emma. Weiter kam sie nicht, denn da waren die Geflügelten heran und kreisten sie ein. Ihre Schwingen schienen dabei einen kleinen Tornado auszulösen. Der Lärm, den sie verursachten, machte jede Unterhaltung unmöglich. Mitleidslos peitschten die Böen über sie hinweg, aber Emma spürte es kaum. Sie war so unfassbar... voll mit Gefühlen. Nicht allein Wut, nein, das wäre zu simpel gewesen. Alle möglichen Emotionen tobten in ihrem Innern, fast genauso wild wie der Sturm über ihrem Kopf. Die Gefühle schienen Emma in alle Richtungen gleichzeitig zu zerren. Sie wollte schreien, weinen, weglaufen, im Kreis springen oder mit den Fäusten auf irgendetwas einschlagen. Doch letztendlich tat sie nichts von alledem. Es fiel ihr schon schwer, nur zu atmen.
»Komm«, sagte Kamilla, fasste Emmas Arm und zog daran. Wie in Trance sank Emma neben Kamilla in die Hocke. Nach und nach ließen sich auch Kilian und die anderen ins Gras sinken. Emma wurde bewusst, dass sie sich ergaben. Tränen traten ihr in die Augen. Sie konnte nicht mehr klar sehen und erst recht nicht mehr klar denken.
*
Die Vogelmenschen gingen nicht gerade zimperlich mit ihren Gefangenen um. Rücksichtslos schubsten und zerrten sie Emma und ihre Freunde durch den breiten Gang, der zum Thronsaal führte. Doch Emma war ihr Verhalten ganz egal. Sie fühlte sich irgendwie leer. Statt alle Gefühle auf einmal zu empfinden, spürte sie jetzt gar nichts mehr. Zwei Geflügelte schubsten sie wie einen Spielball hin und her, aber sie kümmerte sich nicht darum. Das emotionslose Wiedersehen mit ihrem Freund hatte ihr jeden Kampfeswillen genommen. Ohne Kilian wusste sie schlicht nicht mehr, für was sie kämpfen sollte.
»Da sind sie ja!«, ertönte die Stimme des Kaisers.
Emma machte sich nicht die Mühe, ihn anzusehen. Stattdessen wanderte ihr Blick zu Derrick, Joseph, Laurent und Masumi, die soeben durch einen anderen Eingang hereingeführt wurden.
»Emma!«, rief Derrick und bekam prompt einen Tritt in die Kniekehlen, der ihn äußerst unsanft zu Boden beförderte.
Der Anblick ließ einen Tupfen Rot in Emmas ausgebleichte Gefühlswelt zurückkehren. »Hey!«, beschwerte sie sich. »Lasst ihn in Ruhe!«
Einer der Vogelmenschen, der sie zuvor noch als Ping-Pong-Ball benutzt hatte, krallte seine Hand in ihre Haare und riss ihren Kopf zurück. Ihre Nackenwirbel knackten bedrohlich. Der Schmerz trieb Emma die Tränen, die sie bis dahin mit eiserner Selbstbeherrschung zurückgehalten hatte, in die Augen.
»Der Baron von Morgen und seine tollkühnen Gefolgsleute«, sagte der Kaiser langsam. Er stand vor dem hohen Sprossenfenster, hinter dem noch vor einigen Stunden blühender Sommer geherrscht hatte. Jetzt war dahinter nur noch pechschwarze Finsternis zu erkennen. Das Federkleid des Kaisers schillerte im Licht der tortenförmigen Kronleuchter wie das Gefieder einer Elster. »Ihr habt doch nicht gedacht, dass Ihr mich auf diese Weise übertölpeln könntet?«
Einer der Geflügelten zerrte Kilian durch den Thronsaal und versetzte ihm dann einen Stoß, der ihn vor dem Kaiser auf die Knie fallen ließ. Kilian blutete aus einer Schnittwunde an der Stirn. Hellrotes Blut lief ihm von dort an der Augenbraue entlang und die Wange hinunter bis zum Kinn. Es war ein irgendwie unwirklicher Anblick. Für einen kurzen Moment schien der Baron gegen eine Ohnmacht anzukämpfen, aber dann fing er sich wieder und hob den Kopf, um den Kaiser anzusehen. »Ihr habt vielleicht mich und meine Gefolgsleute, aber nicht den-«
»Den König?«, fiel ihm der Kaiser ins Wort. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die regelrecht einstudiert wirkte, drehte er sich um die eigene Achse und maß Kilian mit einem abschätzigen Blick. Dann streckte er die Hand aus und vollführte eine knappe, durch und durch herrische Geste, die Emma erschaudern ließ.
Daraufhin führte einer seiner geflügelten Soldaten den König herein.
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