47. Tod oder Leben [2]
Die Vogelmenschen brachten Emma nicht, wie sie eigentlich erwartet hatte, in irgendein düsteres, modriges Gefängnis, sondern in einen hübsch eingerichteten Salon mit angeschlossenem Wintergarten. Der Raum war mit Damast-Möbeln, fließenden Gardinen und Seidentapeten, die pastellfarbene Schmetterlinge zeigten, ausgestattet. Durch die Glasfronten des Wintergartens konnte Emma auf einen der Wasserfälle hinaussehen, die sich ins Innere des Kraters ergossen. Die Fenster waren von Eisblumen überzogen, die Sträucher davor von einer dünnen Schicht Schnee. Diese Aussicht hätte sich auch gut auf einer edlen Weihnachtskarte gemacht.
»Warte hier«, sagte einer der Vogelmenschen, nachdem er Emma auf eine gepolsterte Sitzbank gedrückt hatte. Dann zogen sich die Geflügelten zurück. Allerdings nicht, ohne zwei Megamon zu ihrer Bewachung abzukommandieren. Die Maschinenwesen postierten sich zu beiden Seiten der offenen Tür, beide rot glühende Augenpaare auf Emma gerichtet. Sie war jedoch viel zu erschöpft, um auch nur an eine Flucht zu denken. Ihr Kleid war inzwischen durchnässt von ihrem eigenen Blut und es fiel ihr schwer, ein Körperteil zu benennen, das sich nicht taub anfühlte oder schmerzte.
Nach einer undefinierbaren Zeitspanne betrat ein Mann den Salon, der Emma so bekannt vorkam, dass sie beinahe Miragels Namen gerufen hätte. Sie hatte den Namen schon auf der Zunge, da wurde ihr bewusst, dass es sich bei dem Fremden unmöglich um Miragel handeln konnte. »Wer seid Ihr?«, brachte sie kraftlos hervor.
Sogar die genervte Miene des Mannes erinnerte sie an Miragel. Die beiden waren sich wie aus dem Gesicht geschnitten. »Mein Name ist Umbraniel«, erklärte der Fremde und zog sich einen der filigranen Stühle heran. »Nicht sprechen, nicht bewegen«, befahl er dann und machte sich daran, Emmas Wunden zu begutachten. Sie zuckte zusammen, als seine Fingerspitzen ihre Schultern berührten. Knapp unterhalb ihres Schlüsselbeins hatte der Vogelmensch seine Krallen durch ihr Fleisch geschlagen und dabei mehrere tiefe Wunden hinterlassen, die noch immer stark bluteten.
Umbraniel seufzte, stand auf und ging zu einer Vitrine am Übergang zum Wintergarten hinüber. Während er sich an den darin aufgereihten Flaschen zu schaffen machte, nahm Emma ihre ganze verbliebene Kraft zusammen und fragte: »Seid Ihr der Vater von Miragel?«
Der Elf hielt inne. »Du kennst meinen Sohn?«
Emma biss die Zähne zusammen und nickte. »Wir sind... Freunde, könnte man sagen.«
»Hmpf«, machte Umbraniel und wandte sich wieder den Flaschen zu. »Tausend Jahre durch Zeit und Raum gereist, nur, um sich mit Menschen aus der unteren Welt anzufreunden.«
»Er ist eben schlau«, erwiderte Emma.
Dem konnte Umbraniel nicht widersprechen.
»Aber solltet Ihr nicht tot sein?«, fragte Emma weiter, auch wenn jede Bewegung einen Schauer aus Schmerz und Kälte durch ihren Körper sandte.
»Wer sagt das?«, entgegnete der Elf, nahm zwei Flaschen aus der Vitrine und kehrte damit zu Emma zurück.
»Die Prinzessin«, antwortete Emma.
Umbraniel drehte den Stuhl so, dass er mit dem Rücken zu den Megamon saß, die noch immer an der Tür lauerten. »Ich hatte Glück«, sagte er. »Die Vogelmenschen benötigen meine Hilfe, um Ihresgleichen zu heilen. Deswegen haben sie mir erlaubt, meine eigenen Wunden zu behandeln.« Er präsentierte Emma eine der beiden Flaschen. Sie war mit einem unleserlichen Etikett versehen und nur noch halb voll. »Dieses Gebräu wird auch deine Wunden heilen«, sagte er. »Es wird dich einschlafen lassen, deine Schmerzen lindern und wenn du wieder aufwachst, fühlst du dich wie neu geboren.«
»Das klingt... prima«, ächzte Emma. Sie wollte sich den kalten Schweiß von der Stirn wischen, konnte ihren Arm aber nicht heben.
»Das ist es«, sagte der Elf und blickte sich nach den Megamon um, als wollte er sich vergewissern, dass sie ihr Gespräch nicht belauschten. Anschließend hielt er ihr die andere Flasche unter die Nase und flüsterte: »Der Inhalt dieses Gefäßes wird dich ebenfalls einschlafen lassen. Der Unterschied ist, dass du nach einigen Schlucken davon nicht mehr aufwachen wirst.«
Emmas Augen wurden groß. »Da drin ist Gift?«
Umbraniel nickte. »Ein sehr tödliches Gift sogar. Aber keine Sorge, du wirst davon nichts spüren. Es wird sich anfühlen, wie ein tiefer, ruhiger Schlaf. Keine Angst. Keine Schmerzen.«
»Nein«, keuchte Emma und blickte sich nach den Megamon um. »Ich will nicht sterben.«
»Natürlich nicht«, sagte Umbraniel. »Das wollen Menschen nie. Verzweifelt wehren sie sich gegen die Natur ihrer Existenz und können ihr trotzdem nicht entfliehen.«
Emma kam der Gedanke, dass Umbraniel vielleicht wahnsinnig geworden war. Sie rutschte auf der Sitzbank herum, um möglichst viel Distanz zwischen sich und den Elf zu bringen.
»Keine Sorge«, sagte er, als er ihren Fluchtimpuls bemerkte. »Ich werde dir die freie Wahl lassen, welche Flüssigkeit ich dir zu trinken gebe.«
»Wirklich?«, stöhnte Emma, als der Schmerz so intensiv wurde, dass ihr Skelett zu vibrieren schien.
Umbraniel reichte ihr die beiden Flaschen. »Aber bevor du dich entscheidest, bedenke Folgendes.«
Emma löste den Blick von den Gefäßen und sah ihm in die bleigrauen Augen.
»Du besitzt Wissen über die Morgenwind, den letzten Feind der Vogelmenschen«, fuhr Umbraniel fort. »Wählst du die Medizin, werden sie dich foltern, um an dieses Wissen zu gelangen.« Er wiegte den Kopf leicht hin und her. »Und glaub mir, General Orel Erelis versteht etwas von Folter. Er wird dafür sorgen, dass du dir wünschst, du hättest das Gift gewählt.«
»Ich habe keine Angst«, log Emma.
Umbraniel durchschaute ihre Lüge als wäre sie nur ein Gaze-Schleier, mit dem sie sich vor der Realität abzuschirmen versuchte. »Mag sein«, meinte er mit einem dünnen Lächeln. »Aber ich mache mir auch keine Sorgen um dich, sondern um das, was du den Vogelmenschen verraten könntest.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Flasche mit dem Gift. »Wenn du dich für den Tod entscheidest, kannst du ihnen nichts mehr verraten. Du würdest ein edles Opfer bringen, um die Morgenwind und ihre Bewohner zu beschützen.«
Endlich wurde Emma klar, worauf Umbraniel hinauswollte. Furcht erfasste sie, so heftig, dass sich ihr Magen umstülpte und sie unkontrolliert zu zittern begann. Niemals hätte sie sich aus Angst vor Schmerz und Folter für den Tod entschieden, doch wenn es um ihre Freunde ging, sah die Sache ganz anders aus. Die Leben von Kilian, seiner Familie, Derrick und den anderen Stadtbewohnern waren gute Gründe, um freiwillig in den Tod zu gehen.
»Entscheide dich«, raunte Umbraniel. »Und entscheide dich schnell.«
Emma hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Was sollte sie tun? Weiterleben und den Mann, den sie liebte, ans Messer liefern? Sterben und ihre Freunde beschützen? Ihr Herz schlug heftig und pumpte dabei noch mehr Blut aus ihren Wunden. Wenn sie sich nicht bald entschied, würde sie wohl ohnehin sterben, doch Umbraniel schien eine Antwort von ihr zu erwarten. Verzweifelt wälzte sie ihre Entscheidungsmöglichkeiten in Gedanken hin und her, sah jedoch einfach keinen Ausweg. Sie wusste, dass sie es nicht in sich hatte, Folter zu widerstehen. Ein echter Foltermeister würde sie vermutlich lächerlich schnell zum Reden bringen können. Und wenn sie den Plan, den sie auf der Morgenwind gefasst hatten, verriet, waren Kilian und die anderen Bewohner dem Tod geweiht - und mit ihnen das zeitlose Königreich, die geeinten Lande und vermutlich auch alle anderen Sphären.
Emma fasste den Anhänger auf ihrer Brust und dachte an Kilian, an seine eisblauen Augen und an die Art, wie er sie jeden Morgen sanft wachgeküsst hatte. Dann sah sie Derrick vor sich, wie er mit Layla zur Musik der Engel tanzte. Von dort wanderten ihre Gedanken zu Jonas, Penny und Finka, die in Pax Angelus auf die Rückkehr ihrer Eltern warteten. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie durfte ihre Freunde nicht in Gefahr bringen. Nein. Unter keinen Umständen. Trotzige Entschlossenheit stieg in ihr auf. Sie war schon einmal bereit gewesen, für die Morgenwind zu sterben. Damals hatte Miragel sie davon abgehalten. Jetzt konnte sie beweisen, dass sie es ernst gemeint hatte. Und was war schon so schlimm daran? Außer das-
Die Tränen quollen ihr aus den Augen und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, nur aus Verzweiflung und Furcht zu bestehen. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte ihre Familie wiedersehen. Sie wollte Kilian im Arm halten, ihn küssen und ihm sagen, dass sie ihn liebte. Doch wenn sie das Gift nicht nahm, dann würde General Orel Erelis die Antworten, die er brauchte, aus ihr herauspressen und ihr Plan würde scheitern. Die Vogelmenschen würden Kilian töten. Vielleicht sogar ihre Familie. Und alle Hoffnung wäre endgültig verloren. Konnte sie mit dieser Last leben?
Emma fasste einen Entschluss, nickte Umbraniel zu und tastete nach der Flasche mit dem Gift. Er bedachte sie mit einem langen, anerkennenden Blick, dann richtete er sich auf und half ihr dabei, das Gefäß an die Lippen zu setzen. Tränen liefen ihr über die Wangen und das verbleibende Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie wollte es schnell hinter sich bringen, bevor sie der Mut verließ.
Als sie schon die kühle Flüssigkeit an den Lippen spürte, zerplatzte die Flasche plötzlich und tauchte sie in einen glitzernden Scherbenregen. General Orel Erelis packte Umbraniel und schleuderte ihn gegen die Wand. Zwei Vogelmenschen fassten Emma an den Armen, damit sie nicht einmal versuchen konnte, das Gift, das sich auf sie ergossen hatte, aufzulecken.
»Nein!«, protestierte Emma.
Der General wandte sich von Umbraniel ab und war mit zwei schnellen Schritten bei ihr. Mit wutverzerrtem Gesicht krallte er eine Hand in ihre Haare und zwang ihren Kopf in den Nacken. Mit der anderen Hand umfasste er ihr Kinn und übte so starken Druck auf ihren Kiefer aus, dass sie gegen ihren Willen den Mund öffnen musste. Ein vierter Vogelmensch kam herbei, klemmte die Öffnung der Medizin-Flasche zwischen ihre Zähne und ließ sie so viel von der bitteren Flüssigkeit schlucken, dass sie beinahe daran erstickt wäre. Röchelnd, hustend und spuckend krümmte sie sich im festen Griff des Generals. Durch die Bewegungen flammte der Schmerz in ihren Schultern auf, verschlang sie wie ein Höllenfeuer und brach dann urplötzlich ab.
Emma sackte auf der Polsterbank zusammen. Ihre Umgebung schien sich zu entfernen, als würde sie in einen langen, dunklen Tunnel gesaugt. Kaum hatte sie das gedacht, wurde es auch schon finster um sie herum.
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