46. Verloren [2]
Im Rauchsalon warteten bereits einige andere Schlossbewohner. Rasputin und sein Sohn waren vor einigen Wochen in den Ostflügel des Schlosses gezogen. Zum Einen, damit Kamilla öfter auf Camio aufpassen konnte, zum Anderen, weil sie Zwischenfälle zwischen Dämonen und Menschen, wie sie in der Vergangenheit geschehen waren, um jeden Preis vermeiden wollten. Außerdem gab es auf dem neuen Schloss Baronstett genug Platz, um die ganze Stadt zu beherbergen. Diesen Umstand nutzten auch Joseph und Laurent, die den Südflügel bezogen hatten, weil ihnen klargeworden war, dass sie unmöglich weiterhin über der Schule wohnen konnten, in Räumen, die sich ohne ihre Kinder schrecklich leer und verlassen anfühlten.
Emma setzte sich zu Rasputin auf die mit dunkelrotem Damast bespannte Chaiselongue und musterte Camio, der in den marmornen Kamin geklettert war und sich inmitten der tanzenden Flammen zum Schlafen zusammengerollt hatte. Obwohl seit dem Vorfall im Kloster Pax Angelus weniger als vier Monate vergangen waren, schien es, als wäre er seitdem um mehr als ein Jahr gealtert. Man konnte ihn mit Leichtigkeit für einen zwei- oder sogar dreijährigen Jungen halten.
»Du hast Recht, Mensch«, sagte Rasputin, als sie ihn darauf ansprach. »Meine Brut altert derzeit schneller als ein sterbliches Kind. Das muss sie auch.«
»Weshalb?«, fragte Emma.
Die Glut im Blick des Dämons flackerte. »Weil meine Brut seine Lebensspenderin verloren hat.«
»Du meinst, Camio altert wortwörtlich schneller, weil Savannah tot ist?«
Rasputin nickte zufrieden. »Das wird ihm das Überleben sichern. Schon bald wird er es mit jedem sterblichen Wesen aufnehmen können – und in ein paar Monaten werden es sich auch die unsterblichen Wesen zweimal überlegen, ob sie es wagen, ihn anzurühren.«
»Das ist... gut«, meinte Emma zögernd. Sie mochte Camio wirklich gern, aber sie sorgte sich mehr um die sterblichen Wesen, die seinen Weg kreuzten, als um den Wechselbalg selbst.
»Ah, ihr seid schon alle hier«, bemerkte Kilian beim Betreten des Salons.
Kamilla und Derrick, die mit ihm gekommen waren, rangelten um den Polstersessel direkt am Kamin. Die Baronin setzte sich durch, indem sie dem eher schmächtigen Derrick einen Stoß mit ihrem ausladenden Hinterteil versetzte. Er fing sich an der Wand ab, fluchte leise und ließ sich auf die schmale Holzbank fallen, die den ganzen Raum umgab.
Kilian schüttelte kurz den Kopf, als würde er sich über das Benehmen seiner Schwester und seines besten Freundes wundern, dann bemerkte er Miragel und das gleichmütige Lächeln auf seinen schmalen Lippen. »Alles in Ordnung mit dir, Miragel?«
»Das ist es«, antwortete der Elf fröhlich.
»Willst du die Neuigkeit verkünden?«, fragte Kilian.
Miragel schüttelte den Kopf. »Nein. Die Ehre gebührt allein Euch.«
»Na schön«, seufzte Kilian. »Also, ich habe der Morgena unseren neuen Kurs mitgeteilt. Wenn Derricks Berechnungen und die des Sternenzählers stimmen, werden wir heute Abend die-«
»Albsphäre erreichen!«, platzte es aus Miragel heraus. »Die Heimat der Elfen. Das heißt, meine Heimat und die Heimat meiner Vorfahren.« Er senkte beschämt den Kopf. »Verzeiht, Baron. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
»Das bedeutet, dass wir nur noch wenige Sphären vom Reich des Königs aller Welten entfernt sind«, ergänzte Kilian, den Ausbruch seines obersten Beraters ignorierend.
Derrick beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Und das heißt wiederum, dass wir die letzten Details unseres Plans festzurren müssen.«
»Jede Bewegung und jeder Handgriff muss sitzen«, stimmte Joseph ihm zu. »Sonst werden wir scheitern.«
»Wir sind diesen Plan doch schon tausend Mal durchgegangen«, ächzte Laurent und deutete auf die Karte, die Derrick vor ein paar Wochen an die holzvertäfelte Wand genagelt hatte. »Masumi, Belle, Nori, Derrick, Anoushka und ich werden das Ablenkungsmanöver anführen. Die Morgenwind wird aus allen Rohren Blitze und Wasserstrahlen verschießen und den Geflügelten damit hoffentlich eine Heidenangst einjagen. Derweil werden die Prinzessin, Ihr, Eure Schwester, Rasputin, Miragel, Joseph und Harrod durch den geheimen Tunnel in den Palast eindringen, um den König zu befreien und den Kaiser der Vogelmenschen zu töten.«
Um von diesem geheimen Teil ihres Plans abzulenken, hatte Masumi extra mechanische Puppen gebaut, die Kilian, Kamilla und der Prinzessin zum Verwechseln ähnlich sahen. Diese Finte sollte Kilian und seinem Team genug Zeit verschaffen, um die Befreiungsoperation und den Anschlag auf den Kaiser durchzuführen.
»Was ist mit uns?«, beschwerte sich Karel.
»Ja, genau«, maulte Klarissa. »Wir wollen auch mitkommen und kämpfen.«
»Ihr werdet bei Emma auf der Morgenwind bleiben. Darauf hatten wir uns doch schon geeinigt«, sagte Kilian scharf.
Karel schlug mit der Faust auf das Polster seines Sessels. »Aber das ist unfair!«
»Karel!«, zischte Kamilla. »Es reicht. Wir hätten euch auch auf der unteren Welt zurücklassen können.«
»Vielleicht hättet ihr das tun sollen«, gab ihr kleiner Bruder zurück. »Wenn wir ohnehin nicht kämpfen dürfen, hättet ihr uns genauso gut einfach abschieben können.« Er erhob sich aus seinem Sessel. »Aber das ist nicht richtig! Klarissa und ich sind auch Barone von Morgen.« Bei diesen Worten umfasste er den Leuchtenden, den er um den Hals trug. »Siehst du das, Bruder? Vater hat uns diese Reliquien vermacht. Wir gehören dazu. Das kannst du nicht leugnen.«
Kilian verschränkte die Arme vor der Brust. »Und das tue ich auch nicht«, erwiderte er. »Deswegen seid ihr hier und nicht in Pax Angelus, so wie die anderen Kinder.« Als Karel protestieren wollte, hob er die Hand und brachte ihn mit einer ungeduldigen Geste zum Schweigen. »Aber ich bin nicht nur dein älterer Bruder, sondern auch der Baron von Morgen, der Nachfolger unseres Vaters. Du wirst mir weder verbieten können, dass ich mich um dich und deine Schwestern sorge, noch, dass ich euch vom schlimmsten Kampfgetümmel fernzuhalten versuche.« Dabei nickte er in Emmas Richtung. »Ihr werdet bei Emma bleiben und die Morgenwind gegen die Vogelmenschen und ihre Megamon verteidigen. Diese Aufgabe ist nicht weniger ruhmreich als das, was Kamilla und ich tun werden.«
»Mal ganz davon abgesehen, dass es bei dieser Angelegenheit nicht um Ruhm und Ehre geht«, ergänzte Miragel. »Wer das nicht verstanden hat, hat auf dem Schlachtfeld nichts verloren.«
»Unfug!«, grollte Karel. Seine Stimme bebte wie eine angeschlagene Gitarrensaite. »Ihr wollt nur nicht, dass der König aller Welten sieht, zu was wir in der Lage sind.«
Er machte Anstalten, sich umzudrehen und aus dem Salon zu flüchten, doch Kilian kam ihm zuvor, fasste sein Handgelenk und hielt ihn fest. »Warte, Karel«, sagte er. »Ich versichere dir, das ist nicht meine Absicht.« Er blickte zu Kamilla, die ihm unauffällig zunickte. Daraufhin drückte er seinen Bruder neben Klarissa in den Sessel und fasste beide Geschwister an den Schultern. »Kamilla und ich, wir lieben euch. Und wir wissen auch, dass ihr kämpfen könnt. Immerhin haben wir euch selbst ausgebildet. Aber ihr seid noch jung. Und falls Kamilla und ich nicht zurückkehren sollten, muss irgendwer die Entscheidungen auf der Morgenwind treffen. Es wird an euch sein, zu entscheiden, wann es Zeit zum Rückzug ist. Falls Kamilla und ich versagen sollten, müsst ihr die Flucht der Morgenwind organisieren.«
»Nein«, widersprach Klarissa mit Tränen in den Augen.
Kilian nickte langsam. »Das wird nicht leicht sein. Und ich wünschte, ich könnte euch einen guten Ratschlag mit auf den Weg geben, aber ich weiß nicht, wie ich in eurer Situation handeln würde, falls alle unsere großen Pläne scheitern und die Morgenwind den Vogelmenschen und ihren Megamon in der Schlacht unterliegen sollte. Das müsst ihr entscheiden. Wichtig ist nur, dass ihr es zusammen tut. Nichts und niemand darf euch auseinander bringen. Schließlich seid ihr-« Kilians Stimme versagte und er brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln. »Ihr seid Geschwister. Barone von Morgen, so wie du gesagt hast, Karel.«
Der junge Baron von Morgen wirkte nach diesen Worten gar nicht mehr so aufgebracht und trotzig. Mit verzerrter Miene starrte er an die Decke, auf die tanzenden Schatten, die das Kaminfeuer verursachte. Neben ihm begann Klarissa leise zu weinen. Dann rutschte sie aus den Polstern und umarmte Kilian. »Ich will nicht, dass ihr sterbt.«
»Das werden wir schon nicht«, sagte Kamilla. »Aber falls doch oder falls der Kaiser der Vogelmenschen uns gefangennehmen sollte, liegt es an euch, die Überlebenden und die Morgenwind in Sicherheit zu bringen.«
Karel schniefte, starrte aber weiterhin an die Decke.
Kilian löste Klarissas Arme von seinem Hals und schob sie zurück auf den Sessel. »Was auch passiert, haltet zusammen«, sagte er streng. »So wie Kamilla und ich immer zusammenhalten.«
Emma schluckte schwer. Sie musste an ihre Familie denken. Jedenfalls an den Teil der Familie, der ihr etwas bedeutete. Nur zu gern hätte sie jetzt ihre Mutter und ihre Schwester umarmt und ihnen gesagt, wie sehr sie sie liebte, ganz egal, was in der Vergangenheit vorgefallen war. Es spielte ohnehin keine Rolle. Dass ihre Mutter Depressionen hatte und mehrfach den Versuch unternommen hatte, sich umzubringen. Dass ihre Mutter zugelassen hatte, dass Männer über ihr Leben und das ihrer Kinder bestimmten. Dass Emma ihr dieses Verhalten mal mehr und mal weniger offen zum Vorwurf gemacht hatte. Dass sich ihre kleine Schwester wie eine kleine Prinzessin verhielt und so tat, als würde sich die Welt allein um sie drehen. Nichts davon spielte eine Rolle. Letztendlich waren sie alle nur Menschen, die sich bemühten, ihr Leben irgendwie auf die Reihe zu kriegen, und regelmäßig an den Herausforderungen scheiterten. Dabei hatten sie viele dieser unüberwindbaren Hürden selbst gezimmert – mit harschen, unüberlegten Worten und überzogenen Ansprüchen. Es ärgerte sie, dass sie jetzt wohl nie die Gelegenheit bekommen würde, alles wiedergutzumachen.
*
Später am Abend waren Emma und Kilian auf dem Weg zur Stadtmauer, so wie die meisten anderen Bewohner der Morgenwind. Miragel hatte ihnen versprochen, dass sie von dort aus eine wunderschöne Aussicht auf die Albsphäre haben würden. Vielleicht würden sie sogar einen Teil seiner Heimatwelt sehen können, die er ihnen im Verlauf des Abendessens in den allerbuntesten Farben beschrieben hatte.
»Denkst du, Karel hat verstanden, was ich ihm sagen wollte?«, fragte Kilian und schwenkte den Picknickkorb, den Emma kurzentschlossen mit den Resten des Abendessens befüllt hatte. Der Anblick des Korbs erinnerte sie an ihr erstes Date mit dem Baron, ein Abend, an den sie trotz der anschließenden Verwicklungen und Katastrophen gern zurückdachte.
»Was du zu ihm gesagt hast, war wirklich bewegend«, meinte Emma.
»Findest du?«
Emma nickte nachdrücklich. »Du bist ein guter Baron und ein noch viel besserer großer Bruder.«
Daraufhin schwieg Kilian. Er wirkte fast ein wenig vor den Kopf gestoßen. Vermutlich hielt er sich selbst für einen schrecklichen großen Bruder und einen noch viel schlechteren Baron. Das hätte jedenfalls zu dem strengen und ewig selbstkritischen Kilian gepasst, den Emma kennen und lieben gelernt hatte. »Du bist doch nicht wütend auf mich, oder?«, fragte er schließlich.
Emma wandte sich vom Anblick des schillernden Himmels ab. »Weswegen sollte ich wütend auf dich sein?«
»Weil ich nicht will, dass du mich nach Schloss Allezeit begleitest«, antwortete Kilian und wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum, um ein neugieriges Glühwürmchen zu vertreiben. »Du verstehst doch, warum ich das nicht möchte, oder nicht?«
Emma seufzte. »Natürlich verstehe ich das.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte sie nicht über dieses Thema sprechen wollen, aber jetzt erkannte sie, dass es wohl besser war, ihm die Wahrheit zu sagen. »Um ganz ehrlich zu sein, war ich im ersten Moment schon etwas enttäuscht. Immerhin habe ich hart trainiert, um mit dir mithalten zu können.«
»Das stimmt«, sagte Kilian. »Du bist viel stärker, schneller und geschickter geworden. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Danke«, brummte Emma. Es wunderte sie inzwischen nicht mehr, dass Kilian trotz seines guten Aussehens noch keine Freundin gehabt hatte. Charme war jedenfalls nicht sein zweiter Vorname. »Aber inzwischen bin ich über diese Enttäuschung hinweg«, fuhr Emma fort. »Ich habe eingesehen, dass es besser ist, wenn ich hier bleibe und die Kämpfer auf der Morgenwind unterstütze.«
Sie bogen auf einen Trampelpfad ein, der zwischen zwei Tomatenfeldern hindurchführte. Immer wieder schimmerten die Lichter von Laternen durch die langen Reihen baumhoher Tomatengewächse. Davon abgesehen, schienen sie an diesem Ort vollkommen unbeobachtet zu sein.
Kilian musste das auch erkannt haben, denn er blieb plötzlich stehen. Im Schein der Nordlichter, die den Himmel bedeckten, wirkte seine Miene hart und kalt. »Das heißt, was ich zu Karel und Klarissa gesagt habe, gilt auch für dich.«
»Welcher Teil?«, fragte Emma.
»Dass ihr den Rückzug der Morgenwind organisieren müsst, falls etwas schief gehen sollte«, erwiderte Kilian. Er maß Emma mit einem eindringlichen Blick. »Versprich mir das.«
Sein Blick sagte Emma, dass er nicht als Freund und Liebhaber zu ihr sprach, sondern als Baron von Morgen. Die ganze Last zahlreicher Vorfahren, die sich erfolglos an seinem Vorhaben versucht hatten, sprach aus seinem Gesicht. Kilian konnte hart sein. Hart zu sich selbst, aber auch zu seinen Mitmenschen. Doch Emma wusste inzwischen, dass sich dahinter bloß Furcht und Überforderung verbarg. Sie lächelte. »Ich verspreche es dir.«
Kilian presste die Lippen zusammen, schien für einen Moment nicht zu wissen, was er tun sollte, und wandte sich dann dem Himmel zu, der um diese Tageszeit immer eine dankbare Ablenkung bot. »Aber das andere meinte ich auch«, hörte sie ihn murmeln.
»Wovon redest du?«, fragte Emma. Es tat ihr beinahe weh, Kilian so zu sehen. So verloren und verängstigt.
»Von den anderen Dingen, die ich Karel und Klarissa gesagt habe«, meinte Kilian leise. Sein Blick wanderte über die Tomatenstauden, an denen sich bereits viele kleine Knospen zeigten. »Dass ich... also... dass ich sie liebe.« Er schien seinen Fehler zu bemerken und korrigierte sich rasch: »Natürlich liebe ich meine Geschwister nicht so, wie ich dich liebe, aber-«
»Du liebst mich?«, unterbrach ihn Emma, die nicht glauben konnte, dass sie diese Worte aus seinem Mund gehört hatte.
Kilian kratzte sich verlegen am Hals, wo der Kragen seiner Uniformjacke seine Haut streifte. »Nun... ich dachte, das versteht sich von selbst. Ich würde ja nicht mit einer Frau diese... Dinge tun, die ich nicht liebe.«
»Diese Dinge?«, wiederholte Emma und grinste in sich hinein. Ob sie Kilian jemals dazu bringen würde, das Wort Sex auszusprechen? Doch noch während sie darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass er bei diesem Wort die gleichen Hemmungen zu haben schien, die sie überkamen, wenn sie auch nur daran dachte, ihm ihre Liebe zu gestehen. Inzwischen war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihn tatsächlich liebte, doch diese Worte auszusprechen, erschien ihr beinahe unmöglich. »Ich empfinde das Gleiche für dich«, sagte sie daher. »Das wollte ich dir heute Mittag auf der Brücke schon sagen, aber da war nicht der richtige Zeitpunkt.«
Kilians Gesicht schien weicher zu werden und die Anspannung wich aus seinen Schultern. »Es ist schön, das zu hören.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Lass uns gehen. Die Morgenwind wird gleich die Atmosphäre-Kuppel abschalten, damit wie die Albsphäre sehen können.«
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