35. Matrjoschka [1]
»Nun komm schon, Emma«, drängte Kilian und joggte ungeduldig auf der Stelle. Emma warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Dabei war sie es selbst, die sich diesen Ärger eingebrockt hatte.
»Du hast doch gesagt, du würdest gern trainieren«, sagte Kilian.
»Ja, mit dem Schwert«, erwiderte Emma, während sie sich mit einer Hand an der feuchten Tunnelwand abstützte und die klamme Luft in ihre überanstrengten Lungen saugte. Ihre Beinmuskeln brannten und ihr Herz pochte wie ein Presslufthammer.
»Das Schwert ist nur eine Verlängerung deines Körpers«, sagte Kilian oberlehrerhaft. »Bevor wir also zum Fechttraining kommen, gilt es, deinen Körper in Form zu bringen.«
Emmas Blick wurde noch finsterer. »Hast du etwas an meinem Körper auszusetzen?«
»Keineswegs«, gab Kilian zurück. Er schien nicht einmal zu merken, wie nah er sich am Abgrund bewegte. »Mir gefällt dein Körper sehr gut, aber als Waffe scheint er derzeit noch ungeeignet zu sein.«
»Gut gerettet«, brummte Emma, richtete sich auf und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Dann rückte sie ihre Jogginghose zurecht und zupfte an dem verschwitzten T-Shirt, das ihr wie eine Salami-Pelle am Körper klebte. Beides hatte sie sich von Derrick geliehen. Sportschuhe hatte sie von Klarissa bekommen. Kilian, der sich anscheinend nicht vor scharfen Kanten oder Splittern fürchtete, joggte barfuß.
»Komm, es ist nicht mehr weit«, meinte der Baron aufmunternd und trabte langsam los, den dunklen Tunnel hinunter, der durch den Bauch der Morgenwind führte. Emma folgte ihm widerwillig.
Schon bald konnte sie das Dröhnen von Elektrizität vernehmen. Es musste von den Kabeln stammen, die vom Gewitterfels zur zentralen Blitz-Verteil-Station führten. Das Summen und Brummen wurde immer lauter. Schließlich verlangsamte Kilian seine Schritte und streckte die Hand nach Emma aus. »Vorsicht.«
Zuerst verstand Emma nicht, was er damit meinte, doch dann entdeckte sie das Kabel, das sich von der Decke gelöst hatte. Als sie näher kamen, zuckte es wie eine Schlange, der man den Kopf abgeschlagen hatte. Funken sprühten aus seinem losen Ende. Kilian und Emma machten einen großen Bogen um das wild gewordene Kabel.
»Die Blitzkanonen waren nicht besonders effektiv gegen die Geflügelten, oder?«, fragte Emma, während sie wenig später hintereinander eine Wendeltreppe hinaufstiegen. Das engmaschige Metallgitter vibrierte unter ihren Füßen. Die ganze Treppe schien im Takt ihrer Schritte zu schwingen.
»Nein«, antwortete Kilian zerknirscht. »Die Entladungen konnten sie leider nicht aufhalten.«
»Hast du mal darüber nachgedacht, die Bewaffnung der Morgenwind zu verändern?«
Kilian sah sich nach ihr um. »Wie meinst du das? Die Blitzkanonen gehören schon seit Jahrhunderten zu unserer festen Bewaffnung. Wir sind immer gut damit ausgekommen.«
»Na ja, bis letzte Woche«, gab Emma zurück und versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, um Kilian nicht auf die Füße zu treten.
Der Baron seufzte schicksalsergeben. »Lass mich raten. Du hast wieder einen Ratschlag für mich.«
Emma zuckte mit den Schultern. »Ich bin deine Beraterin. Das hast du selbst gesagt.« Ein Blick in Kilians amüsiertes Gesicht ließ sie erkennen, dass er sich nur über sie lustig gemacht hatte. Erleichtert setzte sie zu einer Erklärung an: »Die Geflügelten scheinen sich vor Blitzen nicht besonders zu fürchten. Ganz anders sieht es dagegen mit Wasser aus. Das scheint ihnen eine Heidenangst zu machen. Zurecht, wenn man bedenkt, was es mit ihren Flügeln anstellt.«
»Du denkst also darüber nach, die Geflügelten mit Wasser zu attackieren?«, schloss Kilian, während er die letzten Treppenstufen hinaufsprang und sich nach der Luke am oberen Ende der Treppe streckte.
»Das wäre doch eine Möglichkeit, oder nicht?«, erwiderte Emma. »Ich weiß natürlich nicht, ob es funktionieren wird, aber es wäre doch einen Versuch wert.«
Kilian stemmte die Luke auf. Mit einem leicht belämmerten Lächeln betrachtete Emma, wie sich sein Bizeps dabei an - und wieder entspannte. Himmel, Emma! sagte sie zu sich selbst. Du bist doch nicht mehr vierzehn.
»Scheint, als hättest du mich nicht angelogen«, meinte Kilian, nachdem er einen Blick durch die Luke auf ihre Umgebung geworfen und sich vergewissert hatte, dass sie nicht in Gefahr schwebten.
»Womit?«, fragte Emma.
Kilian lächelte und streckte die Hand aus, um ihr auf die Leiter zu helfen, die ins Freie führte. »Man scheint dich wirklich gut zur Beraterin ausgebildet zu haben.«
Emma zog es vor, ihm nicht zu sagen, dass ihre grandiose Ausbildung lediglich aus einigen Fortbildungen zu den Themen Kundenumgang und Teamfähigkeit bestanden hatte. Das beste an diesen Veranstaltungen war noch das Mittagsbuffet gewesen. Schon bei der Erinnerung daran lief ihr wieder das Wasser im Mund zusammen.
Um sich nichts anmerken zu lassen, nahm sie Kilians Hand, deutete einen höfischen Knicks an, den er mit einem schiefen Grinsen quittierte, und machte sich dann an den Aufstieg.
*
Die letzte Steigung zu Anoushkas Hexenhaus legte Kilian im entspannten Trab und Emma im Noch-ein-Schritt-und-ich-sterbe-Trott zurück. Der kalte Wind trocknete ihren Schweiß und ließ sie frösteln. »Ich kann nicht mehr«, ächzte sie schließlich, obwohl sie das Ziel schon ganz klar vor Augen sah.
Erschöpft blieb sie stehen und stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab. Sie hatte das Gefühl, zu dampfen, genau wie Laurent nach seiner Verwandlung, aber vermutlich war das nur Einbildung. Eine fette Schweißperle tropfte ihr vom Kinn. Wahnsinnig sexy, dachte sie mit einem bitteren Geschmack im Mund. Ihren Ex-Partnern hätte sie sich erst nach einigen Monaten Beziehung in diesem desolaten Zustand gezeigt.
Es war nicht das erste Mal, dass ihr auffiel, wie seltsam sich ihre Bekanntschaft mit Kilian entwickelte. Die zeitliche Abfolge ihres Kennenlernens schien vollkommen aus den Fugen geraten zu sein. Manchmal fühlte es sich so an, als wären sie schon ewig zusammen, dann wurde ihr wieder bewusst, dass sie es nach gängiger Auffassung nicht einmal bis zur ersten Base geschafft hatten. Dazu kam ihre eigene Zeitleiste, die sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen schien. Plötzlich kam sie sich wieder wie ein Teenager vor. Mit Kilian fühlte sich alles so neu und unverbraucht an. Vielleicht lag das an ihrer fremden Umgebung, ihrer Situation oder auch daran, dass Kilian selbst so unbedarft war, was Liebesdinge anging. Was auch immer der Grund für dieses Gefühl war, es fühlte sich großartig an.
»Es sind nur noch ein paar Meter«, meinte Kilian mit einer Geste in Richtung des kleinen Hexenhäuschens, das sich an die Bergflanke drückte. »Schaffst du es bis dahin?«
Emma schwankte. »Kleinen Moment noch«, presste sie heraus. »Nur einen kleinen Moment noch.«
»Wir sollten nicht so lange unter freiem Himmel herumlungern,« sagte Kilian. Ehe sich Emma versah, hatte er sie schon gepackt und auf die Arme gehoben. Eines musste man ihm trotz seiner Unbedarftheit lassen, wirklich schüchtern war er nicht. »So geht es schneller«, teilte er ihr mit und trug sie über das Felsplateau zu Anoushkas Unterkunft.
Emma entspannte sich auf seinen Armen und kam dadurch langsam wieder zu Atem. Ihr Blick wanderte über Anoushkas Vorgarten, in dem seltsam fleischige und pelzige Gewächse wucherten. Bei diesem Anblick musste sie an den fleischfressenden Wirsing denken, den Anoushka am Morgen erwähnt hatte. Um was für eine Teufelei es sich dabei auch immer handelte, sie wollte ihr besser nicht begegnen.
»Anoushka?«, rief Kilian und drückte die Tür, die einen Spalt weit geöffnet war, mit dem Fuß auf. Allem Anschein nach hatte Anoushka keine Angst vor den Vogelmenschen, auch wenn Emma nicht glaubte, dass sie sich von einer geschlossenen Tür aufhalten gelassen hätten.
»Kommt nur rein!«, ertönte Anoushkas Stimme.
Kilian ließ Emma langsam zu Boden gleiten. »Sei vorsichtig«, ermahnte er sie. »Nichts anfassen.«
Gemeinsam betraten sie das Innere des Hexenhäuschens und blickten sich suchend um. Doch bis auf die Puppenhäuser an der Rückseite des Zimmers, das Sofa mit dem Leopardenfell-Muster, den Hexenkessel und die Traumfänger, Kräuter und toten Tiere, die von der Decke baumelten, war der Raum leer. Als Lichtquelle diente eine einzelne Kerze, die vor dem einzigen Fenster der Hütte stand. Davon abgesehen, war es fast vollständig finster.
Erst als sich Emmas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte sie das Licht, das hinter den Fenstern eines der Puppenhäuser brannte. Vorsichtig trat sie näher. Die Kunstfertigkeit und Detailverliebtheit, die in die Anfertigung der Spielzeughäuser geflossen war, beeindruckte sie. Die Häuser sahen absolut echt aus. Wie richtige Häuser, die von einem Schrumpf-Strahl getroffen worden waren.
»Wo bist du, Anoushka?«, fragte Kilian.
»Einen Moment«, antwortete die Hexe. »Das haben wir gleich.«
Plötzlich wurde Emma von einer violett schimmernden Wolke eingehüllt, die stark nach angebrannter Vanilleschote roch. Sie musste unwillkürlich niesen.
»Emma? Alles in Ordnung?«, hörte sie Kilian fragen.
»Ja, alles gut. Es ist nur-« Ein weiteres Niesen schnitt ihr das Wort ab. Ein Schauer überlief sie, wie der Vorbote einer saftigen Erkältung. Derweil breiteten sich die Wolke und der Gestank in der ganzen Hütte aus. Mit zu Schlitzen verengten Augen bahnte sich Emma ihren Weg zurück zu Kilian. Jedenfalls vermutete sie, dass sie sich in seine Richtung bewegte, denn sehen konnte sie ihn nicht mehr. »Kilian?« Die Worte hatten kaum ihren Mund verlassen, da stolperte sie über etwas Schmales, Längliches. Verwirrt senkte sie den Blick und erkannte, dass es sich um einen dünnen Holzstab mit angespitzten Enden handelte, etwa so dick wie ihr Unterarm.
»Emma!« Kilian tauchte aus dem violetten Nebel auf. »Da bist du ja.«
»Was ist das?«, fragte Emma, womit sie einerseits den stinkenden Dunst, andererseits den seltsamen Holzstock meinte, über den sie beinahe gefallen wäre.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kilian. »Das hat sie noch nie gemacht.« Sein Kopf fuhr herum, als hätte er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen.
»Was ist?«, hauchte Emma alarmiert.
Kilian antwortete nicht, sondern starrte angestrengt in den Dunst. Dann streckte er die Hand nach dem Holzstab aus. Mit einem mulmigen Gefühl reichte ihm Emma die Waffe. Dabei fiel ihr wieder ein, woran sie die Form des Stocks erinnerte.
»Du, Kilian«, flüsterte sie.
»Ja?«, erwiderte er und fasste den Stab wie ein Schwert mit beiden Händen.
»Ich glaube, was du da in den Händen hältst, ist ein Zahnstocher.«
Vor lauter Überraschung verlor Kilian kurz seine Körperspannung. Genau auf diesen Moment schien das Ungetüm gewartet zu haben. Acht Beine und ein plumper, ovaler Körper tauchten aus dem Dunst auf. Zwei haarige Fangarme und genau so viele mit Dornen besetzte Kieferklauen tasteten nach Kilian. Er fuhr herum und wehrte sie mit seinem Stock ab. »Lauf! Emma!«
Emma war jedoch wie erstarrt. Genau wie bei ihrer ersten Begegnung mit General Orel Erelis konnte sie sich nicht vom Fleck bewegen. Sie war regelrecht festgefroren.
Das Ungeheuer setzte zu einem erneuten Angriff an. Die Fangarme schossen vor und zwangen Kilian dazu, sich mit einem geschmeidigen Sprung außer Reichweite zu bringen. Noch in der Bewegung ließ er seinen Stock auf den Rücken der abscheulichen Kreatur niederfahren. Daraufhin sonderte das Wesen eine beißend riechende Flüssigkeit ab.
Kilian zog sich mit einem schnellen Schritt zurück. »Emma!«, rief er erneut. Als sie nicht reagierte, schlug er dem Ungeheuer eins der acht Beine weg und kämpfte sich zu ihr durch, wobei er der Flüssigkeit ausweichen, die tastenden Fangarmen abwehren und seinen Stock zwischen die mahlenden Mundwerkzeuge der Kreatur rammen musste. Wieder bei ihr angekommen, packte er sie grob am Arm. »Wach auf!«
Emma schnappte nach Luft. Das Gefühl kehrte zu ihr zurück, in ihre Glieder, aber auch in ihren Kopf. Sie stieß einen Schrei aus und rannte instinktiv los. Kilian folgte ihr. Sie rannten in den Nebel hinein bis er sich vor ihren Augen lichtete und den Blick auf eine seltsame Landschaft freigab, die Emma noch fremdartiger erschien als die Oberfläche des Mondes.
»Es ist noch hinter uns!«, rief Kilian, als ihre Schritte langsamer wurden. Sofort erhöhte Emma wieder das Tempo. Adrenalin rauschte durch ihre Adern und sie musste mit Gewalt den Impuls unterdrücken, sich umzudrehen.
Kilians Schrei war es, der ihre Selbstbeherrschung zerstörte. Sie fuhr herum und konnte gerade noch sehen, wie er hart auf dem Boden aufkam. Er überschlug sich, rollte ab und überschlug sich erneut. Dann kam er zum Liegen.
»Kilian!«, keuchte Emma und rannte ohne darüber nachzudenken in seine Richtung. Das spinnenartige Ungeheuer versperrte ihr den Weg. Halb vor Schreck, halb vor Erschöpfung verlor sie den Halt und landete auf dem Hintern. Sie hatte gerade noch die Zeit, abwehrend die Arme hochzureißen, da war das Monster heran. Die Fangarme streckten sich nach ihr, als wollten sie sie in eine tödliche Umarmung ziehen.
Im nächsten Moment tauchte ein noch größeres Monster aus dem Nebel. Eine gigantische schwarze Katze begrub das Spinnen-Monster unter ihren nicht weniger gigantischen Pfoten.
Diesmal verfiel Emma nicht in Schockstarre. Während die Riesen-Katze noch mit ihrer Beute spielte, rappelte sie sich auf und hastete zu Kilian, der gerade wieder zu sich kam.
»Schnell!«, zischte sie und half ihm auf die Beine. »Solange sie noch abgelenkt ist.«
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