34. Kriegsrat [1]
Emma betrachtete Kilians Uniformjacken, die vor ihr auf dem Bett ausgebreitet lagen. Keine davon war schwarz. Alle wiesen Spuren der Vernachlässigung auf. Die goldenen Stickereien waren verblasst, die Knöpfe, Borten und Tressen lösten sich ab, die Fransen waren verknotet und die Epauletten unförmig und verschlissen. Die Uniformen selbst boten keinen besseren Anblick. Bei einer von ihnen, einer hübschen weißen Galauniform, hing sogar das Rückenteil in Fetzen. Es sah fast so aus, als wäre ihr Träger von einer großen Klaue oder Pranke erwischt worden.
»Großer Gott, Kilian«, ächzte Emma. »Was hast du damit gemacht?«
»Oh, das war der Drache«, antwortete Kilian, ohne von dem Buch, in das er vertieft war, aufzusehen. »Er ist am Geburtstag meines Vaters hier aufgetaucht.«
»Du hast in diesen Klamotten gegen einen Drachen gekämpft?«
»Ich hatte keine Wahl«, erwiderte Kilian mit einem lässigen Achselzucken. Dann ging er zum Bett, stellte den Nähkorb, den Emma von Kamilla erhalten hatte, beiseite und ließ sich auf die Stroh-Matratze sinken. »Es sieht so aus, als hätte Rasputin die Wahrheit gesagt«, meinte er nachdenklich, während er langsam durch das Tagebuch seines Vaters blätterte. »Mein Vater hat ihm Unterschlupf auf der Morgenwind gewährt, wenn er im Austausch dafür meiner Mutter einen Zufluchtsort auf der unteren Welt organisiert und sie beschützt.«
»Das klingt ja großartig«, sagte Emma, während sie sich die Uniform mit den stärksten Beschädigungen heraussuchte und sie im Licht, das durch die Fenster hereinfiel, eingehend musterte. Es würde eine Weile dauern, die Uniform wieder auf Vordermann zu bringen. Aber wenigstens hatte sie so etwas, mit dem sie sich die Zeit vertreiben konnte. Außerdem gefiel ihr die Vorstellung, dass Kilian die Uniform irgendwann tragen würde. Irgendwann, wenn die Zeit für schwarz vorbei war.
»Wir müssen herausfinden, wo sich meine Mutter versteckt. Wenn der Ort wirklich sicher ist, können wir dort vielleicht auch die Kinder unterbringen«, murmelte Kilian.
Emma nickte zustimmend und drehte die Uniform hin und her. Es ärgerte sie, dass sie ihre Nähmaschine nicht zur Hand hatte. Damit wäre alles viel schneller gegangen.
»Du hörst mir gar nicht wirklich zu«, bemerkte Kilian amüsiert.
»Tut mir leid«, seufzte Emma und ließ die Uniform sinken. »Wenn ich mich mit Nähzeug und Kleidung beschäftige, vergesse ich alles um mich herum.« Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Aber ich habe dir zugehört. Wenn wir deine Mutter finden, finden wir vermutlich auch einen Unterschlupf für die Kinder.«
»Klingt das nach einer guten Idee, meine Beraterin?«, fragte Kilian.
Emma schmunzelte. »Ja, das tut es.« Sie warf die Uniform aufs Bett und zog eine der langen Stricknadeln aus dem Nähkorb. »Am besten reden wir mit Rasputin darüber. Er wird uns bestimmt helfen. Aber zuvor...« Mit diesen Worten richtete sie die Nadel auf Kilian. »En garde.«
»Was meinst du damit?«, fragte Kilian und betrachtete die Nadel, die in seine harte Brust stach. Seine Brustmuskeln waren durch den dünnen Stoff seines weißen Hemds gut zu sehen. Noch dazu war die Kordel, die das Hemd zusammenhielt, nur nachlässig geschnürt, sodass Emma freie Sicht auf sein Schlüsselbein und die Vertiefung zwischen seinen Pectoralis-Muskeln hatte. Seine Hämatome und Rippenbrüche waren dank Miragel und Anoushka in der vergangenen Woche fast vollkommen verheilt. Eine feine Schicht hellbrauner Haare bedeckte seine Brust. Normalerweise hätte Emma das nicht besonders attraktiv gefunden, aber zu Kilian passte es irgendwie. Er war nicht der Typ Mann, der sich Gedanken um ein paar Haare machte und irgendwie fand sie das sehr anziehend.
»Na was wohl?«, entgegnete Emma. »Ich fordere dich zum Duell heraus.«
»Aber wieso?«, wollte Kilian wissen. »Du würdest sowieso verlieren.«
Emma verdrehte innerlich die Augen. »Dann musst du mir eben beibringen, wie man kämpft.«
Kilian schnappte sich die zweite Stricknadel. »Willst du das wirklich lernen?«
»Verteidige dich einfach«, sagte Emma, die sich weniger für das Kämpfen interessierte als dafür, ihn zu necken.
»Wie du willst«, seufzte Kilian, schlug ihre Nadel mühelos zur Seite und piekste sie mit der Spitze in den Bauch. Es ging so schnell, dass Emma nicht einmal den Versuch eines Abwehr- oder Ausweichmanövers unternehmen konnte.
»Na schön«, grollte sie und setzte ihrerseits zum Angriff an.
Kilian stand auf und ließ ihre Attacke ins Leere laufen. »Wenn du das wirklich lernen willst, kann ich dich gern trainieren, aber dann sollten wir mit der Beinarbeit anfangen, bevor wir zu den spitzen Gegenständen kommen.«
Emma sprang auf das Bett und attackierte ihn von oben, aber er sah den Angriff kommen und wehrte ihn mit seiner Nadel ab. »Du hältst wohl nichts davon, die Dame gewinnen zu lassen, oder?«, fragte Emma zerknirscht. Sie war noch nie besonders sportlich gewesen. Auch durch außerordentliche Geduld oder Disziplin hatte sie sich selten hervorgetan. Wenn sie sich im Fitness-Studio blicken ließ, dann nur aufgrund ihres schlechten Gewissens. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die durch Sport in eine Art Rausch gerieten und nach einer erfolgreichen frühmorgendlichen Jogging-Runde Fotos ihres Laufpensums auf Facebook oder Instagram posteten, garniert mit vielen Emoticons und Aussagen wie: Heute aus Versehen einen Halbmarathon gelaufen! Wenn sie sich zum Joggen überreden ließ, fand man sie danach halbtot im Straßengraben oder auf dem Sofa, wo man sie mit einer Tafel Schokolade wiederbeleben musste.
»Was hättest du denn davon, wenn ich dich gewinnen lassen würde?«, erwiderte Kilian.
»Die Frage ist doch nicht, was ich davon hätte«, sagte Emma, wechselte in einen lasziven Tonfall und beugte sich leicht nach vorne, um ihr Dekolleté in Szene zu setzen. »Sondern was du davon hättest.«
Ihre Worte hatten den erwünschten Effekt. Kilians Blick wurde wie magisch auf ihre Brüste gelenkt. Noch ehe er sich auf seine Manieren besinnen konnte, hatte Emma auch schon zugeschlagen. Doch anders als erwartet, wehrte er ihren Angriff sogar ohne hinzusehen ab. Fast als hätte er irgendeinen sechsten Sinn.
»Bockmist«, zischte Emma.
Kilian grinste. »So leicht kannst du mich nicht austricksen.« Er schlug Emmas Nadel beiseite, umfasste ihre Beine und ließ sich mit ihr zusammen aufs Bett fallen. Emma wurde unter ihm begraben, aber das war eine Version des Lebendig-verschüttet-seins, die sie ganz gut aushalten konnte.
Nachdem er sie ohne große Schwierigkeiten entwaffnet hatte, fesselte er sie mit seinem Gewicht auf die Matratze. Sie sahen sich in die Augen. Sein Blick war der eines Mannes, der von dem, was er sah, vollkommen vereinnahmt wurde. Diesen Blick hatten sich ihre Ex-Freunde für Fußball-Übertragungen aufgehoben. Auf diese Art und Weise angesehen zu werden, war beflügelnd und beängstigend zugleich. Es bewies Emma, dass die Prinzessin die Wahrheit gesagt hatte. Sie besaß Macht über Kilian. Und Macht über einen mächtigen Mann zu haben, war etwas Schönes und Unheimliches.
»Warum machen wir es nicht so?«, fragte sie, wobei sie die Arme um Kilians Hals schlang. »Du bringst mir das Kämpfen bei und ich bringe dir dafür... andere Dinge bei.«
Kilian spitzte spöttisch die Lippen. Eine widerspenstige Locke fiel ihm in die Stirn. Prinzen-Locke hatte Emma diese Problem-Haarsträhne getauft. »Und was für Dinge?«
»Na ja, so Dinge eben«, flüsterte Emma und hob das Kinn, sodass sich ihre Lippen fast berührten. Ihr wurde bewusst, dass sie sich noch nicht geküsst hatten. Trotzdem war da diese extreme Vertrautheit zwischen ihnen, die sie mit den meisten ihrer ehemaligen Partner erst viel später in der Beziehung empfunden hatte, wenn überhaupt. Gleichzeitig besaß Kilian genau das richtige Maß an Fremdartigkeit, um sie neugierig zu machen. Sie wollte gern wissen, wie sich seine Lippen anfühlten, wie sie schmeckten.
Kilian musste wohl genauso empfinden. Er stützte sich mit seinen Unterarmen links und rechts ihres Kopfes ab, beugte sich vor und hätte sie wohl beinahe geküsst, wenn nicht genau in diesem Moment Miragel durch die Tür hereingestürzt wäre.
»Herr Baron«, sagte er und bezog neben dem Bett Aufstellung, sodass es einfach unmöglich war, ihn zu ignorieren.
Emma sank zurück auf die Matratze und ächzte leise. Kilian schloss kurz die Augen, dann richtete er sich auf. »Ja, Miragel?«
»Wie Ihr gewünscht habt, sind jetzt alle im Speisesaal versammelt«, erklärte der Elf, der an diesem Tag eine schlichte, waldgrüne Robe trug, die ihm das Aussehen einer sturen, alten Tanne verlieh.
»Und diese Neuigkeit hätte nicht noch ein paar Minuten warten können?«, brummte Kilian, während er vom Bett kletterte.
»Ihr hattet gesagt, dass ich Euch so schnell wie möglich informieren solle.«
Emma verbarg ihre Enttäuschung, setzte sich auf und ordnete ihre Haare. »Was ist mit Rasputin? Soll ich vielleicht mal mit ihm sprechen? Mir scheint er zuzuhören.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Kilian und schlüpfte in seine Uniformjacke.
»Rasputin ist unten im Rauchsalon«, erklärte Miragel ohne Emma auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Es war fast, als hätten sie nie gemeinsam Verwundete verarztet. Anscheinend war sein Wohlwollen so flüchtig wie ein Aprilschauer.
»Dann sind nicht alle im Salon versammelt, oder?«, erwiderte Emma angriffslustig.
Miragel ignorierte den Einwand vollständig und begleitete Kilian zur Tür hinaus. Es fehlte nur noch, dass er ihr wie ein hochnäsiger Teenager aus einem amerikanischen High-School-Drama beim Hinausgehen einen abfälligen Blick zuwarf und leise Bitch raunte. Natürlich tat er nichts davon, aber Emma schmiedete trotzdem einen Racheplan. Sie würde sich die Sache mit Kilian nicht von Miragel kaputtmachen lassen. Wenn jemand diese Beziehung vor die Wand fuhr, dann sie selbst und kein eifersüchtiger Elf.
Mit ordentlich Wut im Bauch kletterte sie vom Bett, rückte ihr cremefarbenes Kleid zurecht und eilte zum Rauchsalon, wo sie, wie angekündigt, auf Rasputin und Camio traf.
»Weshalb bist du nicht bei den anderen im Speisesaal?«, fragte Emma.
Rasputin, der im Ohrensessel am Kamin saß, blickte nur kurz auf und wandte sich dann sofort wieder dem Kaminfeuer zu, in das er bis zu ihrem Eintreffen gestarrt hatte. »Ich weiß nicht, wie ich dem Baron von Nutzen sein soll. Was die Morgena benötigt, um in die oberen Sphären aufzusteigen, kann ich ihm nicht geben. Niemand kann das. Es ist zwecklos.«
»Was benötigt die Morgena denn?«, fragte Emma und nahm auf der Holzbank an der Seite des Salons Platz. Von dort konnte sie Camio beobachten, der vor dem Kamin auf dem Boden saß und mit einem verkohlten Holzscheit spielte. Dabei hinterließ er überall Ruß und Asche.
Rasputin faltete die Hände wie zum Gebet. »Wusstest du, dass die Morgena und ich uns nicht unähnlich sind?«
»Ihr könnt beide in den Träumen von Menschen erscheinen«, antwortete Emma. Ihr wurde bewusst, dass sie und Rasputin zum ersten Mal ernsthaft miteinander redeten, ohne dass er sie manipulierte und sie ihn dafür verabscheute.
Der Dämon nickte. »Ja, das auch. Wenngleich ich diese Gabe nicht kontrollieren kann. Es sind eher die Menschen, die mich in ihre Träume rufen.« Gedankenverloren fuhr er mit einer Hand über seinen Oberlippenbart. Derweil zog sich Camio am Kamin auf die Beine. Emma hatte gar nicht gewusst, dass er schon stehen konnte. »Aber es gibt noch etwas Anderes, das mich und die Morgena verbindet«, sagte Rasputin und maß Emma mit einem Blick, der wärmer war als die Hitze, die vom flackernden Kaminfeuer ausging. »Wir ernähren uns beide von Seelen. In meinem Fall sind es die Seelen der Menschen, die mich in ihr Bett lassen.«
»Du warst hinter meiner Seele her?«, hauchte Emma.
Rasputin hob fragend die Brauen. »Hinter was sonst?« Er lächelte schief. »Macht dir das Angst?«
»Ein bisschen«, antwortete Emma. Sie bildete sich ein, dass sie ihre Seele irgendwann noch brauchen würde. Spätestens dann, wenn es Zeit war, ins Jenseits zu verduften.
»Nun, wenn das so ist, kann ich dich beruhigen. Die meisten Inkubi ernähren sich von den Seelen der Menschen wie Blumen vom Sonnenlicht«, meinte Rasputin, während sich Camio nach den tanzenden Flammen streckte. Emma glaubte nicht, dass Feuer ein geeignetes Spielzeug für Kleinkinder darstellte, doch Rasputin machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten. »Im Gegensatz zu mir ernährt sich die Morgena seit jeher von den Seelen der Wesen, die auf der Morgenwind leben.«
»Dann ist das der Grund, aus dem die Morgenwind stirbt«, vermutete Emma.
Rasputin nickte langsam. »Ja. Es sind nicht mehr genug Wesen hier, um die Morgena zu ernähren.«
»Und um in die oberen Sphären aufzusteigen, muss die Morgena wieder zu Kräften kommen - und dazu benötigt sie Seelen.«
»Eine Unmenge an Seelen«, ergänzte der Dämon. »Mit einer einmaligen Fütterung wird es nicht getan sein.«
»Verdammt«, grollte Emma, als ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation klar wurde. »Was sollen wir bloß tun?«
Bevor sie sich eine Antwort auf diese Frage überlegen konnte, beanspruchte Camio ihre ganze Aufmerksamkeit. »Camio! Nicht!«, rief sie und schnellte vor, um ihn davon abzuhalten, in den Kamin zu klettern. Ruckartig zog sie ihn zu sich, weg von den zischenden Flammen. Camio stopfte sich eine dreckige Hand in den Mund, schielte zu ihr hoch und grinste sie an. Dabei sah er aus wie ein viel zu großer, liebenswerter Piranha. Die schwarzen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, funkelten wie zwei Obsidiane. »Mach das nicht noch einmal«, schimpfte Emma. »Du hättest dich verbrennen können.« Sie blickte zu Rasputin, der seine Amüsiertheit mehr schlecht als recht verbarg. »Warum lachst du? Dein Sohn hätte sich beinahe verletzt.«
»Du solltest dich nicht in Dinge einmischen, von denen du keine Ahnung hast«, entgegnete Rasputin, erhob sich aus dem Sessel, packte seinen Sohn und warf ihn in die Flammen.
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