3. Jäger in der Nacht [2]
Als das Unterholz endlich aufbrach, trat Emma auf eine weite Ebene hinaus. Auf der linken Seite konnte sie das Glitzern eines Sees erkennen, auf der rechten Seite die Gipfel eines Gebirges. Da sie sich nicht zwischen Wasser und Bergen entscheiden konnte, lief sie einfach weiter geradeaus.
Sie fühlte sich hundeelend. Ihre Glieder schienen plötzlich bleischwer zu sein und das warme Gefühl in ihrem Innern, das sie bei Rasputins Anblick verspürt hatte, hatte sich in Übelkeit verwandelt. Mit einem Kopf, der sich anfühlte, als wäre er in Watte gepackt, stolperte sie über den felsigen Untergrund. Mehrfach stürzte sie über Wurzeln oder Steine und benötigte ihre ganze Kraft, um sich aufzurichten und ihren Weg fortzusetzen.
Schließlich erreichte sie ein Loch. Sie hätte es beinahe übersehen und wäre in den Abgrund gestürzt. Erst im letzten Moment erkannte sie die Gefahr. Mit klopfendem Herzen umrundete sie die tiefe Grube - nur um wenige Meter weiter auf ein zweites Loch zu stoßen. Sie blieb abrupt stehen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es gelang ihr nur mit Mühe. Verschwommen erinnerte sie sich daran, dass sie den Rand der fliegenden Stadt finden wollte. Mit etwas Glück waren diese Löcher ein erstes Anzeichen dafür, dass sie ihrem Ziel näher kam.
Vorsichtig setzte sie ihren Weg fort. Mond und Sterne spendeten genug Licht, damit sie ihre unmittelbare Umgebung erkennen konnte. Trotzdem hätte sie noch einige Male beinahe den Halt verloren. Es waren nicht nur die Löcher selbst, die ein Hindernis darstellten. Die ganze Ebene schien instabil zu sein. Immer wieder gab der Boden unter ihren Füßen nach und brach auf, als wollte er sie verschlingen. Nach einer schieren Ewigkeit erreichte sie endlich das Ende des Minenfelds.
Allerdings hatte sie nicht einmal Zeit, über ihren Erfolg zu triumphieren. Wie aus dem Nichts setzte sich der Untergrund plötzlich in Bewegung. Emma verlor das Gleichgewicht und stürzte auf Hände und Knie. Der Boden unter ihr erzitterte, wie ein Ungetüm, das aus einem langen Schlaf erwacht war. Emma wurde erst nach vorne, dann nach hinten geworfen. Verzweifelt kauerte sie sich zusammen, doch es half nichts. Die Erschütterungen schleuderten sie herum wie ein Spielzeug. Orientierungslos und ohne Kontrolle über ihre Bewegungen, rollte sie einen abschüssigen Felsen hinunter und stürzte über eine steile Kante. Nach einigen Metern landete sie hart auf einem Felsvorsprung. Ihr Rücken schien zu explodieren. Der Schmerz raubte ihr alle Sinne.
*
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Rücken und starrte in den Sternenhimmel. Beim Versuch, den Kopf anzuheben, entwich ihr ein schmerzerfülltes Keuchen. Ihr Rücken fühlte sich abwechselnd glühend heiß und eiskalt an. Der Schmerz strahlte in ihre Glieder. Vielleicht hatte sie sich einen Wirbel gebrochen. Emma hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, wenn man sich einen Knochen brach. Bislang war es ihr gelungen, verletzungsfrei durchs Leben zu kommen. Diese Unerfahrenheit rächte sich jetzt. Sie konnte nicht einschätzen, ob es besser war, einfach liegen zu bleiben, oder ob sie es riskieren konnte, aufzustehen.
Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel. Sie wollte nach Hause, in ihre winzige Wohnung, die ihr trotz der Beengtheit ans Herz gewachsen war. Oder am besten gleich zurück zu ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester, die mit Sicherheit noch nicht einmal gemerkt hatten, dass sie nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war. Die Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie daran dachte, ihre Familie vielleicht nie wiederzusehen. Obwohl sie beileibe keine Musterfamilie waren, vermisste sie ihre Mutter so sehr, dass es beinahe körperlich wehtat. Selbst mit fünfundzwanzig Jahren sehnte sie sich noch nach ihrem Zuhause. Das war ja beinahe peinlich.
»Emma?!« Der Ruf schien aus weiter Ferne zu kommen. Zuerst glaubte sie, sie hätte ihn sich nur eingebildet, doch dann ertönte er erneut, näher diesmal.
»Ja«, schluchzte sie.
»Emma!«
»Ja!«, rief Emma. Ihre Stimme war schwach und brüchig, aber die andere Person schien sie trotzdem gehört zu haben. Das Geräusch von Pferdehufen kam näher. Kurz darauf spähte ein blonder Schopf über die Felskante. Es war Kilian. »Bist du verletzt?«, rief er.
»Ich weiß nicht«, ächzte Emma. Der Untergrund bewegte sich noch immer. Seine Vibrationen sandten einen dumpfen Schmerz durch ihren Rücken.
»Beweg' dich nicht vom Fleck«, befahl Kilian und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Nur einen Moment später kehrte er mit einem Seil zurück. Emma versuchte, sich aufzurichten, doch der Schmerz in ihrem Rücken war zu stark. »Nicht bewegen«, rief Kilian, dann schwang er sich über die Kante und kletterte geschickt in die Tiefe.
»E-es tut mir leid«, jammerte Emma. »Ich wollte nur... ich wollte...«
»Sei still«, grollte Kilian. »Ich weiß genau, was du wolltest.« Mit einem Sprung landete er direkt neben ihr. Seine schwarzen Reitstiefel waren mit einem goldenen Emblem verziert, das im Mondlicht glänzte. Davon abgesehen, trug er nur ein einfaches Hemd und einen Wollumhang, den er sich wohl zum Schutz gegen die nächtliche Kälte übergeworfen hatte. Seine blonden Haare waren zerzaust; er wirkte verärgert und erleichtert zugleich. »Kannst du aufstehen?«, fragte er, während er sich das Ende des Seils um die Hüfte knotete.
Emma presste die Lippen aufeinander. Unter starken Schmerzen gelang es ihr, den Oberkörper anzuheben. Sie hatte das Gefühl, kaum atmen zu können, und erneut ohnmächtig werden zu müssen. Kilian ging in die Hocke, um sie zu stützen. Behutsam schob er einen Arm unter ihren Rücken, den anderen legte er um ihre Beine. Trotz seiner Vorsicht raubte der Schmerz Emma den Atem. Wimmernd sank sie gegen seine Brust.
»Leg deine Arme um meine Schultern und halt dich fest«, sagte Kilian. Emma befolgte die Anweisung und spürte, wie er sie hochhob. »Kannst du über meine Schulter sehen?«, wollte er wissen.
»Ja, kann ich«, murmelte Emma.
»Und was siehst du?«
Hinter Kilian war nur Schwärze. Endlose, bedrückende Finsternis. Sie schien am Ende der Welt angekommen zu sein. »Ist das der Rand?«, fragte sie vorsichtig.
Kilian nickte. »So ist es.«
»Ihr solltet Schilder aufstellen«, bemerkte Emma.
»Jedes Kind weiß, dass es den Todeslöchern nicht zu nahe kommen darf«, brummte Kilian. Dann packte er Emma mit einer Hand und das Seil mit der anderen. Emma klammerte sich an seine Schultern. Sie kam nicht umhin zu bemerken, wie kräftig diese Schultern waren. Die Erinnerung an seinen nackten Oberkörper kehrte zu ihr zurück. Ausgerechnet jetzt. Sie war nur froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, sonst wäre ihm sicherlich aufgefallen, wie sie beim Gedanken an seine ausgeprägten Muskeln errötete.
Das Seil spannte sich und Stück für Stück wurden sie in die Höhe gezogen. Auf den letzten Metern hörte Emma plötzlich Stimmen. Es war ein ganzer Chor, der wild durcheinander plapperte.
»Kilian! Gib mir deine Hand!« Diese Stimme gehörte Derrick, der sich über den Rand der Klippe beugte, aber sofort von einem anderen Mann verdrängt wurde. Der Fremde war dunkelhäutig und noch viel muskulöser als Kilian. Mühelos packte er den Baron am Wollumhang und zerrte sie beide über die Kante.
»Danke, Joseph«, ächzte Kilian und fasste Emma fester, damit sie ihm nicht entgleiten konnte. Sie unterdrückte einen Aufschrei.
»Baron Kilian!«, meldete sich eine Frau zu Wort. »Das ist alles nur Rasputins schuld! Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wäre das Mädchen jetzt seine Beute.«
»Ich weiß. Danke, Anoushka«, erwiderte Kilian und drängte sich mit Emma auf den Armen durch die versammelte Menge. Aus den Augenwinkeln konnte sie den Reiter erkennen, den sie beim Verlassen des Schlosses gesehen hatte. Er hielt ein schwarzes und ein weißes Pferd an den Zügeln. Sein Gesicht glich dem von Kilian, war aber etwas schmaler und wirkte einige Jahre jünger. Auch die blonde Haarfarbe teilte er sich mit dem Baron.
»Emma ist verletzt«, erklärte Kilian. »Sie muss sofort zum Schloss.«
»Minerva und ich erledigen das!«, bot Derrick an. »Oder willst du sie in ihrem Zustand auf dem Pferd transportieren?«
Kilian schürzte die Lippen. »Na gut«, meinte er schließlich und steuerte ein seltsames Gefährt an, das etwas abseits stand. Es sah aus wie eine altmodische Seifenkiste. »Wieso hat das eigentlich so lange gedauert?«, wollte er wissen.
»Pah«, machte Derrick, der sich bemühte, mit ihnen Schritt zu halten. »Ich kann mit der Minerva ja nicht einfach durch die Teufelsebene fahren.«
Kilian schmunzelte. Obwohl er sich bemühte, die Arme so ruhig wie möglich zu halten, sandte jeder seiner Schritte einen dumpfen Schmerz durch Emmas Körper.
»Ja, lach du nur, du Wahnsinniger«, grollte Derrick. »Weißt du eigentlich, wie gefährlich dieser Ort ist? Einfach so auf deinem Klepper hier durchzureiten...« Er sparte sich den Rest des Satz und eilte voraus, um die Seifenkiste herzurichten.
»Es tut mir wirklich leid«, murmelte Emma, der es wahnsinnig unangenehm war, wie sich alle um sie kümmerten. Vor allem, da sie ganz alleine Schuld an ihrer aktuellen Situation war.
»Das sollte es auch«, erwiderte Kilian streng. »Du hast allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Seine Worte trugen nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte, auch wenn er natürlich vollkommen Recht hatte. Erst, als er sie auf den hinteren Sitz der Seifenkiste bugsierte, ging ihr auf, was seine Worte eigentlich bedeuteten. Er hatte sich Sorgen gemacht. Um Emma, eine völlig Fremde.
»Halt dich gut fest«, sagte Derrick und schwang sich auf den vorderen Sitzplatz.
»Bring sie sofort zu Miragel. Er wird wissen, was am besten zu tun ist«, entschied Kilian und warf Emma seinen Wollumhang über. Der Stoff roch nach seinem Schweiß, aber es war ihr nicht unangenehm.
»Überlass das einfach mir«, gab Derrick zurück und startete den Motor der Seifenkiste. Emma sog scharf Luft ein, als ein Ruck durch die Maschine ging und sie auf einem unruhigen Schlingerkurs davonbrausten. »Keine Sorge«, meinte Derrick. Er musste fast schreien, um das Dröhnen des Motors zu übertönen. »Die Minerva wird dich in Windeseile zurück zum Schloss bringen.«
Emma dachte an Miragel, der sie dort erwarten würde und erschauderte.
Derrick schien ihre Gedanken zu erraten. »Miragel ist vielleicht nicht der beste Heiler, den ich je gesehen habe, aber er hat definitiv den ein oder anderen Trick im Ärmel. Du wirst also schnell wieder auf den Beinen sein.«
Emma versuchte sich an einem Lächeln. Es misslang. Das einzig Gute an ihrer Lage, war, dass sie ihre Beine noch spüren konnte. Also hatte sie sich wohl nicht das Rückgrat gebrochen.
Die Seifenkiste holperte mit sicherlich 50 km/h durch die Dunkelheit. Sie kamen an einem See und einigen umzäunten Weiden vorbei. Schafe und Ziegen hoben die Köpfe und blickten ihnen neugierig nach.
Dann erreichten sie Regenfurt, die Stadt, von der Kamilla gesprochen hatte. Derrick lenkte das Fahrzeug über eine Steinbrücke und anschließend durch eine breite Gasse, die von Laternen gesäumt wurde. Die Fachwerkhäuser der Stadt drängten sich zu beiden Seiten der Straße dicht aneinander. Ihre Mauern und Fensterrahmen waren genauso schief wie ihre Stroh- und Schindeldächer. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, aber mehr als die vagen Umrisse menschlicher Gestalten konnte Emma nicht erkennen.
Am anderen Ende der Stadt angekommen, folgten sie dem Pflasterweg und erreichten auf diese Weise innerhalb weniger Minuten Schloss Baronstett. Inzwischen hatte Emma so starke Schmerzen, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Alles um sie herum schien sich weit entfernt abzuspielen. Nur noch verschwommen bekam sie mit, wie die Wachposten angerannt kamen und ihr aus der Seifenkiste halfen. Dann wurde sie durch das Portal ins Innere des Schlosses getragen.
Miragel geisterte durch ihre Wahrnehmung wie ein Gespenst. Mit seinen weißen Haaren und der langen Robe hatte er wirklich etwas von einem Geist. Das Letzte, was Emma bewusst wahrnahm, war der Aufstieg ins obere Stockwerk und die Porträts an den Wänden des Treppenhauses. Finstere Adelige in Brokat, Purpur, Hermelin und Gold, die mit noch finstereren Gesichtern auf sie herabblickten.
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