22. Über den Regenbogen [1]
Nachdem Emma sich umgezogen hatte, wurde sie von Derrick und Harrod in eine kleinere Halle eskortiert, die von zwei auffälligen Merkmalen geprägt war: zum Einen gab es dort ein großes Tor, eher eine Art Ladeklappe, die von vier Zugseilen gehalten wurde, zum Anderen stand genau im Zentrum der Halle ein nagelneu wirkender Sportwagen. Sein gelber Lack glänzte im Licht der schummrigen Deckenlampen wie Bernstein.
Emma umrundete den Wagen neugierig. Sie hatte keine Ahnung von Autos und war froh, wenn sie Gas von Bremse unterscheiden konnte, aber der Sportwagen mit seinem entschlossenen Aussehen gefiel ihr. Auch die pechschwarzen Felgen und Radkappen hatten es ihr angetan.
»Ein Ford Mustang«, erklärte Derrick nicht ohne Stolz. »Leider darf ich ihn nicht oben in der Stadt fahren.«
»Wenn Minerva dich hören könnte«, erwiderte Emma spöttisch.
Derrick lachte. »Du kannst es ihr ja nicht mehr erzählen.«
»Wieso kennst du dich eigentlich so gut mit der unteren Welt aus?«, wollte Emma wissen. Im Gegensatz zu Kilian schien Derrick über ein profundes Wissen ihrer Heimat zu verfügen.
»Ach, nur so ...«, murmelte Derrick.
»Das ist, weil er eine Freundin in der unteren Welt hat«, mischte sich Savannah ein.
Emma fuhr herum. Savannah stand am Eingang der Halle und sah aus, als wüsste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Mit schnellen Schritten überwand sie die Distanz zwischen ihnen und fiel Emma um den Hals. Emma erwiderte die Umarmung. Von allen Menschen und Wesen auf der Morgenwind, war ihr Savannah wohl am Meisten ans Herz gewachsen. Vielleicht, weil sie sie an ihre Mutter erinnerte.
»Ich will nicht, dass du gehst«, hauchte Savannah. »Nicht du auch noch.«
»Es tut mir leid«, antwortete Emma. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie Kilian, Kamilla, Hilde, Laurent, Joseph und Titus die Halle betraten. Keiner sagte ein Wort. »Ich ... ich muss jetzt gehen«, flüsterte Emma.
Savannah drückte sie noch einmal fest, dann trat sie einen Schritt zurück und presste die Lippen aufeinander. Tränenspuren zeichneten ihre Wangen. Ihre Traurigkeit war regelrecht ansteckend. Emma konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt ein Mensch, ganz egal, ob Mann oder Frau, so um sie getrauert hatte. Noch dazu ein Mensch, den sie erst vor ein paar Tagen - und noch dazu unter sehr ungünstigen Vorzeichen - kennengelernt hatte.
»Seid ihr soweit?«, fragte Kilian. Er und seine Schwester trugen die gleiche Kleidung, die sie schon am Tag ihrer ersten Begegnung getragen hatten. Der Anblick versetzte Emma einen schmerzhaften Stich.
»Wir sind so weit«, antwortete Derrick ernst.
»Ihr nehmt die Regenbogenbrücke«, sagte Kilian. »Kamilla, Laurent, Hilde und ich werden den Regenfall benutzen. Wir treffen uns dann am vereinbarten Treffpunkt.«
Derrick nickte. »Klar.«
»Die Prinzessin lässt dich grüßen, Emma«, sagte Kamilla. »Sie ist sehr betrübt über deine Abreise.«
»Ach ja?«, erwiderte Emma und setzte ihr bestes Pokerface auf. Sie würde Kilian keine Genugtuung bereiten. »Du kannst ihr ausrichten, dass ich auch sehr betrübt bin.« Ihr Blick fiel auf Titus. Der junge Geflügelte sah nicht sehr glücklich aus. Als er bemerkte, dass sie ihn ansah, senkte er rasch den Kopf und starrte auf seine Fußspitzen.
»Ich überlasse die Stadt deiner und Miragels Verantwortung«, sagte Kilian an Joseph gewandt. Der Ex-Soldat nickte zustimmend. »Wir schicken den Fliegenden, wenn wir zurückkehren wollen. Klarissa und Karel wissen, was dann zu tun ist.« Kilian deutete mit einem Kopfnicken auf Harrod. »Und ich nehme an, du wirst in unserer Abwesenheit Derricks Aufgaben übernehmen?«
Der Zwerg streifte Kilian mit einem verächtlichen Blick. »Das werde ich wohl müssen«, erklärte er bissig.
Kilian runzelte die Stirn, ging aber nicht darauf ein, sondern wandte sich zum Gehen. Kamilla schlang sich einen Seidenschal um den Hals und folgte ihrem Bruder.
»Ich würde mich gerne noch verabschieden«, sagte Joseph und nahm seine dunkle Brille ab.
»Und ich muss mich noch bei dir bedanken«, erwiderte Emma. »Immerhin hast du mir das Leben gerettet.«
»Der Einsame Emiel hat uns alle gerettet«, gab Joseph zurück.
»Auf Wiedersehen, Titus«, sagte Emma und versuchte, sanft zu klingen. Jetzt, da Kilian gegangen war, musste sie nicht mehr so tun, als wäre ihr das Schicksal der Morgenwind und ihrer Bewohner egal.
»Auf Wiedersehen«, antwortete Titus, ohne ihr in die Augen zu sehen.
Emma spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. Rasch wandte sie sich ab und folgte Derrick zu dem gelben Sportwagen, der so aussah, als könnte er es gar nicht mehr erwarten, endlich freigelassen zu werden. Derrick öffnete die Beifahrertür und ließ Emma einsteigen. Anschließend umrundete er den Wagen und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
»Hast du eigentlich einen Führerschein?«, fragte Emma, um sich von ihren negativen Gefühlen abzulenken.
»Natürlich nicht«, antwortete Derrick und betätigte den Startknopf. Der Motor erwachte schnurrend zum Leben. Emma schnappte nach Luft. Sie wusste nicht, wie sie sich dabei fühlen sollte, in einem so schnellen Auto zu sitzen, wohlwissend, dass der Fahrer nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügte. »Wart's ab, es kommt noch besser«, meinte Derrick und betätigte einen Knopf an der Mittelkonsole. Daraufhin setzten sich die Zugseile in Bewegung und öffneten die Ladeklappe.
Emma blickte aus dem Fenster. Joseph, Titus und Savannah winkten ihr. Sie winkte zurück. Dann wurde ihr bewusst, was Derrick vorhatte.
*
Jenseits der Ladeklappe lag nichts als blauer Himmel und Wolkendunst.
»Wie hoch sind wir?«, fragte Emma beunruhigt.
»Wie hoch fliegen Flugzeuge?«, gab Derrick zurück.
Emma stöhnte. »Das darf doch nicht wahr sein.« Der Sportwagen setzte sich in Bewegung und rollte auf die Luke zu. »Kann der Wagen fliegen?«, fragte Emma und richtete sich in ihrem Sitz auf. Sie spürte ein Zucken in ihrem rechten Bein, als wollte ihr Körper ganz instinktiv die Bremse betätigen.
»Nein. Das wäre ja verrückt«, erwiderte Derrick und legte beide Hände um das Lenkrad. Dann gab er Gas. Emma unterdrückte einen Aufschrei, als der Wagen einen Satz nach vorne machte und über die Kante glitt. Für einen Moment glaubte Emma, sie würden abstürzen. Das Gefühl war so überwältigend, dass sie sich am Sitz festklammerte. Doch ihre Befürchtung erwies sich als unbegründet. Statt in die Tiefe zu stürzen, fuhren sie auf einer Straße aus zarten Wasserfarben durch den Himmel.
»Das ist die Regenbogenbrücke«, erklärte Derrick.
Emma war zu perplex, um zu antworten. Fasziniert betrachtete sie die durchscheinende Straße, die sich spiralförmig in die Tiefe schraubte. Dabei wand sie sich um einen Wasserfall, der sich aus dem Innern der Morgenwind auf die irdische Welt ergoss.
»Und das ist der Regenfall«, fuhr Derrick fort. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht. »So bist du damals in die Stadt gekommen.«
Emma schluckte. Sie würde die Morgenwind und ihre ganzen wunderschönen Seltsamkeiten wirklich vermissen. Immer wenn sie schon glaubte, es könnte keine Steigerung mehr geben, bewiesen ihr die Stadt und ihre Bewohner das Gegenteil.
Derrick steuerte den Wagen routiniert über die kurvenreiche Straße. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, aber er sagte kein Wort. Es war, als erwartete er, dass Emma den Anfang machte.
»Na gut«, brummte sie schließlich. »Das. Ist. Der. Absolute. Wahnsinn.«
Derrick lachte. »Ja ... ja, das ist es.«
»Wie funktioniert das?«, fragte Emma. Die Erde schien jetzt immer näher zu kommen. Durch die Wolkenschleier konnte sie den Häuser-Dschungel einer Großstadt erkennen.
»Keine Ahnung«, gab Derrick zurück. »Ich wünschte, ich könnte es dir erklären, aber ich kann es nicht. Manchmal spielt die Morgenwind einfach nach ihren eigenen Regeln.«
Emma beugte sich vor, um einen besseren Blick auf die Stadt unter ihnen erhaschen zu können. »Und was ist das für eine Stadt?«
»Rate«, erwiderte Derrick.
Lange, gerade Straßen zogen sich durch ein weißes Häusermeer, nur ab und zu von Grünflächen und Parkanlagen unterbrochen. Ein Fluss fiel Emma ins Auge. Dann ein sternförmiges Muster, das ihr irgendwie bekannt vorkam.
»Und?«, fragte Derrick.
»Keine Ahnung«, seufzte Emma. »Aus dieser Perspektive ist das schwer zu beurteilen.«
»Au contraire«, erwiderte Derrick.
Emma fuhr herum. »Paris? Sind wir über Paris?«
»Oui.« Derrick grinste breit. »Mehr Französisch beherrsche ich leider nicht. Dafür ist Laurent zuständig.«
Emma konnte nicht sagen, dass ihre Sprachkenntnisse besser ausgeprägt wären. Sie hatte Französisch bis zum Abitur behalten, doch danach nie wieder angewendet.
»Mach dir keine Sorgen«, meinte Derrick. »Auf der Morgenwind sprechen wir eine Sprache, die alle Menschen und Wesen beherrschen. Elkensprog wird sie von den Elfen genannt.«
»Sprechen wir das jetzt gerade?«, fragte Emma, die gar nicht bemerkt hatte, dass sie eine andere Sprache sprach.
»Ganz genau«, erwiderte Derrick.
»Aber ... wie ...«, begann Emma und brach dann ab, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Frage formulieren sollte.
»Jeder Mensch beherrscht diese Sprache«, wiederholte Derrick, löste eine Hand vom Lenkrad und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Diese Fähigkeit schlummert schon seit Anbeginn der Zeit in unseren Köpfen. Wenn man die Sprache zum ersten Mal hört, wird sie aktiviert. Das bedeutet, du hast die Sprache in dem Augenblick gelernt, als du Kilian oder einen der Andern zum ersten Mal reden gehört hast.«
»Das ist unglaublich«, hauchte Emma.
»Und trotzdem wahr«, erwiderte Derrick. Dann fasste er das Lenkrad wieder mit beiden Händen. Die Stadt war ihnen jetzt so nahe, dass Emma einzelne Häuser erkennen konnte.
»Schnall dich an«, sagte Derrick. »Es könnte ein wenig holprig werden.«
Emma beeilte sich, seiner Anweisung Folge zu leisten.
*
Paris war um diese Jahreszeit wirklich wunderschön. Vermutlich auch zu jeder anderen Jahreszeit. Die hohen Sandstein-Gebäude mit ihren hübschen Balkonen, die Kirchen, Paläste, Cafés, Plätze und Prunkstraßen brachten Emma zum Schwärmen. Es war, als wäre sie in einer Filmkulisse gelandet.
Von einem kleinen Café am Ufer der Seine aus beobachteten sie und Derrick, wie sich der Regenfall auflöste und der Regen langsam in Schnee überging. Emma nippte an einem großen Milchkaffee, Derrick an einem Espresso. Die Holzschachtel, Masumis Geschenk, stand zwischen ihnen auf dem Tisch. Emma hatte noch nicht gewagt, sie zu öffnen.
Das Café war sehr gemütlich eingerichtet. Die Wände waren lindgrün gestrichen und wirkten unverputzt. Tische und Stühle waren auf alt getrimmt, was dem Café einen Vintage-Charme verlieh, wie er im Moment sehr angesagt war. An der hinteren Wand standen einige Landhaus-Schränke, die sich nahtlos in das Ambiente einfügten. Darüber hingen zahlreiche gerahmte Fotos von verschiedenen Pariser Sehenswürdigkeiten. Die meisten davon waren in Schwarz-Weiß gehalten. Von der blutrot gestrichenen Decke, die dem Café als Eye-Catcher diente, hing ein rautenförmiger Kronleuchter.
»Jetzt bin ich in ein paar Tagen einmal um die halbe Welt gereist«, seufzte Emma.
»Das stimmt«, antwortete Derrick.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Neuseeland sehen würde«, murmelte Emma. »Und jetzt bin ich in Paris ...« Sie hatte der Stadt schon lange mal einen Besuch abstatten wollen. Der Gedanke, eine Shopping-Tour durch die Stadt der Liebe zu veranstalten, erschien ihr noch immer sehr reizvoll, auch wenn ihr Geldbeutel ein solches Abenteuer derzeit nicht erlaubte.
»Nun, wir kommen eben rum«, sagte Derrick schmunzelnd.
»Stimmt es, was Savannah gesagt hat?«, fragte Emma.
»Was?«
»Dass du eine Freundin in der unteren Welt hast?«
Derrick schürzte die Lippen. »Das ist ...« Er brach ab, seufzte und tastete scheinbar ganz automatisch nach seiner Gesäßtasche, in der Emma seinen Flachmann vermutete. »Das ist ein Geheimnis«, sagte er schließlich.
»Ich werde es niemandem erzählen.«
»Ich weiß gar nicht, wie Savannah das herausgefunden hat«, brummte Derrick, zog die Hand zurück und legte sie um die winzige Espresso-Tasse, die vor ihm auf dem Tisch stand.
»Weibliche Intuition, nehme ich an«, vermutete Emma.
Derrick schnaubte. »Hoffen wir's. Ich weiß nicht, was Kilian tun wird, wenn er davon erfährt.«
»Dann stimmt es gar nicht, was Kilian gesagt hat«, stellte Emma fest. »Du schleichst dich nicht auf die untere Welt, um deinen-« Sie malte mit den Fingern zwei Anführungszeichen in die Luft. »-Alkoholvorrat aufzufrischen, sondern um deine Freundin zu besuchen.«
»Beim Barte des Poseidon«, grollte Derrick. »Bin ich wirklich so einfach zu durchschauen?«
»Na ja«, machte Emma und leerte ihren Kaffee-Becher. »Ich hab ein paar Tage gebraucht, um es zu verstehen.« Sie stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. »Wie ist sie so? Deine Freundin? Möchte sie nicht zu dir auf die Morgenwind ziehen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Derrick. »Wir haben uns schon vor Jahren darauf geeinigt, dass alles so bleiben soll, wie es ist.«
»Aber ist das nicht umständlich?«
Derrick zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber das ist uns egal.«
Emma senkte den Blick in ihren leeren Becher. Sie wusste nicht, was sie von dieser Antwort halten sollte. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, eine solche Fernbeziehung zu führen, auch wenn es ihrem Bedürfnis nach Autonomie mit Sicherheit zugute gekommen wäre. »Hat sie dir den Flachmann geschenkt?«
Derrick betrachtete Emma stirnrunzelnd. »Ihr Frauen seht wirklich einfach durch mich durch, oder?«
Emma lachte.
Um seine Verlegenheit zu überspielen, angelte Derrick nach der Speisekarte. »Warum bestellst du dir nicht noch was zu essen?«, wechselte er wenig elegant das Thema. »Du hast fast zwei Tage geschlafen und musst hungrig sein.«
Damit hatte er Recht. Emma nahm das Angebot dankbar an. Ihre Handtasche (und damit auch ihr Handy und Portemonnaie) lagen noch immer in der Boutique - sofern sie nicht von der Polizei als Beweismittel beschlagnahmt worden waren. Sie mochte gar nicht daran denken.
Verstohlen blickte sie sich um. Die anderen Gäste des Cafés beachteten sie nicht. Doch was, wenn man bereits nach ihr suchte? Was, wenn es einen internationalen Fahndungsaufruf nach ihr gab? Sie schüttelte leicht den Kopf. Nein. Das war unmöglich. Eine gewöhnliche Verkäuferin war gar nicht wichtig genug, um ein solches Suchaufgebot zu rechtfertigen. Vermutlich würde die Polizei einfach davon ausgehen, dass sie mit irgendeinem Mann durchgebrannt war.
Während Emma auf ihr Essen wartete, lenkte sie das Gespräch auf Kilian und sein Pferd Enorog. Als sie Derrick erzählte, wie abweisend das Tier auf ihren Annäherungsversuch reagiert hatte, lächelte er wissend. »Ja, Enorog ist wirklich ein sehr spezieller Hengst.« Er lachte. »Aber sei froh, Kamilla hat er sogar mal gebissen.«
»Wirklich?«, fragte Emma amüsiert.
»Ja. Er kann sie nicht ausstehen«, erklärte Derrick. »Kamilla nimmt ihm das noch immer übel. Sie ist sehr tierlieb und bildet sich ein, sie könnte jedes Tier handzahm machen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber aus irgendeinem Grund gehorcht Enorog nur Kilian.«
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