20. Feuer
Emma blickte auf den See hinaus, der inzwischen wieder spiegelglatt dalag. Anoushkas Kugel schwebte noch immer am Himmel und tauchte die Stadt in ein beunruhigendes, rötliches Licht.
»Wie ist das passiert?«, fragte Derrick.
Titus konnte kaum sprechen. Seine Antwort wurde immer wieder von heftigem Nach-Luft-schnappen unterbrochen. »Ich ... weiß nicht ... genau ... wollte ... zurück zum Schloss ... da hab ich ... was gesehen ... in der Stadt ... dachte ... es wäre ... eins von den Kindern ... bin ihm gefolgt ... doch dann ...« Der Geflügelte verzog das Gesicht und rieb sich den Kopf. »Als ... ich wieder ... zu mir gekommen ... bin, war ich im ... Wasser.«
Kilian richtete sich auf. Er schwankte leicht, doch als Derrick ihm zur Hilfe kommen wollte, schüttelte er den Kopf und murmelte: »Es geht schon.« Mit festerer Stimme fügte er hinzu: »Der Megamon hat ganz offensichtlich versucht, uns eine Falle zu stellen.«
»Hm«, brummte Derrick. »Dann ist sein Plan ganz schön nach hinten losgegangen.« Er wandte sich an Titus: »Wir sollten dich ins Schloss bringen und vor den Kamin setzen, damit deine Flügel trocknen können.«
Kilian nickte zustimmend. »Ja, das sollten wir tun.«
»Ich hole die Minerva«, sagte Derrick und schlurfte mit nasser Hose und nassen Schuhen davon. Erst jetzt wurde Emma bewusst, dass sie ebenfalls vollkommen durchnässt war. Reithose und Bluse klebten an ihr wie eine zweite Haut. Gleichzeitig ließ sie der nachlassende Adrenalinspiegel deutlich spüren, wie kalt es auf der Morgenwind geworden war. Sie schlang die Arme um den Körper und presste die Lippen aufeinander.
»Das war ganz schön knapp«, murmelte Laurent, nachdem Derrick gegangen war. »Ich meine, Titus hätte sterben können.«
»Aber er ist es nicht«, erwiderte Joseph.
Kilian stimmte ihm zu. »Wir sollten nicht zu lange darüber nachdenken. Der Megamon ist tot. Die Gefahr ist vorüber.«
»Nur eins verstehe ich nicht«, sagte Joseph und unterstrich seine Worte scheinbar völlig automatisch mit ein paar Handzeichen. »Wieso dieser halbherzige Versuch, Titus zu töten?«
»Halbherzig?«, hauchte Laurent ungläubig.
»Er hat recht«, meinte Emma. Plötzlich schien sie es ganz klar vor sich zu sehen. »Der Megamon hätte Titus einfach ... unschädlich machen können, während er bewusstlos war. Weshalb hat er ihn in den See geworfen?«
Titus verfolgte die Unterhaltung aus untertellergroßen Augen. Der Schrecken stand ihm noch immer deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Um uns anzulocken ...?«, murmelte Kilian nachdenklich.
»Aber weshalb?«, fragte Emma. »Er hätte doch ahnen können, dass wir alles versuchen würden, um Titus zu retten.«
»Ein Ablenkungsmanöver«, sagte Joseph, löste sich von Laurent und zog sich an der Mauer auf die Beine. »Das ist die einzig logische Erklärung.«
Kilian schien etwas einwenden zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. »Ablenkung ... wovon?«, fragte er stattdessen.
Emma schlang die Arme noch fester um den Körper und blickte sich um. Auf einmal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Das rote Licht schien deutlich mehr Schatten zu spenden als Schatten zu vertreiben. Die ganze Atmosphäre erinnerte sie an einen Ausflug in die Geisterbahn, den sie vor ein paar Jahren zusammen mit ihrer kleinen Schwester unternommen hatte. Obwohl Emma schon unter normalen Umständen ziemlich schreckhaft sein konnte, hatten ihr die vielen unheimlichen Kreaturen aus Pappe und Plastik kaum Angst eingejagt. Nur der in schwarz gekleidete Mann, der am Ende der Strecke, kurz vor dem hellen Oval des Ausgangs, auf sie gewartet hatte und mit einem lauten "Buh" aus seinem Versteck gesprungen war, hatte sie vor Schreck aufschreien lassen (sehr zur Freude ihrer Schwester). Damals hatte sie den Mann nicht kommen sehen. Jetzt schien sie zu wissen, dass irgendwer oder irgendetwas in der Dunkelheit lauerte. Sie konnte die Anwesenheit eines unsichtbaren Beobachters buchstäblich am ganzen Körper spüren.
»Lasst uns zurück zum Theater gehen und alle wissen lassen, dass wir noch leben«, sagte Kilian mit Blick in den roten Himmel.
»Wo ist eigentlich Anoushka?«, fragte Emma.
»Ich bin hier«, antwortete Anoushka, während sie langsam die Treppe von der Promenade zum Steg hinunterstieg. Dabei streckte sie den Zauberstab nach der roten Lichtkugel aus, die daraufhin langsam blasser wurde und schließlich ganz verschwand.
»Ist der ... Megamon wirklich tot?«, fragte Titus mit zitternder Stimme.
Anoushka nickte und fasste ihren Stab mit beiden Händen. »Er wird dir keinen weiteren Schaden zufügen.«
»Wir müssen ihn untersuchen«, sagte Kilian. »Vielleicht finden wir so heraus, wie er in die Stadt gelangen konnte oder was er vorhatte.«
»Ich denke nicht, dass wir auf diese Weise etwas herausfinden werden«, widersprach Anoushka. »Allerdings konnte ich etwas Seltsames beobachten. Im Moment seines Dahinscheidens hat der Megamon für einige Sekunden seine Gestalt verändert.«
»Das habe ich auch gesehen«, sagte Emma. »Aber ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Dafür ging alles viel zu schnell.«
Anoushka schürzte die Lippen. Ihre Hände schlossen sich um den Zauberstab, so fest, als wollte sie ihn in zwei Teile brechen. »Es war ein Arm«, sagte sie schließlich. »Ein menschlicher Arm.«
Ihren Worten folgten einige Sekunden der Stille. Jeder schien einen Moment zu benötigen, um diese Neuigkeit zu verdauen.
Erst das Knattern von Derricks Gefährt riss sie aus ihren Gedanken. »Was guckt ihr alle so entsetzt?«, fragte Derrick, während er die Treppe hinuntersprang.
»Nichts. Es ist nichts«, sagte Kilian.
Emma war sich da nicht so sicher. Es musste doch etwas bedeuten, dass der Megamon in den letzten Sekunden vor seinem Tod die Gestalt eines Arms angenommen hatte. Sie konnte sich zwar nicht ausmalen, was es bedeutete, aber irgendetwas musste es ja schließlich bedeuten. Oder nicht? War seine Verwandlung nur eine Art letztes Muskelzucken gewesen? Genauso flüchtig wie bedeutungslos?
»Kannst du den Arm irgendwie beschreiben?«, fragte Laurent.
»Es war ein Arm«, erwiderte Anoushka ernst.
»Ja, aber von einem Mann oder einer Frau?«
Anoushka schürzte die Lippen. »Von einer Frau oder von einem sehr dünnen Mann.«
»Tja«, machte Derrick und sprang die Stufen hinunter. »Und nun? Vermisst irgendwer zufällig einen Arm?« Seine Frage sollte wohl ein Scherz sein, doch Emma konnte die Vorstellung nicht abschütteln, dass irgendwo auf der Morgenwind eine Frau mit nur einem Arm herumlief.
»Wir müssen die Stadt durchsuchen«, sagte Joseph. »Wenn es sich um ein Ablenkungsmanöver gehandelt hat, müssen wir herausfinden, was-«
»Nun mach mal halblang«, fiel ihm Derrick ins Wort. »Wie sollen wir das anstellen? Ich meine, die Morgenwind ist groß und wir wissen nicht einmal, wonach wir suchen sollen.«
»Wir können niemanden in sein Haus zurückkehren lassen, bevor es nicht durchsucht wurde«, erwiderte Joseph und unterstrich seine Worte mit einer entschiedenen Geste. »Glaubt mir, der Megamon hat nicht grundlos gehandelt. Was er getan hat, hat er getan, um uns abzulenken.«
»Von was?«, gab Derrick zurück und breitete die Arme aus. »Was könnte er denn deiner Meinung nach geplant haben?«
Emma wusste nicht, ob es möglich war, dass der Megamon den Verlauf dieser Diskussion vorausgeahnt haben konnte. Es erschien ihr mehr als unwahrscheinlich. Trotzdem war das Timing zu perfekt, um bloß auf einem Zufall zu beruhen. Kaum hatte Derrick seine Frage ausgespuckt, wurde der Himmel über der Morgenwind erneut in Rot getaucht. Ein Knall ertönte, dann ein Geräusch wie ein Donnergrollen. Der tiefe Klang wanderte über den See und ließ seine Oberfläche erzittern. Gleichzeitig schoss über Regenfurt eine Feuersäule in den Himmel.
Es war, als würde die Welt untergehen. Die ganze Stadt schien in Flammen aufzugehen. Eine Feuerwalze schoss durch die Straßen und durch das Stadttor hinaus auf die umliegenden Felder. Der See reflektierte den zuckenden roten Schein, sodass es so aussah, als hätte er ebenfalls Feuer gefangen.
»Nein!«, keuchte Derrick. »Nein, nein, nein, nein.« Er raufte sich die Haare. »Vater!« Mit diesem Schrei fuhr er herum und sprintete die Treppe hinauf zu seinem Gefährt. Bevor irgendjemand eingreifen konnte, hatte er schon den Motor gestartet und war davon gebraust.
Kilian war der Nächste, der seine Fassung zurückgewann. »Laurent, Joseph, kommt mit! Wir müssen Derrick helfen!« Er rannte los, über die Treppe zur Uferpromenade und von dort am Wasser entlang Richtung Regenfurt.
Emma dachte nicht lange nach und folgte den Männern. Der Alarm, der durch die Stadt gellte und die Vögel von den Feldern aufscheuchte, musste auch die Menschen und Wesen am Theater auf das Unglück aufmerksam gemacht haben. Während Emma ihre letzte Kraft zusammennahm und über die Felder nach Regenfurt sprintete, wurde sie von Kamilla, Sebastian und Harrod eingeholt. Der Zwerg legte in Anbetracht seiner Größe ein beachtliches Tempo an den Tag. Kurz darauf trafen auch Miragel, Hilde und Nori dazu.
Am Stadttor wurden sie bereits von Laurent erwartet. Der hölzerne Torbogen brannte lichterloh. Immer wieder regneten Funken von oben auf die gepflasterte Straße herab.
»Wie konnte das passieren?«, keuchte Miragel und riss so ruckartig an den Zügeln seines Pferds, dass es fast auf die Hinterbeine gestiegen wäre.
»Keine Ahnung«, antwortete Laurent. Seine Stimme überschlug sich. »Derrick ist in der Stadt, um seinen Vater zu retten. Kilian und Joseph sind ihm gefolgt. Sie-« Er brach ab und wich einem Funkenregen aus, der sich just in diesem Augenblick auf die Straße ergoss. »Sie sind einfach ins Feuer gerannt«, ächzte Laurent, als könnte er diesen Leichtsinn nicht begreifen.
»Wir müssen sie da rausholen«, sagte Miragel, gab seinem Pferd die Sporen und lenkte es, ohne Rücksicht auf das Feuer, in die Stadt hinein.
Kamilla fluchte und griff nach dem Fliegenden, der auf ihrer Schulter hockte.
»Was hast du vor?«, fragte Emma, doch Kamilla antwortete nicht, sondern entfernte sich ein paar Schritte, um dem silbrig glänzenden Vogel eine Botschaft zuzuflüstern.
»Ich werde nicht hier rumstehen und warten«, polterte Harrod.
»Das ist doch W-Wahnsinn«, sagte Sebastian und rückte seine Brille zurecht.
»Dieses Feuer ist mit Sicherheit nicht heißer als die Werkstätten meiner Heimat«, erwiderte Harrod. Er atmete noch einmal tief durch, dann sprang er unter dem Torbogen hindurch in die Stadt.
Emma wusste selbst nicht so genau, weshalb sie ihm folgte. Vielleicht, weil es sie innerlich danach verlangte, anderen Menschen zu helfen. Vielleicht, weil ein Teil von ihr noch immer glaubte, zu träumen und daher völlig unverwundbar zu sein.
Kaum hatte sie die Stadt betreten, brach der Torbogen hinter ihr zusammen. Flammen schlugen hoch und Funken spritzten in alle Richtungen. Instinktiv rannten Emma und Harrod los.
Im Innern der Stadt herrschte eine glühende Hitze und ein beinahe ohrenbetäubendes Knistern und Rauschen. Emma hatte gar nicht gewusst, dass Feuer so laut sein konnte. Noch dazu war die Luft von einem bitteren und zugleich beißenden Gestank erfüllt, der sich wie ein trockener Film auf ihre Lungen legte. Emma unterdrückte ein Husten und folgte Harrod in eine schmale Gasse, die von der Hauptstraße abzweigte. Die Dächer der umliegenden Häuser standen in Flammen. Anscheinend boten die Holzschindeln und das zur Dämmung verwendete Schilfgras ideale Voraussetzungen für einen fatalen Flächenbrand.
»Hier ist es!«, hustete Harrod und klopfte mit der Hand auf die Minerva, Derricks Gefährt, das mitten auf der Gasse parkte. Nicht weit entfernt brannte ein Heuwagen. Kaum hatte Emma den Wagen entdeckt, vernahm sie ein schrilles Quieken. Es klang, als würde irgendjemand wie besessen auf einem quietschenden Hundespielzeug herumdrücken.
Während Harrod zu Derricks Haus ging, folgte Emma dem seltsamen Geräusch. Es kam aus einem kleinen Stall, der mit einem Holzgatter verschlossen war. Emma lugte durch die Streben des Gatters und entdeckte ein Schwein, das auf der anderen Seite eingesperrt war.
»Harrod!«, rief Emma und geriet augenblicklich ins Husten. Dichter, schwarzer Rauch drang aus dem Innern des Stalls und raubte ihr die Sicht. Halb blind tastete sie nach dem Riegel. Als sie ihn endlich zu fassen bekam, ließ er sich nicht lösen. Sie zerrte daran, hatte jedoch keinen Erfolg.
»Emma!« Sie spürte Harrods Hand an ihrem Bein. »Was machst du da?«
»Der Riegel!«, keuchte Emma. Das Metall des Riegels hatte sich inzwischen so stark erhitzt, dass es sich in ihre Haut brannte.
»Lass mich mal probieren«, keuchte Harrod.
Emma löste die Hände von dem Riegel und trat einen Schritt zurück. Harrod schlug mit einem metallischen Gegenstand auf den Riegel ein. Mit nur drei festen Hieben zerstörte er die Halterung. Emma packte das Tor und zog es auf. Das Schwein zwängte sich durch den Spalt und schoss auf die Gasse hinaus. Es blickte sich noch einmal um, fast so, als wollte es sich bei ihnen bedanken, dann verschwand es stolpernd und grunzend im dichten Qualm.
»Emma? Harrod?«
Kilian erschien in der Tür zu Derricks Haus. Er hatte Desmond auf den Armen, schien sich aber selbst kaum noch auf den Beinen halten zu können.
Emma kam ihm rasch zu Hilfe. Gemeinsam legten sie den alten Mann in Derricks Gefährt. Harrod verschwand derweil im Innern des Hauses und kehrte kurz darauf mit Joseph zurück. Der Ex-Soldat hatte sich Derricks leblosen Körper über die Schulter geworfen.
»Was ist mit ihm?«, rief Emma entsetzt.
»Später!«, hustete Joseph. »Raus! Wir müssen raus!« Er setzte Derrick zu seinem Vater in das Gefährt. Die Minerva konnte jedoch kaum mehr als zwei erwachsene Personen aufnehmen.
Kilian schien das auch erkannt zu haben. »Harrod!«, keuchte er, hielt sich mit einer Hand an der Hauswand fest und krümmte sich, wie unter Schmerzen. »Du musst sie hier wegbringen.«
Harrod nickte und schwang sich hinter das Steuer der Minerva. »Ja, Herr Baron.« Etwas umständlich startete er den Motor des Fahrzeugs und brauste davon.
Kilian löste sich von der Hauswand. Im nächsten Moment gab ein Teil des Dachs nach und brach zusammen. Es krachte und polterte, als die Dachstützen einknickten und den Dachstuhl des Hauses mit sich in die Tiefe rissen. Joseph stieß Emma mit der Schulter an und signalisierte ihr, dass sie ihm folgen sollte. Emma nickte, fasste Kilians Arm und zog ihn hinter sich her. Zu dritt rannten sie durch die Gasse bis zum Viehmarkt. In der Mitte des Platzes gab es noch ein wenig Luft zum Atmen. Emmas Augen brannten und tränten inzwischen so stark, dass sie sie kaum noch offen halten konnten.
»Die Girlanden«, keuchte Kilian mit Blick auf die Häuser, die den Platz umgaben. »Sie tragen das Feuer durch die ganze Stadt.«
»Vergiss es«, keuchte Emma. »Jetzt ist es zu spät, um daran etwas zu ändern.« Sie fasste seine Hand fester. Aus irgendeinem Grund machte sie sich keine Sorgen um ihr eigenes Schicksal, sondern bloß um Kilians Gesundheit. Er sah nicht so aus, als hätte er noch die Kraft, um sich durch das Inferno ins Freie zu kämpfen.
»Und jetzt?«, fragte sie an Joseph gewandt.
Er legte den Zeigefinger an die Lippen, bückte sich und berührte mit einer Hand den Boden.
»Was ist?«, keuchte Emma, der dieses Verhalten ziemlich bizarr vorkam. Doch schon im nächsten Moment wurde ihr klar, was Joseph meinte - und dass ihr Problem noch deutlich größer war, als sie zunächst angenommen hatte.
»Bockmist!«, keuchte sie, als ein Teil des gepflasterten Bodens urplötzlich nachgab. Der Untergrund senkte sich ab, die Pflastersteine brachen auf und Flammen schossen aus der darunterliegenden Erde. Emma verlor den Halt und stürzte auf die Knie. Der Boden neigte sich jetzt immer stärker. Auch Kilian und Joseph konnten sich nicht länger auf den Beinen halten. Emma kam es vor, als würde sie unaufhaltsam in die Tiefe gesogen, in das höllische Feuer, das unter ihnen loderte.
»Hier!« Kilian packte ihren Arm. Emma keuchte, als sich seine Finger in ihre Haut krallten. Gleichzeitig packte Joseph Kilians Hose und streckte sich nach einem hervorstehenden Pflasterstein, um sich daran festzuhalten.
Der Boden gab endgültig nach. Emma stürzte in den sich öffnenden Abgrund. Sie schrie auf. Doch Joseph hielt Kilian fest - und Kilian hielt sie. Emma baumelte an seinem Arm wie Tarzan an einer Liane. Das Feuer streckte sich nach ihren nackten Füßen. Trotz ihrer misslichen Lage konnte Emma keine wirkliche, echte Todesangst empfinden. Es war, als würde ein Teil ihres Unterbewusstseins noch immer fest daran glauben, dass es sich bei ihrem Ausflug auf die Morgenwind nur um einen Traum handelte.
»Baron ...«, keuchte Joseph. Er schien sie nicht länger halten zu können. Kilian tastete nach einem Stein, an dem er sich festhalten konnte. Genau in diesem Moment rutschte Joseph ab. Diesmal war Emma nicht die Einzige, die vor Entsetzen aufschrie.
Ihr Sturz endete jedoch schon nach wenigen Zentimetern. Sie prallte mit dem Kopf gegen die Pflastersteine und hätte beinahe das Bewusstsein verloren. Halb benommen konnte sie eine dunkle Gestalt erkennen, die am anderen Ende der Feuergrube stand und eine Armbrust auf der Schulter balancierte. Emma blinzelte, bis sie die Gestalt besser erkennen konnte. Wer auch immer es war, er oder sie verbarg ihr Gesicht hinter einer unheimlichen Maske.
»Ihr verfluchten Narren!« Die Stimme gehörte Miragel. Er tauchte über Joseph, der sich an einem Armbrustbolzen festklammerte, am Rand des Abgrunds auf. »Wie konntet ihr bloß so leichtsinnig sein? Euer Vater wird sich im Grabe umdrehen, wenn er davon erfährt.« Trotz seiner Schimpftirade streckte er die Hände nach Joseph aus und zog ihn über die Kante. Mit Joseph wurden erst Kilian und dann auch Emma aus der Feuergrube gezogen. Die maskierte Gestalt, die ihnen das Leben gerettet hatte, war nicht mehr zu sehen.
»Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht?«, fauchte Miragel.
Kilian schloss die Augen und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. »Du hast recht«, würgte er hervor. »Es war dumm.«
»Närrisch war es«, zischte Miragel.
Emma spürte etwas Kaltes, das sie an der Stirn traf. Sie legte den Kopf in den Nacken. Der dunkle Qualm blockierte die Sicht in den Himmel. Dann wurde sie erneut von etwas Kaltem getroffen. Ein feuchter Fleck blieb auf ihrer Stirn zurück. Emma drehte die Handflächen gen Himmel. Nur einen Augenblick später begann es heftig zu schütten. Ein Donner wanderte über den Himmel und die ganze Urgewalt eines Wolkenbruchs ergoss sich auf die Stadt. Emma hätte sich nur zu gerne hingesetzt, um die Kühle zu genießen und ihre Erschöpfung zu kurieren, doch Miragel trieb sie wie ein gnadenloser Hirte aus der Stadt.
Auf den freien Feldern nördlich von Regenfurt angekommen, warf sie sich ins hohe Gras und blieb einfach liegen. Ihr Bewusstseinszustand schwankte irgendwo zwischen Wachsein und Koma. Kilian legte sich neben sie. Aus halb geöffneten Lidern konnte sie sein Gesicht sehen, das ihr bereits so bekannt vorkam, als wären sie ein altes Liebespaar aus einem längst vergangenen Leben. An diesem Tag waren seine feuchten blonden Locken und erschöpften blauen Augen, das Letzte, was sie sah.
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