18. Das Lichterfest [2]
Der Laternenumzug der Kinder wurde von Laurent und Joseph begleitet. Während Kamilla und Miragel den armen Sebastian höflich, aber bestimmt von der Bühne komplimentierten, perlten die kleinen Laternenträger einer nach dem anderen auf die hell erleuchtete Lichtung.
Emma entdeckte Penny, die den Zug anführte, und Finka, die sich an Laurents Hand klammerte. Joseph hatte sich eine Art Fischtank auf den Rücken geschnallt, in dem Jonas sitzen und seine Laterne halten konnte. Der Anblick der Kinder und ihrer glücklich funkelnden Augen zauberte ein Lächeln auf die Gesichter aller Anwesenden.
Laurent stimmte ein Kinderlied an. Die Kinder sangen die erste Strophe, dann stimmten die Erwachsenen mit ein. Dazu wurde im Takt des Liedes geklatscht.
Emma nutzte die Gelegenheit, um sich umzusehen. Inzwischen hatten sich auf der Lichtung etwa einhundert Personen jeglicher Herkunft, Hautfarbe und Gestalt versammelt. Weiter hinten, am Waldrand, standen Derrick, Hilde und Miragel. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und schienen sich zu beraten. Emma hoffte bloß, dass nichts Schlimmes vorgefallen war.
Als das Lied zu Ende war, betraten Kilian und Kamilla die Bühne. Das rhythmische Klatschen ging in einen stürmischen Applaus über. Der Baron bedeutete der Menge, sich wieder zu beruhigen, doch die ignorierte seine Anweisung. »Beruhigt euch bitte«, rief Kilian.
»Umso schneller ihr euch beruhigt, desto eher gibt es etwas zu essen«, ergänzte Kamilla lachend. Daraufhin wurde es tatsächlich leiser.
Während Kilian eine kurze Ansprache hielt, waren es erneut Hilde, Derrick und Miragel, die Emmas Aufmerksamkeit auf sich zogen. Offenbar gab es einen Streit zwischen Derrick und Miragel. Die beiden schienen sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, anschließend verschwanden sie in unterschiedlichen Richtungen im Wald. Hilde wartete noch einen Moment, dann folgte sie Derrick.
»Was ist da los?«, flüsterte Savannah, die den Streit ebenfalls beobachtet haben musste.
»Keine Ahnung«, murmelte Emma. Sie wollte gerade aufstehen und Hildes Verfolgung aufnehmen, da eröffnete Kilian feierlich das Fest und alle sprangen gleichzeitig auf, um die Ersten am Buffet zu sein.
»Hey! Achtung! Achtung!«, beschwerte sich Harrod.
»Was ist mit euch?«, fragte Karel. »Wollt ihr nichts essen?«
»Nein, mir ist nicht nach essen«, murmelte Savannah.
»Du musst etwas essen«, erwiderte Emma. »Camio braucht eine Mutter, die bei Kräften ist.« Sie wandte sich an Karel. »Soll ich dir auch etwas holen?«
»Nein. Ich habe ja meine Medizin.«
Emma richtete sich auf und ließ sich von der Menge zum Buffet treiben. Derweil nahmen die Puppen wieder ihre Position ein und begannen auf ihren Instrumenten zu spielen. Sie taten das auf eine so geschickte und professionelle Weise, dass man glauben konnte, es mit einer Horde kleiner Musikerinnen zu tun zu haben. Nicht nur waren die Puppen außerordentlich musikalisch, sie sahen auch noch aus wie kleine Internatsschülerinnen - von den Kniestrümpfen bis zu den hellen Lockenköpfen.
»Faszinierend, nicht wahr?«, fragte Belle. Jede der Puppen auf der Bühne hätte ihre Zwillingsschwester sein können.
»Ja, schon«, antwortete Emma und suchte sich einen Platz in der Schlange, die am Buffet anstand.
»Nun frag schon«, drängte Belle.
»Was meinst du?«
»Du willst doch bestimmt wissen, ob ich auch eine Puppe bin.«
»Ich ...« Emma dachte kurz nach und nickte dann. »Du hast Recht. Das interessiert mich. Bist du eine Puppe?«
Statt einer Antwort fasste sich Belle an den Hals und drehte. Ihr Kopf löste sich mit einem Plopp-Geräusch von ihrem Körper. Bei dem Anblick wäre Emma beinahe ohnmächtig geworden. Sie stolperte gegen Sebastian, der vor ihr in der Schlange stand.
»Belle! Lass das gefälligst!«, kam es von irgendwoher.
»Ja, genau. Das ist krank!«, stimmte eine andere Person mit ein. Emma hätte schwören können, dass es sich um Harrod handelte.
»Haltet die Klappe!«, rief Belle zurück und klemmte sich ihren Kopf unter den Arm. Ihre großen Augen waren noch immer auf Emma gerichtet. »Diese Idioten sind bloß neidisch, dass sie sich nicht den Kopf abschrauben können. Ich meine, das hat einige entscheidende Vorteile.«
Emma hatte sich von dem Schock noch immer nicht ganz erholt. Schließlich war es kein alltäglicher Anblick, wenn sich ein kleines Mädchen einfach den Kopf abnahm. Aus dem Stumpf ihres Halses ragten einige Drähte. Als Belle ihren Kopf wieder zurücksetzte, streckten sie sich nach ihren Gegenstücken, die aus dem oberen Teil des Halses ragten. Dann verschmolz alles miteinander. Nur ein feiner, hauchdünner Spalt blieb zurück.
»Ich kann mir zum Beispiel die Haare frisieren, ohne mich dabei zu verrenken«, sagte Belle.
»Das ist natürlich wirklich ein entscheidender Vorteil«, erwiderte Emma.
»Ja, aber das ist noch nicht alles«, fuhr Belle fort. »Ich bin Masumis erste und beste Kreation.« Mit Blick auf die Bühne ergänzte sie: »Keine lächerliche Marionette, sondern eine richtige Künstlerin.«
»Eine Musikerin?«
»Schauspielerin!«, korrigierte Belle. »Die Beste in der ganzen Stadt. Und ich werde stetig weiter entwickelt.« Bei diesen Worten klang sie ganz unverkennbar stolz.
»Dann trittst du vermutlich in den Theateraufführungen auf, die hier jede Woche stattfinden«, vermutete Emma.
»Ganz genau«, erwiderte Belle und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin der Star in jedem Stück.« Außerdem war sie ganz offensichtlich ziemlich selbstbewusst.
»Und was ist mit Masumi?«, fragte Emma. Die Schlange bewegte sich Schritt für Schritt vorwärts. Über ihnen schoss eine Rakete durch den Himmel. Sie musste sich aus der irdischen Welt in ihre Atmosphäre verirrt haben. Allerdings verpuffte sie sofort, wie eine Kerze, die mit den Fingern erstickt wurde.
»Masumi schneidert mir die Stücke auf den Leib«, erklärte Belle. »Oder andersrum«, ergänzte sie mit einem neunmalklugen Grinsen. Es war schwer, sie nicht für ein vorlautes Gör zu halten.
»Und wo ist Masumi jetzt?«, fragte Emma, da sie die junge Asiatin schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte.
Belle faltete die Arme vor dem Körper und zog die aufgemalten Augenbrauen zusammen. »Sie kann nicht so gut mit anderen Menschen. Deswegen bleibt sie lieber für sich. Die meiste Zeit verbringt sie mit mir und den Marionetten.«
Vielleicht gehörte ein gewisser Hang zur Eigenbrötlerei dazu, wenn man so talentiert war wie Masumi. Emma fand es jedenfalls äußerst faszinierend, dass es Menschen gab, die eine derartige Kreativität besaßen. Sie selbst konnte mit Papier und Stift oder Holz und Säge nichts anfangen. Doch selbst wenn sie an einem Kleidungsstück arbeitete, befolgte sie einfach nur Anleitungen und Schnittmuster, die jemand anders für sie angefertigt hatte. Auch bei der Auswahl der Stoffe hielt sie sich meist an die Vorgaben. Sie hatte einfach nicht genügend Mut, vom Plan abzuweichen oder mal etwas Ausgefallenes zu versuchen.
Am Buffet angekommen, nahm sie sich einen Teller und von jeder Speise etwas. Doch noch bevor sie sich auf den Rückweg machen konnte, fiel ihr Blick auf Kilian und Derrick, die am Rand der Bühne standen und heftig zu diskutieren schienen, genau wie Derrick und Miragel zuvor. Emma zögerte noch einen Moment, dann drängte sie sich durch die Menge und ging zu ihnen. »Was ist los?«, wollte sie wissen.
»Nichts«, antwortete Kilian sofort.
Derrick schwieg. Es war ein unwilliges Schweigen, wie ein Kind, dem man befohlen hatte, still zu sein. Ein paar Blätter und Zweige hatten sich in seinen zerzausten Haaren verfangen. Wahrscheinlich war er abseits der Wege durchs Unterholz gelaufen.
»Irgendetwas ist passiert«, sagte Emma.
Kilian warf ihr einen gereizten Blick zu. »Das ist nicht deine Sache, Emma.«
»Wann hast du Titus zuletzt gesehen?«, platzte Derrick heraus. Der Zorn des Barons richtete sich jetzt auf ihn, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Ist er verschwunden?«, hauchte Emma. Eine Kirschtomate rollte von ihrem Teller. Sie bemerkte es kaum.
Derrick zuckte mit den Schultern. »Zumindest weiß niemand, wo er ist.«
»Dann müssen wir ihn suchen«, sagte Emma.
»Wir sind bereits dabei«, meinte Kilian. »Aber vermutlich treibt er sich bloß oben beim Observatorium herum. Das macht er öfter.«
»Nicht alleine«, wandte Derrick ein. »Miragel hat ihm verboten, alleine zu üben.«
Kilian warf ihm einen langen Blick zu. »Du hältst dich natürlich immer ganz genau an das, was Miragel dir sagt.«
»Nein«, gab Derrick unumwunden zu. »Aber Titus ist anders als ich.«
»Wie auch immer«, brummte Kilian und strich sich die widerspenstigen Locken aus der Stirn. »Miragel ist auf dem Weg zum Observatorium, Hilde und Nori sind zum Schloss aufgebrochen. Wir sollten uns beeilen und den Rest der Stadt absuchen.«
»Ich gehe zum Krähennest«, sagte Derrick. »Vielleicht ist er noch dort.«
»Du solltest nicht alleine gehen.«
Derrick lachte höhnisch. »Und Miragel?«
»Er ist ein Elf«, antwortete Kilian. »Er kann auf sich aufpassen.«
Dagegen schien Derrick nichts einwenden zu können. Er seufzte und ließ den Blick über die Menge schweifen. »Gut, dann nehme ich Joseph mit.«
Kilian nickte Emma zu. »Willst du wirklich helfen?«
»Auf jeden Fall!«
»Gut. Dann nehmen wir Anoushka mit und gehen nach Regenfurt.« Mit einem Blick zum Buffet ergänzte er: »Ich werde Kamilla in alles einweihen. Sie, Laurent und Lusine müssen das Fest beschützen.«
»Alles klar«, sagte Emma. »Ich bringe nur noch schnell das Essen zu Savannah.« Sie drängte sich durch die Menge und erreichte Savannah und Karel gerade noch rechtzeitig, um einen Blick auf Anoushka und den von Kopf bis Fuß in Bandagen eingewickelten Forlac werfen zu können. »Was wollten die beiden?«
Savannah lächelte traurig. »Sich entschuldigen. Für das, was mit Rasputin geschehen ist.«
»Na toll«, knurrte Emma. »Das bringt ihn jetzt auch nicht wieder zurück.«
»Es war nicht ihre Schuld«, meinte Savannah. »Forlac hatte einfach nur Angst. Und Anoushka ... es ist ihre Pflicht, Rasputin zu jagen. Sie kann nichts dafür. Außerdem waren die Feuerwerkskörper für das Fest gedacht und nicht, um sie gegen Rasputin einzusetzen.« Trotz ihrer freundlichen Worte, glaubte ihr Emma nicht, dass sie Anoushka und Forlac bereits verziehen hatte. Immerhin hatten die beiden nicht nur sie und Rasputin, sondern auch ihren Sohn in Gefahr gebracht. Ihr selbst wäre es jedenfalls schwer gefallen, ein solches Verhalten zu verzeihen.
Emma sparte sich jedoch einen Kommentar, sondern stellte den Teller zwischen Savannah und Karel ab. »Ich muss noch einmal weg«, erklärte sie.
»Wohin?«, fragte Karel. Er schien zu ahnen, dass irgendetwas im Gange war.
»Nichts Wichtiges«, erwiderte Emma.
Savannah schmunzelte und sagte augenzwinkernd: »Ich verstehe. Mir musst du nichts erklären.«
Erst als Emma schon auf dem Rückweg zu Kilian war, der am Waldrand auf sie wartete, ging ihr auf, was Savannah damit gemeint hatte. Vermutlich dachte inzwischen schon die halbe Stadt, dass sich zwischen ihr und Kilian eine Romanze anbahnte. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber amüsieren oder gekränkt sein sollte. Immerhin war sie bei aller Offenheit keine Frau, die sich gleich beim ersten Date Hals über Kopf verliebte - von Rasputin und seinen unlauteren Mitteln mal abgesehen.
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