9. Die Ruhe vor dem Sturm
Die nächsten drei Wochen vergingen wie im Flug, wobei die Ankunft der anderen beiden Schulen, die am Trimagischen Turnier teilnehmen würden, immerzu das Gesprächsthema Nummer Eins war. Lilian allerdings hatte ganz andere Sorgen: Seitdem sie herausgefunden hatte, dass der geheimnisvolle Hass nun auch von ihr Besitz ergriff, ohne dass sie es merkte, hielt sie sich von möglichst allen anderen fern. Das wiederum rief schnell Blaise und Draco auf den Plan, die immer misstrauischer wurden, je mehr Lilian sich zurückzog. Und irgendwann verlor Lilian dann schließlich doch wieder die Kontrolle, und alles ging von vorne los. Kurz: Es war ein Teufelskreis, aus dem sie sich einfach nicht befreien konnte.
Gerade hatte Lilian eine ausnahmsweise schnell vergangene Stunde Geschichte der Zauberei hinter sich. Professor Binns hatte mit seiner näselnden Stimme und der Art, wie er jeden Satz ohne jedwede Betonung erzählte, sich keine Freunde unter den Schülern gemacht: Sie alle waren meist so gelangweilt, dass innerhalb der ersten zehn Minuten die gesamte Klasse am Schlafen war. Als dann endlich die Schulglocke läutete, verschwand Lilian so schnell wie möglich aus dem Klassenraum raus zu ihrem Lieblingsplatz: der Peitschenden Weide.
Lilian kannte sich aus mit Dingen – oder Pflanzen – denen uralte Magie innewohnte, und somit war sie direkt von der Peitschenden Weide fasziniert. Seit sie das erste Mal ein solches Objekt gesehen hatte, hatte sie eine Begeisterung für die Urmagie entwickelt. Sie war unzähmbar, und beinahe unkontrollierbar - nur die größten Hexen und Zauberer, wie Merlin oder später Grindelwald, waren dazu in der Lage. Doch erforschen, das konnte Lilian einigermaßen gefahrlos.
Und so hatte sie einige blaue Flecken davongetragen bei dem Versuch, den toten Winkel der Weide auszumachen, doch zu guter Letzt hatte es sich gelohnt.
Hier konnte sie ihre Ruhe haben und wurde von niemandem gestört. Nie im Leben käme jemand auf die Idee sie hier zu suchen, schon gar nicht, wenn alle Welt mit der Ankunft der Schüler aus den zwei anderen Schulen beschäftigt war.
Gedankenverloren rieb Lilian sich über den Oberarm, wo die Weide sie einmal besonders heftig erwischt hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie leise es hier draußen war. Keine Vögel zwitscherten und kein Wind fuhr mit leisem Rascheln durch die Blätter der umstehenden Bäume. Es herrschte absolute Stille, und wenn Lilian so darüber nachdachte, erinnerte es sie ein wenig an die Ruhe vor dem Sturm.
Schließlich nahm sie ein Buch zur Hand und begann zu lesen.
Es war eines ihrer Lieblingsbücher von früher: Die Märchen von Beedle dem Barden. Besonders das Märchen der Heiligtümer des Todes war für sie interessant, obwohl Blaise sie immer damit aufgezogen hatte, dass sie doch eigentlich viel zu alt für Kindergeschichten wäre.
Lilian aber war der Meinung, dass die Märchen mehr als reine Kindergeschichten waren. Zumindest die Heiligtümer des Todes gab es wirklich, das wusste sie sicher - der Elderstab zumindest zog sich durch die magische Geschichte wie ein blutiges Leichentuch.
Der Elderstab, der Stein der Auferstehung und der Umhang, der unsichtbar macht: die drei mächtigsten Gegenstände in der Geschichte der Zauberei. Im Märchen hieß es, diese Gegenstände wären vom Tod persönlich hergestellt worden, für drei Brüder, die es schafften, eben jenen zu überlisten.
Daran glaubte Lilian eher weniger. Sie vermutete, dass die drei Brüder – Antioch, Cadmus und Ignotus Peverell – schlicht mächtige Zauberer waren, die hinter das Geheimnis der Urmagie gekommen waren. Nachdenklich betrachtete sie ihre Notizen am Rand des Textes. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihr würde etwas entgehen, etwas, das erklären konnte, warum sie von dem geheimnisvollen Hass heimgesucht wurde. Sie wusste nur nicht, was.
„Lilian! Da bist du ja, ich habe dich überall gesu- bei Merlins Bart, was tust du da?", hörte Lilian eine ihr durchaus bekannte Stimme panisch rufen. Melissa stand außerhalb der Reichweite der Peitschenden Weide und starrte Lilian an.
„Ich lese", grummelte sie.
„Kannst du dich nicht einfach wie ein normaler Mensch zum Lesen in den Gemeinschaftsraum setzen? Wie bist du bitte dahin gekommen - soll ich einen Lehrer rufen, der dich hier rausholt?", fragte Melissa nun erstaunt und neugierig. Lilian überlegte, ob sie das Melissa wirklich anvertrauen wollte. Allerdings schien ihr die junge Macmillan nicht wie jemand, der darauf aus war, Leute zu verpetzen - wie zum Beispiel Miranda es war.
Also begann Lilian leise zu erklären, um die Ruhe nicht zu stören: „Jedes Lebewesen hat mindestens einen toten Winkel. Auch solche wie die Peitschende Weide."
„Und das heißt, du kannst dich jederzeit hier verstecken? Wie cool!", quietschte Melissa. Lilian musste ein wenig grinsen, doch gleichzeitig spürte sie auch einen Stich in ihrem Herzen. Ein wenig einsam war sie ja schon, so ohne Blaise, an den sie sich wenden konnte. Doch es war besser so.
„Äh - kommst du da irgendwie wieder raus? Es ist gleich so weit, Durmstrang und Beauxbatons kommen demnächst an. Professor McGonagall ruft alle Schüler am Ufer des Sees zusammen", meinte Melissa und riss Lilian somit ein weiteres Mal aus ihren Gedanken. „Ich komme gleich."
„Ich warte auf dich", sagte Melissa mit einem Grinsen im Gesicht. „Danke", antwortete Lilian überrascht und stand auf. Vorsichtig, mit dem Rücken zu Melissa gedreht, schlich sie von der Weide weg. Kaum stand Lilian neben Melissa, murmelte diese leise: „Abgefahren..." Ein breites Lächeln schlich sich auf Lilians Gesicht. Dann machten sich die beiden Mädchen auf zum See.
Dort wurden sie bereits von Miranda erwartet. Schlagartig fiel Lilians halbwegs gute Laune in den Keller. „Da seid ihr ja endlich! Ich wollte gerade Snape Bescheid sagen, dass ihr fehlt", verkündete Miranda wichtigtuerisch.
„Hmpf", brummte Lilian und stellte sich in eine Reihe zu den anderen, während Melissa und Selwyn fröhlich miteinander tuschelten.
Plötzlich war etwas am Himmel zu sehen, und gebannt starrten die Schüler auf den immer größer werdenden Fleck zwischen den Wolken. „Ein Drache", schrie Melissa aufgeregt. Miranda warf ihr einen genervten Blick zu. „Nein, kein Drache", murmelte Elizabeth, während Lilian versuchte, das Licht mit der Hand von den Augen abzuschirmen, „Die Kutsche von Beauxbatons."
Sie hatte Recht, wie Lilian feststellte, es war eine Kutsche. Gezogen von einem Sechsergespann von geflügelten Pferden flog sie auf das Schloss zu, machte einige wilde Schlenker, dann landeten die sechs riesigen Pferde vor der Reihe der Lehrer. Die geflügelten Pferde waren riesig, doch im Vergleich zu der Person, die nun aus dem Wagen stieg, schienen sie sogar recht klein. Das erste, was man von ihr sah, war ein schwarz lackierter, hochhackiger Schuh von der Größe eines kleinen Dachses. Als nächstes sah Lilian einen Mantel mit hauchdünner Pelzborte, der aussah, als wäre er alles andere als für kalte Temperaturen geeignet. Zuletzt streckte die riesenhafte Frau ihren Kopf aus der Tür der Kutsche. Sie hatte rote, kurze Haare und schien um die fünfzig zu sein. Und sie war eindeutig nicht hundertprozentig menschlich.
„Madame Maxime, ich bin erfreut, Euch hier in Hogwarts willkommen heißen zu können", begrüßte Dumbledore die Französin.
„Dumbli-dorr! Die Freude ist ganz meinerseits. Ist Igorr schon da?", fragte sie. Melissa kicherte leise, genauso die Weasley-Zwillinge am anderen Ende der Reihe. Auch Dumbledore schmunzelte leicht, als er antwortete: „Nein, Professor Karkaroff ist noch nicht eingetroffen. Wollen ihr mit uns draußen warten oder euch lieber schon einmal aufwärmen?"
Mit einem Blick auf die Schüler, die hinter ihr aus der Kutsche ausstiegen, meinte die Schulleiterin: „Isch glaube, wir wärmen uns lieber ein wenisch auf. Ach, Dumbli-dorr, könnte man sisch um meine Pferde kümmern?"
„Nun, ich denke, Professor Hagrid wird sich liebend gerne mit solch edlen Pferden beschäftigen. Nicht wahr, Hagrid?", wandte sich Dumbledore an den anderen Halbriesen.
Dieser grinste nur breit Madame Maxime an. „Joa, denke schon, dass ich das schaff' ", grinste er in seinen dicken, drahtigen Bart.
Damit bewegte sich der Zug von Mädchen mit ihren hauchdünnen, himmelblauen Seidenschals um den Kopf gewickelt und zitternd in Richtung Eingang. Sie waren anscheinend das nass-kühle Klima Britanniens nicht gewöhnt. Kein Wunder – sie kamen schließlich aus dem wesentlich wärmeren Frankreich.
Kaum waren sie im Schulgebäude verschwunden, zeigte Melissa erneut in die Ferne. „Schaut mal, dort, unter der Wasseroberfläche!"
„Das sieht aus wie ein „rhincodon typus"", meinte Miranda. Auf den fragenden Blick von Melissa hin erklärte sie: „Ein Walhai." Skeptisch hob die Macmillan eine Augenbraue. „Ich finde, es sieht mehr aus wie ein...Boot", überlegte sie laut. Lilian sah genauer hin, viel genauer, denn nun war auch ihr Interesse geweckt.
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