26. Treffen bei Mitternacht
Draco Malfoy war ihr vielleicht größtes Versagen und der Grund, warum sie tagtäglich eine Maske aufsetzte, durch die hindurch man sie nicht mehr verletzen konnte. Nicht so, wie sie in diesem Kerker verletzt wurde, weil sich Angst und Panik durch ihre Knochen gefressen hatten und sie Stunden dort ausharrte, in denen der Raum immer kleiner und kleiner zu werden schien.
Und Draco war so geworden, weil er in Slytherin an die falschen Leute geraten war.
Beinahe Ironie, dass es nun Melissa war, die Lilians Maske zum Bröckeln brachte. Ebenfalls eine Slytherin, doch auf seltsame Art ganz anders als die anderen. Ehrgeizig, doch nicht von den eigenen Zielen zerfressen.
Vielleicht war das der Grund, warum Lilian sich mit unsicherer Stimme sagen hörte:
"Du bist mir auch wichtig."
Und damit schwiegen sie einander wieder an.
Der Tag schien sich förmlich hinzuziehen. Während Melissa erst spät abends zurückkehrte von ihrer Shoppingtour mit Miranda, verbrachte Lilian die Zeit mit der Nase in einem Buch - genauer, in einem Märchen von Beedle dem Barden. Drei Brüder, die den Tod überlisteten. Drei Gaben, die Leben nehmen, geben und schützen konnten.
Leider gab es nichts in diesem Buch, das ihr verriet, wie sie mit einem Fluch umzugehen hatte, der ihren Tod wollte - ein Tarnumhang würde ihr wohl wenig bringen.
Und trotzdem blieb das Gefühl, dass sie etwas übersah, sobald sie auch nur eine Zeile des Buches las. Das Gefühl, blind für etwas offensichtliches zu sein.
Melissa war bereits bei Einbruch der Dunkelheit in Richtung Schlafsaal verschwunden, vermutlich, um schlafen zu gehen.
Als es halb zwölf schlug, klappt Lilian das Buch zu und griff nach einem der schwarzen Umhänge. Mit einem Zauberstabtippen auf den Umhang versuchte sie sich an einem Desillusionierungszauber. Auf der Stelle begann der Stoff zu schimmern und sich seinem Hintergrund anzupassen.
Mithilfe ihres improvisierten Tarnumhangs - auch eine Idee, die sie aus dem Märchen von Beedle hatte - war es einfach, an den Patroullien von Filch und Professor Sprout vorbei in den Eulenturm zu gelangen. Sprout war bereits so müde, dass sie bloß um den Schein zu wahren die Augen offen hielt und dementsprechend auch nicht das leise tapsende Flimmern bemerkte, das an ihr vorbeischlich. Filch selbst war einfach auszutricksen, seine dreimal verfluchte, struppige Katze dagegen musste Lilian mit einem Verwirrungszauber davon abhalten, ihre Anwesenheit zu bemerken.
Manchmal hatte es wirklich etwas für sich, Erfahrung damit zu haben, sich nachts rauszuschleichen.
Die Kälte draußen machte ihr allerdings mehr zu schaffen. Der Wind pfiff und die nasse Kälte sog sich in ihr Fleisch wie in einen Schwamm. Ihren Mantel konnte sie sich nicht richtig umlegen, da dann ihr Kopf nicht mehr von dem Desillusionierungszauber bedeckt gewesen wäre, und Lilian nun doch nicht Draufgängerin genug war, dieses Risiko einzugehen.
Also kämpfte sie sich bibbernd und zitternd durch die kargen Ländereien Hogwarts', bis sie in den windgeschützten Turm gelangte, der ihr sofort einige Graf wärmer vorkam.
Leise schloss sie die hölzerne Tür hinter sich und drehte den Stoff ihres Umhangs auf die nicht getarnte Seite - für den Fall, dass Elizabeth etwas plante, war es gut, den Zauber noch nicht zu lösen.
Der Eulenturm selbst war kaum beleuchtend, zuliebe der Eulen, Uhus und Kauze, die hier lebten. Entlang der Treppe gab es ein paar spärlich verteilte Lampen, sowie neben Türen, um zu gewährleisten, dass man sich auch im Winter zurechtfand.
Als Lilian die steinerne Wendeltreppe hinaufgestiegen war, stockte sie für einen kurzen Augenblick. Vor ihr erstreckte sich der Nachthimmel in einem samtigen Dunkelblau, bloß durchbrochen von den strahlenden Sternen, die auf Lilian hinabblickten. Die Luft war kühl und klar, ihr Geruch vermischte sich mit dem der Eulen. Erneut wehte ein scharfer Wind, der sich mit einem leisen Pfeifen im Gemäuer des Turms verfing und über Lilians Haut strich. Irgendwo in der Weite heulte ein Wolf.
Durch den Wind in die Ferne getragen, ertönten zwölf Glockenschläge.
"Die Aussicht ist wirklich berauschend", stellte eine frostige, höhnische Stimme fest.
Lilian drehte sich um, ihr Blick begegnete dem eines Mädchens mit dunklem Haar und sonst so eisblauen Augen, die in den Schatten beinahe grau wirkten. Elizabeth Nott hatte auf sie gewartet.
"Du bist pünktlich, welch Überraschung. Ich dachte schon, du würdest dich nie bessern", meinte Nott ohne mit der Wimper zu zucken.
Lilian seufzte, bemüht, die aufkeimende, irrationale Wut in ihrem Innern zu unterdrücken. Sie wusste, dass Nott irgendwoher von dem Fluch erfahren hatte und dass sie mit jeder Provokation nur versuchte Lilian näher an den Abgrund zu stoßen.
Das würde ihr nicht gelingen, nicht heute und wenn es nach Lilian ging auch sonst nicht.
"Komm zum Punkt, Nott", sagte sie.
"Aber sicher doch", erwiderte ihr Gegenüber süßlich. Aus der Tasche, die an ihrer Seite hing, zog Nott ein mitteldickes, in altes Leder eingebundenes Buch, das selbst in der glättenden Dunkelheit abgenutzt aussah.
Sie wedelte damit spielerisch herum. "Wenn du willst, kannst du es haben. Das ist es doch, was du willst, oder?"
Lilian kniff die Augen zusammen.
"Zu welchem Preis?"
"Kein Preis."
"Spiel keine Spielchen, Nott."
Elizabeth rollte mit den Augen. "Du bist wirklich schwer von Begriff. Du schuldest mir keine Gegenleistung, weil du den Preis längst bezahlt hast, Dummerchen."
"Und der wäre?"
Ein teuflisches Lächeln hatte sich nun auf Elizabeths Lippen geschlichen. "Das wirst du noch früh genug herausfinden." Sie legte einen Finger auf die Lippen. "Du musst nur hinhören, und dir werden sich ein paar Antworten offenbaren, deren Fragen du nie gestellt hast."
Damit legte sie das Buch in ihrer Hand demonstrativ auf einem Mauervorsprung ab und drehte sich in Richtung Treppe. Bevor sie jedoch den Turm verlassen konnte, ergänzte sie noch:
"Erinnerst du dich an meine Worte, als du versucht hast, den Runenstein mit Drachenfeuer zu aktivieren? Ignis aurum probat. Ich habe das nicht gesagt, um mit meinen Lateinkenntnissen anzugeben."
Bevor Lilian etwas entgegnen konnte, war Nott verschwunden und ließ Lilian allein in der Dunkelheit stehen.
Hinhören sollte sie angeblich. Doch um was zu hören? Das Pfeifen des Windes? Das Jaulen eines Wolfes? Das Krächzen der Eulen?
Da bemerkte sie es, siedend heiß fiel die Erkenntnis in ihren Verstand ein:
Es gab keine Wölfe in Großbritannien. Auch keine magischen Tierwesen, die vergleichbare Laute machten.
Sehr wohl allerdings gab es Werwölfe.
Mit einem Satz hatte sie nach dem Buch gegriffen und stolperte hastig die Treppe hinunter. Wie in Trance hatte sie den Stoff ihres Umhangs wieder auf die andere Seite gedreht, die Kälte der Nacht nahm sie nicht einmal wirklich wahr. Der einzige Gedanke, der sich in ihrem Kopf drehte wie ein Karussell, war:
Es gab einen Werwolf an Hogwarts.
Selbst nach den Geschehnissen im letzten Schuljahr, als man den Werwolf Remus Lupin als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste eingestellt hatte, hatte das Kollegium von Hogwarts wohl nicht dazu gelernt und begriffen, dass Werwölfe gefährlich waren. Jemand, der sich einmal im Monat in eine blutrünstige Bestie verwandelte, war einfach kein sicherer Umgang für Schüler, für Kinder, die teilweise bloß elf Jahre alt waren und sich oft genug rein aus Prinzip nicht an Regeln hielten.
Beim Gedanken, dass Melissa oder Blaise einem Werwolf zum Opfer fallen könnten, drehte sich Lilians Magen kurzerhand um. Es gab Schicksale, die schlimmer waren als der Tod, und ein Leben als triebgesteuerte Bestie wünschte sie nicht einmal Elizabeth oder gar Morgana, die für einen Großteil Lilians Probleme verantwortlich war.
Alls sie im Schlafsaal ankam, wurde sie von Stille umfangen. Leise, um die anderen nicht zu wecken, zog sie sich um, kletterte in ihr Bett und nahm das Buch mit dem ledernen Einband hervor, ehe sie sich die Decke über den Kopf zog und leise "Lumos" flüsterte. Augenblicklich erhellte sich das Blatt Pergament vor ihr.
Es war das Buch, das sie mit Melissa in der Verbotenen Abteilung gesucht hatte. Avalon - Die Tragödie von Merlin und Morgana. Doch als sie die erste Seite aufschlug, die nächste und auch die danach, erwartete sie eine Überraschung:
Die Seiten waren leer.
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