20. Der Zusammenhalt unter Schlangen
Sie ließ die Beine baumeln, ihr Blick schweifte in die Ferne. Zu dem großen, dunklen See, der sich an eben jenen Berg schmiegte, auf dem Hogwarts errichtet war.
Mythen rankten sich um die schwarzen Tiefen, und die breite, spiegelnde Fläche war das Zuhause von Wassermenschen, Kelpies und anderen magischen Kreaturen.
Wenn sie darüber nachdachte, faszinierte sie dieser See ebenso wie der Feuerkelch, der immer noch sein Dasein in der Speisehalle fristete.
Man hatte ihn stehen lassen wie Dekoration, und inzwischen interessierte sich kaum noch einer für dieses urmagische Artefakt, das sie anzog wie Licht die Motten.
Sie spürte sie, die Magie, die in ihm stärker schlummerte, als in Hogwarts' Wänden, wo sie herumgeisterte wie eine vergessene Seele. Mit jedem Tag wurde dieses Empfinden stärker, und irgendwann fand sie Gefallen daran, die Augen zu schließen und die Magie aufzuspüren, die überall in den alten Gemäuern versteckt war.
Der Preis, den sie für diese Fähigkeit zahlte, war allerdings hoch: Die Stimmen in ihrem Kopf wurden lauter, wollten sie zum Aufgeben bewegen und flüsterten ihr Wahrheiten zu, die sie längst verdrängen wollte.
Würde man Lilian fragen, würde sie sagen, dass sie längst wahnsinnig war. Phineas - ein längst verstorbener Geist, wie hilfreich - war der einzige, der etwas anderes sagte.
Sie schloss die Augen. Der Wind streifte ihre Wangen mit einer sanften Berührung, fuhr ihr durch die schwarzen Locken und ließ ihren dunklen Umhang hinter ihr flattern. Ein seltsames Gefühl von Freiheit überkam sie, entgegen all der rationalen Gedanken, die ihr sagten, dass eben die Freiheit das war, was ihr nicht vergönnt war.
Nachdem Miranda von ihrem Aufenthalt in der Nähe der Peitschenden Weide – eigentlich war es ja sogar direkt unter dem Baum gewesen – erfahren hatte, hatte sie natürlich die Lehrer informiert. Lilian war mit einer Zurechtweisung durch Professor Snape und Professor McGonagall und einem Abzug von zehn Punkten davon gekommen, nachdem Professor Sprout selbst nach ausgesprochen genauer Inspektion keine Beschädigungen entdeckt hatte. Das kam ihr so lange her vor, dabei war es gerade mal Anfang Dezember. Die Standpauke vonseiten der Professoren war kaum zwei Monate her.
Allerdings hatte sie sich einen neuen Platz suchen müssen, wo sie ungestört nachdenken konnte. In Hogwarts hatte ständig irgendwer gerade Freistunde, und die stillen Nischen unten im Kerker waren die Lieblingsplätze frisch verliebter Pärchen aus der siebten Klasse.
Letztendlich war sie bei der wunderschönen, in den Berg gehauenen Treppe hinunter zum Bootshaus gelandet. Sie war aufgrund ihrer schier ewigen Länge der absolute Horror für faule Schüler – also für alle Schüler –, weshalb eigentlich jeder die Abkürzung durch ein Portrait im dritten Stock nutzte. Lilian liebte allerdings die Aussicht, die man von dem Plateau hatte, das etwa auf der Hälfte des Berges lag. Man konnte bis hinaus auf die schmale Linie blicken, die den Horizont darstellte, umrahmt von zwei Hügeln, die die Szenerie in ihre Mitte nahmen. Anfangs hatte sie sich bloß dort auf dieses Plateau gestellt und hinaus auf die glänzende Wasseroberfläche geblickt, bis ihr das schließlich zu unbequem wurde und sie begonnen hatte, das breite, steinerne Geländer als Sitzplatz zu nutzen.
Und nun saß sie hier, ließ die mit den schwarzen Stiefeln beschuhten Füße an der Felskante herunter hängen und hing mal wieder ihren Gedanken nach. Sie hätte gerne weiter experimentiert, so wie sie es zuhause getan hatte, doch würde Snape dafür niemals sein Labor bereitstellen, und in ihrem Zimmer war einfach immer zu viel los.
Es war seltsam, wie schnell sich alles entwickelt hatte. Vor ein paar Monaten war ihr größtes Problem noch ein Drohbrief gewesen, nun musste sie irgendwie eine Frau aufhalten, die einmal die Erzfeindin von Merlin selbst gewesen war, und außerdem einen Fluch bekämpfen, der bereits ihre halbe Familie in den Wahnsinn getrieben hatte.
Und dann war da noch das Notizbuch, das ihr so bekannt vorkam und immer noch verschwunden war. Jemand musste es gefunden haben, da waren Phineas und sie sich einig, bloß wussten sie nicht, wer.
Und Blaise ... je häufiger sein Name in ihrem Kopf fiel, desto größer wurde Lilians Wunsch, endlich wieder mit ihm zu reden. Sie musste ihm ja nicht gleich erzählen, was alles geschehen war und was sie erfahren hatte – er würde ihr doch sowieso nicht glauben. Aber sie wollte nicht mehr allein sein, so ungern sie das auch zugab. Am liebsten wollte sie diesen Wunsch abschütteln wie ein Hund die Nässe im Pelz, aber er hatte sich an ihr Herz geklammert und sie wurde ihn einfach nicht mehr los.
Das Schlimmste an ihrem derzeitigen Zustand war die Tatsache, dass egal was sie tat oder sagte, es wurde nicht besser. Nicht einmal Phineas schien noch zu glauben, dass sie es schaffen könnte, ihr Leben irgendwie wieder komplett in den Griff zu kriegen. Er meldete sich kaum noch, verschwand für einige Tage komplett aus ihrer Nähe und sprach bloß selten mit ihr, als wolle er sich langsam von ihr distanzieren - obwohl er immer etwas anderes beteuerte. Allerdings wollte er ihr auch nicht sagen, wohin er verschwand.
Dabei wollte sie diesen Funken Hoffnung in ihrem Innern noch nicht loslassen. Die Hoffnung, die sie gefunden hatte, noch nicht zurückgeben. Sie gehörte nun zu Lilian, egal, wie kurz das Licht am Ende des Tunnels manchmal vorm Erlöschen stand.
Sie öffnete die Augen wieder, und hätte in diesem Moment jemand zugesehen, hätte er bemerkt, dass das helle Grün etwas klarer wirkte als am Morgen. Als hätte sich der dumpfe Schleier etwas gelichtet.
Lilian schwang die Beine über das graue, steinerne Geländer hinweg auf den Boden auf der anderen Seite. Plötzlich hörte sie Schritte. Ein leichtes Klopfen, so federnd, dass es bloß eine einzige Person gab, die so viel Fröhlichkeit in ihren Gang legen konnte.
„Lilian!" Sie drehte sich um. Melissa kam hopsend die Treppe herunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend und ein breites Lächeln im Gesicht.
„Da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht!"
Lilian kam nicht umhin, leise murrend zu erwidern: „Ich wollte meine Ruhe, Melissa.
Es ist natürlich schwierig, Leute zu finden, die nicht gefunden werden möchten."
Urplötzlich wurde Melissas Gesichtsausdruck ernst. „Du redest nicht von vor ein paar Wochen, oder?"
Sie setzte sich auf die Brüstung, und auch Lilian ließ sich auf ihren ehemaligen Sitzplatz zurück fallen. Ihre Gestik hatte etwas Resigniertes, ein stilles Seufzen.
„Was meinst du?", fragte Lilian halbherzig.
„Ich bitte dich, ich weiß es doch längst. Dir geht es nicht gut, das sieht sogar ein Blinder. Ich habe versprochen, dass ich es notfalls selbst herausfinden werde. Aber-", sie setzte einen flehenden Blick auf, „-es wäre mir wirklich lieber, wenn du es mir einfach sagen würdest. Ich will nicht einmal die ganze Wahrheit, wenn du dich nicht bereit dazu fühlst. Bloß ein kleines Stückchen." Sie zeigte ihr ihre aufeinander zugeschobenen Finger, die bloß Millimeter auseinander waren.
Lilian schüttelte den Kopf. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals, und sie war sich sicher, würde sie nun etwas sagen, würde ihre Stimme brechen und zeigen, wie schwach sie sich in diesem Moment fühlte. Sie wollte heulen, aber ihr Innerstes verbot ihr, Schwäche zu zeigen.
Melissa fuhr mit leiser Stimme fort, als wolle sie ein wildes Tier beruhigen.
„Weißt du noch, als ich Snape angelogen habe? Du warst noch nicht im Gemeinschaftsraum, und Miranda und ich haben uns Sorgen gemacht. Also habe ich Snape erzählt, du wärst schon im Bett. Kurz darauf warst du wieder da – aber du wolltest mir weder sagen, was passiert ist, noch, warum du so verloren aussahst. Deine einzige Frage war, warum ich das getan habe.
Ich habe dir gesagt, dass du mir die Geschichte ja vielleicht irgendwann erzählst.
Lilian, das ist der Moment. Der Moment, in dem die Wahrheit – und komm mir bloß nicht mit irgendwelchen Ausreden – es ein Stückchen näher an die Oberfläche schafft."
Lächelnd, aber immer noch mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen, drückte Melissa Lilians Hand. Sie wollte Lilian Mut machen, bloß wusste sie nicht, dass es nicht daran lag, dass sie es nicht sagen wollte.
Sie konnte einfach nicht.
In diesem Moment allerdings sprach Melissa weiter.
„Und weißt du, was ich dort noch geantwortet habe?"
Lilian schüttelte bloß den Kopf, die Augen auf die Sonne gerichtet, die sich unablässig dem Horizont entgegen bewegte.
„In Slytherin hält man zusammen."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro