17. Die Rune
Als sie gemeinsam mit dem Jungen des Verbotenen Wald verließ, hatte sie immer noch nicht die Petze gespielt und Nott verpfiffen. Und sie würde es auch nicht tun – auch wenn sie nicht wusste, warum.
Irgendwann hielt sie den Rothaarigen zum Stehen an.
„Wirst du den Lehrern von dieser Sache erzählen?", fragte sie, ängstlich wegen der Konsequenzen, die diese Sache haben könnte. Wenn sie einen Verweis – Merlin bewahre, daran wollte sie nicht einmal denken – erhielt, könnte sie die ZAGs vergessen. Das Ministerium würde ihr nach ihren unzähligen Delikten nicht noch eine Chance gönnen. Und ohne die ZAGs konnte sie ihren Traum von einem Studium der Zauberstabkunde vergessen, dann würde sie niemand mehr irgendwo als Auszubildende annehmen. Erst recht nicht Ollivander, als größter Zauberstabmacher in wahrscheinlich ganz Großbritannien.
Erleichtert atmete sie aus, als der Junge den Kopf schüttelte.
„Nein, denke nicht. Versprich mir bloß, dass du nie wieder in so eine Situation gerätst, ja? Drachen sind gefährlich, besonders für Schüler, die keine Erfahrungen mit ihnen haben", erklärte er, woraufhin für Lilian die Frage aufkam, wie alt er eigentlich war. Sie hätte ihn nicht viel älter geschätzt als sie es war, vielleicht ein Praktikant bei den Drachenreservaten, aber er sagte das, als hätte er die Schule schon lange abgeschlossen.
Vielleicht sah er auch einfach jünger aus, als er war.
„Sieht so aus, als schuldest du mir jetzt was", grinste er breit. Lilian musste reflexartig ebenfalls lächeln, ehe sie das Thema wechselte: „Wie heißt du eigentlich?"
„Charlie", stellte er sich vor. Einen Nachnamen schien er auslassen zu wollen – war vielleicht auch besser so, wenn er wirklich ein Weasley war. Sie reichte ihm die Hand.
„Ich bin Lilian."
Das Grinsen in seinem Gesicht schien einfach nicht weichen zu wollen, als er antwortete: „Freut mich, dich kennen zu lernen, Lilian."
Als die beiden sich verabschiedeten, bedankte sich Lilian ein letztes Mal für die spontane Rettung bei ihm. Es fühlte sich so seltsam an, es war Ewigkeiten her, dass sie das so ohne Angst und Sorge um ihren Ruf als Lestrange getan hatte. Aber wenn sie ehrlich war, vermisste sie diese Zeit nicht.
Der Tag verlief ruhig – jedenfalls bis Lilian beschloss, den Teil des Schlafzimmers aufzuräumen, den sie bewohnte. Es war nicht so, dass dort sonderlich viel herumlag, doch der Staub tanzte auf den Bildern, die sie auf ihrem Nachttisch aufgestellt hatte, ihre Notizen waren, seitdem Nott ihre Sachen nach ihnen durchwühlt hatte, immer noch nicht vollends sortiert und auch ihr Schrank konnte eine Neuordnung vertragen.
Die anderen saßen Karten spielend im Gemeinschaftraum, ihr Lachen drang sogar durch die dicke Zimmertür hindurch. Es war der ideale Zeitpunkt für ein wenig Privatsphäre für Lilian.
Sie begann bei den Kleidungsstücken im Schrank, und räumte Kleider und Röcke nach hinten. Der Winter stand vor der Tür, und aktuell war ihr jeder dicke Schal lieber als ein Sommerkleid.
Ihre Notizen nahmen mehr Zeit in Anspruch. Schnell vermischten sich erfundene Zauberformeln, alte Runen und Symbole, sowie experimentelle Trankrezepte vor ihren Augen zu einem Gemisch aus Pergament und Tinte, in dem sie kaum noch die einzelnen Bestandteile erkennen konnte. Sie erledigte solche Dinge für gewöhnlich gern per Hand, um absolut exakte Ergebnisse zu gewährleisten, eine Angewohnheit, die sich dank Madam. Zabini in ihr Gehirn gebrannt hatte. Die Frau, die auf seltsame Art und Weise die Mutterrolle für sie übernommen hatte, war der Grund für so einige seltsame Angewohnheiten, die Lilian sich angeeignet hatte, zum Beispiel die Tatsache, dass sie nichts von Quidditch hielt - ganz im Gegensatz zu Blaise.
Sie musste grinsen beim Gedanken, dass Blaise sie ständig dazu überredet hatte, mit ihm Torwürfe zu üben, wobei sie natürlich die Jägerin übernehmen musste, obwohl sie nicht besonders gut werfen konnte. Aber ihr störrischer Bruder hatte es sich in den Kopf gesetzt, es im zweiten Jahr in die Quidditchmannschaft als Hüter zu schaffen, und so übte sie mit ihm, schließlich war er ihr Bruder und sie würde sehr viel geben, um ihn lächeln zu sehen.
Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war, allein und ohne irgendjemandem, dem sie vertrauen konnte, im Anwesen der Zabinis anzukommen. Ihre Mutter war gerade verurteilt worden, und infolgedessen musste man sich um ihre Tochter kümmern, die damals gerade mal sechs Jahre alt war – die der Erziehung einer reinblütigen, fanatischen Todesserin ausgesetzt war. Und dennoch gab es noch genug Fanatiker im Ministerium, die Lilian als Reinblüterin und Sprössling der Blacks und Lestranges vor dem Waisenhaus schützten und stattdessen die Familie Zabini als Pflegefamilie vorschlugen:
Neutral im Krieg, reinblütig, und durchaus nicht mittellos – der meisten Meinungen nach eine gut Umgebung für ein Kind wie Lilian. Dass Madam Zabini allerdings ohne irgendwelche Widerworte das Kind zweier Todesser aufgenommen hatte, war bis heute unverständlich für Lilian, denn Blaise' Mutter war vieles, aber ganz sicher keine fürsorgliche Menschenfreundin.
Zu Beginn hatte sie noch Angst vor dieser Frau, die für ihre verschollenen Ehemänner bekannt war, aber schnell hatte sie sich an den kritisierenden und forschen Umgangston gewöhnt – soweit sie sich erinnern konnte, war es nicht sonderlich anders als vor ihrer Zeit bei den Zabinis.
Sie wusste noch, dass sie furchtbar nervös in Blaises Gegenwart war, aber sich von Anfang an gut mit ihm verstanden hatte. Sie hatte sich immer Sorgen darum gemacht, was er von ihr halten könnte, weil sie sich so sehr wünschte, in ihm einen Verbündeten, einen Bruder zu finden. Was eine dumme Ironie, dass sie nun heute in derselben Situation war, und Blaise nicht einweihen durfte - es war einfach zu riskant.
Müde blinzelte sie einige Male, ihre Lider schienen langsam schwerer zu werden.
Ihre Gedanken schweiften zu Charlie. Sie war selten einem so aufgeschlossenen Menschen begegnet – selbst Melissa war anfangs misstrauisch. Doch Charlie schien so hoffnungslos offenherzig zu sein, dass es an Naivität grenzte. Er war anders – auf sehr erfrischende Art. Die Faszination und Begeisterung in seinem Blick, als er über die Drachen, die er versorgte, gesprochen hatte, glich der, die Lilian beim Experimentieren mit Urmagie empfand. Sie hatte noch nie erlebt, dass jemand ähnlich über ein Thema dachte, sie alle schienen bloß mit halbem Herzen dabei zu sein und ihre Träume lieber in weiter Ferne zu lassen, um ihnen beim Verblassen zuzuschauen, statt nach ihnen zu greifen und sie festzuhalten.
Nicht zum ersten Mal fiel Lilian auf, wie seltsam die Menschheit doch war. Aber vermutlich gehörte das zum Menschsein dazu. Leise gähnte sie – der Tag war nicht unbedingt das, was sie als entspannend betrachten würde.
Sie griff nach dem Bild ihrer Mutter. Lächelnd winkte sie in die Kamera, die schwarzen Locken lose und leicht zerzaust über ihren Schultern. Manchmal beneidete Lilian sie um ihre natürliche Schönheit – oder um dieses Lächeln, das so furchtbar ehrlich war, dass es wehtat. Zumindest, wenn man wusste, was heute aus dieser Frau geworden war.
Im Hintergrund sah man einen Turm von Hogwarts und die weiten Ländereien, alles sah so friedlich, so harmonisch aus. Als hätte es nie einen Krieg gegeben.
Lilian wischte mit dem Finger über die Glasfläche. Sie hatte einen dunklen Punkt weiter hinten entdeckt, vielleicht eine Staubflocke. Doch der Punkt blieb, und Lilian sah genauer hin. Es war ein schmaler, silhouettenartiger Strich. Unsicher, wie diese Verunreinigung ins Glas gelangt war – zumindest vermutete sie, dass diese Linie das war – griff sie nach ihrem Zauberstab und murmelte einen Säuberungszauber. Sie kannte nur die einfachsten Zauber dieser Art – Aufräumen konnte sie noch nie leiden – aber für so etwas reichte es. Doch der dunkle Klecks verschwand nicht, stattdessen schien er sogar größer zu werden.
Plötzlich machte sich eine beißende Hitze an ihren Fingern breit und sie zuckte zurück, die scheinbar verbrannten, schmerzenden Finger an sich gedrückt. Das Bild hätte auf den Boden fallen müssen, als sie es losließ, doch stattdessen blieb es in der Luft schweben. Als würden sich Flammen von der Rückseite des Bilderrahmens durch das Bild fressen, verkohlten einzelne Stellen in der Fotografie und formten eine schwarze Linie, die sich in Form einer Rune über das Bild zog. Asche rieselte zu Boden.
Mit gehetztem Herzschlag schlug sie die Augen auf. Ihr Kopf lag auf dem Schreibtisch, vor ihr Stapel von Notizen.
Rechts von ihr stand das Bild ihrer Mutter, die sie zögerlich anlächelte, wie sie es immer tat. Als wäre nichts geschehen.
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