11. Geister
Am nächsten Tag hatte Lilian wesentlich bessere Laune. Sie hatte den gestrigen Abend hauptsächlich mit lesen verbracht, doch seit heute Nachmittag war sie dabei, mit Melissa und Miranda im Gemeinschafsraum Zauberschach zu spielen.
Elizabeth wollte nicht mitmachen - was Lilian auch ganz recht war - und hatte sich in einen der grünen Sessel gesetzt, um in einem merkwürdigen, alten Notizbuch zu blättern. Lilian kümmerte das nicht, zum ersten Mal seit fast zwei Monaten hatte sie keine Angst, dass der geheimnisvolle Hass wieder auftauchte und sie die Kontrolle verlor.
Gerade befahl sie einem der Bauern, einen unachtsam aufgestellten Läufer zu schlagen.
Melissa sah der schwarzen Figur mit großen Augen zu, wie sie ihre zwei Schwerter zog und den Läufer in zwei Teile zerschlug.
„Du hast gesagt, du könntest Zauberschach spielen!", zischte sie Miranda zu, die es sich neben ihr auf dem Sofa bequem gemacht hatte.
„Kann ich ja auch", erwiderte diese, „konnte ja keiner ahnen, dass Lestrange so gut ist."
Lilian lächelte in sich hinein. Miranda hatte sie unterschätzt - mal wieder. Doch ihr Blick sagte ihr, dass das nicht noch einmal vorkommen würde, also befahl sie ihrem Turm, ein paar Felder vor zu rücken.
Miranda kniff die Augen zusammen, doch auch sie konnte nicht verhindern, dass ihr König sein Schwert und die Krone frustriert neben sich schmiss und sich trotzig wie ein kleines Kind auf den Boden setzte, die steinernen Ärmchen über der Brust verschränkt und einen Schmollmund ziehend.
„Schachmatt", sagte Lilian.
Gerade setzte Miranda zu einem „Revanche!" an, als ein Gong ertönte.
Eilig sprang Melissa auf, packte einen Block mit einer Feder in ihre Tasche und stürmte los. Im Gehen rief sie noch: „Halloween-Festessen!", dann war sie auch schon verschwunden.
Nun beeilte sich auch Miranda mit einem empörten „Hey, warte auf mich!", den Raum zu verlassen.
Lilian sah zu, wie der Gemeinschaftsraum sich leerte, sie selbst konnte sich allerdings nicht wirklich aufraffen, um loszugehen. Auch Elizabeth saß noch in ihrem Sessel, in ihren Augen ein Ausdruck, den Lilian nicht deuten konnte. Natürlich konnte man an Elizabeth Nott nie irgendetwas deuten, aber dieses Mal war es anders. In ihrem Gesicht lag mehr Ausdruck, als Lilian es je bei ihr gesehen hatte. Es wirkte beinahe, als hätte sie Angst vor etwas, wobei Angst schon übertrieben war.
Doch genauso schnell, wie er gekommen war, war der Moment auch wieder vergangen. Elizabeth hatte Lilians Starren bemerkt und blickte sie nun mit ihren hellblauen Augen an. „Was glotzt du so, Lestrange?", fragte sie arrogant.
Lilian hatte das dringende Bedürfnis, ihrem Gegenüber einen Fluch auf den Hals zu hetzen, doch sie ließ es. Ein Hauch ihrer guten Laune war anscheinend doch noch da, und so verließ sie die Frage ohne Kommentar und wollte sich freundlich zeigen.
"Was liest du da?", wollte sie mit einem Lächeln wissen.
"Etwas, das über deinen Verstand hinaus gehen würde", erwiderte Elizabeth hochnäsig und klappte das Buch zu. Dann erhob sie sich aus ihrem Sessel und zog etwas aus der Tasche ihres Umhangs, das sie dann Lilian in die Hand drückte."Aber wenn du unbedingt mit mir reden willst, solltest du dich vielleicht erst damit auseinandersetzen."
Es war ein Zettel, doch ehe Lilian ihn auseinander falten konnte, ergänzte Elizabeth: "Ach, und richte Phineas aus, dass das Angebot noch steht, wenn er denn endlich zur Vernunft kommt."
Damit war sie verschwunden, und ließ Lilian fassunglos stehen.
Warum wusste Elizabeth Nott von Phineas?
Ihr ging das durch den Kopf, was Nott bei ihrer kleinen Auseinandersetzung vor ein paar Wochen gesagt hatte. Ihr Fluch sei schlimmer als Lilians - was auch immer das bedeuten mochte, es wies darauf hin, dass sie von dem Erbfluch wusste, den Phineas bereits erwähnt hatte. Der, der für die Dunkelheit verantwortlich war, die sie immer häufiger zusammen mit einer Wut und einem Hass durchflutete, die eindeutig nicht zu ihr gehörten. Vielleicht war sie manchmal nicht einfach, doch dieser Zorn war Jahrzehnte alt - wenn nicht sogar Jahrhunderte.
Du hast mich gerufen?
Sie zuckte zusammen. Phineas war wie ein Phantom in ihrem Kopf aufgetaucht und hatte wieder einmal in Sekunden ihre mühsam errichteten Barrieren eingerissen.
"Könntest du das lassen?", stöhnte sie genervt.
Was denn?, fragte er scheinheilig.
"Einfach alles", murrte Lilian, und ergänzte: "Mal ganz abgesehen davon, dass ich dich nicht rufen kann. So funktioniert Legilimentik nicht."
Vielleicht keine normale Legilimentik, meine aber schon, hörte sie ihn förmlich grinsen.
"Verzieh dich, Phineas", ließ sie all ihre vorgetäuschte Höflichkeit fallen. Vielleicht war er wirklich ihr Vorfahre, in dieser Welt gehalten als geisterhafter Legilimentor, vielleicht auch nicht. So oder so wollte sie ihn nicht in ihrem Kopf.
Es ist wichtig, Lilian. Es steht viel auf dem Spiel und es gibt niemanden außer mir, der dich vorbereiten kann.
Ein erneutes, entnervtes Stöhnen kam über ihre Lippen. Daraufhin entgegnete sie: "Was auch immer es ist, was auch immer es mit dem Fluch auf sich hat, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein durchgedrehter Geist mir dabei besser helfen kann als meine Familie."
Ich bin deine Familie, Lilian, und zwar vielleicht sogar mehr als es deine Eltern je sein werden. Bellatrix Black und Rodolphus Lestrange sind die wahren Geister in deinen Gedanken, stimmt's? Ich rede wenigstens mit dir, von ihnen hast du nur Bilder und lose Erinnerungen, die du so tief in dir weggesperrt hast, dass noch nicht mal an sie heran komme.
"Das geht dich nichts an!", rief Lilian frustriert, während sie gegen den aufkeimenden Zorn ankämpfte. Sie fühlte sich wie eine tickende Zeitbombe.
"Verschwinde einfach, und komm nie wieder", flüsterte sie erschöpft, als sie sich wieder beruhig hatte.
Es kam keine Antwort.
Als sie in der Großen Halle angekommen war, war sie verblüfft von der aufwendigen Dekoration. Die Kerzen waren in die Form von Skeletten gezaubert worden, Kürbisse flogen an den Wänden und schummriges Licht erfüllte die Halle, die viel magischer wirkte als sonst schon. Vielleicht lag dieses Gefühl an dem großen Aufwand der Vertrauensschüler für diese Atmosphäre, vielleicht lag es aber auch an dem großen, goldenen Kelch in der Mitte des Lehrerpodiums, der Lilians Blicke anzog.
Kaum hatte sie sich gesetzt, begann Dumbledore seine Rede bezüglich der Champions. Lilian hörte allerdings nicht zu, sie wusste schon in etwa wie das ablaufen würde: Der Feuerkelch würde für jede Schule einen Namen ausspucken. Diese Person würde dann mit einem magischen Pakt an den Feuerkelch gebunden sein und müsste beim Trimagischen Turnier mitmachen - und das alles funktionierte durch Magie, die mächtiger war als alles, was die Schüler um sie herum begreifen könnten.
Als Dumbledore seine Rede beendet hatte und alle gegessen hatten, begann das Auswahlverfahren des Feuerkelchs. Dumbledore löschte mit einer Handbewegung alle Kerzen, sodass die Flammen des Feuerkelchs die einzige Lichtquelle im riesigen Saal waren. Dann, nach einigen Sekunden, loderten eben diese Flammen hoch auf.
Mit einem leisen Zischen verfärbten sie sich zu einem leuchtend hellen Türkis-Blau. Plötzlich flog etwas aus der Schale heraus, ein kleiner, ordentlich gefalteter Zettel. Dumbledore griff ihn aus der Luft, und las vor: „Der Champion von Beauxbatons wird...Fleur Delacour!" Ein Mädchen mit langem Silberhaar stand unter tosendem Applaus auf und begab sich in den Seitenraum, wo die Champions sich sammeln sollten.
Dann spuckte das Feuer den nächsten Zettel aus. „Der Champion für Durmstrang wird... Viktor Krum!", rief Dumbledore. Krum stand von seinem Platz neben Melissa auf, wobei diese ihm breit grinsend auf die Schulter klopfte und ihm Glück wünsche, ehe er mit schweren Schritten ebenfalls in den Raum hinter dem Lehrertisch ging.
Ein letzter Zettel flog aus dem Kelch. „Und aus Hogwarts...Cedric Diggory!", verkündete Dumbledore. Der Hufflepuff-Tisch am anderen Ende der Halle brach in Begeisterung aus, grölend und jubelnd feierten sie Cedric, der mit einem breiten Lächeln im Gesicht Krum folgte. Gerade wollte Dumbledore zu einigen abschließenden Worten ansetzen, als die Flammen des Kelchs erneut blau wurden.
Ein weiteres, verkohltes Stück Pergament flog aus dem Feuerkelch. Es herrschte Totenstille. Niemand bewegte sich, Lilian hielt den Atem an. Ein vierter Champion? Wie war das möglich?
„Harry Potter!"
Auf einmal begann der Tumult um Lilian herum. Sie bemerkte noch, wie Draco wütend aufstand und mit zornfunkelnden Augen „Buuh!" rief. Wie Melissas Feder in einem atemberaubenden Tempo über das Papier kratzte. Wie Elizabeth förmlich in sich zusammen sank, als wäre der ganze Trubel um sie herum zu viel. Wie Blaise mit fragender Miene zu Draco sah.
Dann fielen all ihre Schutzwälle in sich zusammen, und Lilian spürte eine altbekannte Präsenz in ihrem Geist.
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