
1. Neuanfang
Gedankenverloren starrte sie auf das Bild auf dem Tisch neben ihr. Ein Mädchen mit langen, schwarzen Locken, blasser Haut und dunklen Augen war darauf zu sehen. Die junge Frau lächelte selbstbewusst, aber dennoch ehrlich und vielleicht sogar ein wenig fröhlich. Lilian wusste, dass ihre Mutter inzwischen anders aussah, sie hatte Bilder im Tagespropheten gesehen. Doch dieses Foto wurde lange Zeit vor der ersten Herrschaft des dunklen Lords aufgenommen, und es gab noch keinerlei Hinweise darauf, wozu sich viele der damaligen Hogwartsschüler entwickeln würden.
Generell stellte sich Lilian ihre Mutter lieber so vor, ohne den fanatischen Glanz in den Augen und das irre Lachen, das auf Fotos so häufig ihr Gesicht prägte. Das Bild zeigte bloß, wie sie sich umdrehte und lächelte, mehr nicht. Es waren keine anderen Personen zu sehen, nichts außer Lilians Mutter und dem Hogwartsgelände im Hintergrund. Dennoch konnte sie sich kaum von dem Bild losreißen, um mit der Hogwartslektüre anzufangen. Ihr Pflegebruder, Blaise, hatte es vor wenigen Wochen für sie aufgetrieben, und sie war ihm immer noch unendlich dankbar dafür.
„Liliana Corvina Lestrange! Komm auf der Stelle her!", ertönte eine herrische, unterkühlte Stimme. Lilan zuckte zusammen. Niemand außer ihrer Pflegemutter und Blaise' bestem Freund, Draco, nannte sie so, und letzterer tat es vermutlich nur, um sie zu provozieren. 'Liliana Corvina', dass man sie unbedingt nach irgendeiner wahnsinnigen Vorfahrin hatte benennen müssen.
Lilian rollte genervt mit den Augen, stand aber dennoch aus dem großen, dunkelgrünen Ohrensessel auf und legte ihr Buch bei Seite. Die Kunst der Zauberei. Ein Schnauben entfuhr ihr. Anfängerkram, aber Madam Zabini ließ nicht zu, dass sie fortgeschrittene Bücher in die Hände bekam. Sie sei 'zu jung'.
Sie ging hinüber in das Arbeitszimmer von Madam Zabini. Blaise' Mutter wollte grundsätzlich so genannt werden, vermutlich um sich eben jenen Hauch Autorität zu wahren, den sie nun nur noch gegenüber ihrem Sohn und ihrer Pflegetochter durchsetzen konnte. Das war der große Nachteil daran, sich allein um einen riesigen Haushalt zu kümmern.
„Liliana, es kam ein Brief vom Ministerium", seufzte Madam Zabini, die Stirn frustriert auf ihre Hand gestützt, während ihr Blick auf einem Stück Pergament auf dem Schreibtisch lag.
„Ja. Und?", entgegnete Lilian ein wenig bockig.
„In diesem Brief war die Rede davon, dass du bei nicht lizensierten Experimenten beobachtet wurdest. Schon wieder. Du kennst die Regeln, Lilian. Was du da treibst, ist gefährlich. Du kannst die Auswirkungen eines Experiments nie kontrollieren."
„Es war doch niemand in Gefahr!", behauptete Lilian trotzig. „Und außerdem, was will das Ministerium schon dagegen tun? Mich von der Schule werfen?"
„Genau das und viel Schlimmeres. Die Regierung möchte nicht, dass du mit dieser Art von Magie arbeitest, ganz besonders nicht du. Hör zu, ich werde das Ministerium nur noch dieses eine Mal abwimmeln. Sollte das noch einmal passieren, ist deine fixe Idee, ein Jahr auf Hogwarts zu verbringen, Vergangenheit." Sie seufzte. „Bei Merlin, was soll ich bloß mit dir machen?"
„Du könntest...", setzte Lilian an.
„Das war eine rhetorische Frage!", fauchte Madam Zabini, doch ihr Blick schweifte in die Ferne, zum Fenster hinaus. Lilian tippte ungeduldig mit der Spitze ihres teuren, schwarzen Stiefels auf den marmorierten Boden.
„Sind wir dann fertig?", murrte sie. Hogwarts war ihr Traum, seitdem Blaise und Draco dort ihr erstes Jahr absolviert hatten und freudestrahlend nach Hause gekommen waren, mit Geschichten von diesem magischen Ort.
Wieder ein Seufzen vonseiten Mrs. Zabinis. „Von mir aus. Geh' deinen Koffer packen."
Plötzlich klopfte es. „Blaise. Komm rein", meinte sie. Die Tür öffnete sich, und Blaise trat ein.
„Mutter. Lilian. Draco ist da, mit Neuigkeiten. Er sagt, er hätte eine Nachricht von seinen Eltern, angeblich ginge es um...naja...also ich..."
„Merlin, Blaise, hör mit dem Stottern auf", wies ihn Madam Zabini zurecht.
„Nun, er meinte, es ginge um den dunklen Lord", erklärte Blaise zähneknirschend.
Seine Mutter schrak von ihrem Stuhl auf. „Ich komme sofort."
Damit stand sie auf und verließ das Zimmer. Kurz vor der Tür drehte sie sich jedoch noch einmal kurz um. „Ach, Liliana: Morgen ist dein Koffer gepackt. Und Daisy wird das dieses Mal nicht übernehmen." Lilian stöhnte entnervt. Sie hatten doch keine Hauselfen, damit diese den ganzen Tag Urlaub machen konnten.
Allerdings verkniff Lilian sich diesen Kommentar und meinte stattdessen: „Von mir aus." Madam Zabini warf ihr noch einen mahnenden Blick zu und rauschte dann davon. Zurück blieben nur Blaise und Lilian. „Solltest du nicht, du weißt schon, irgendwelchen Hogwartskram erledigen?", fragte sie ihn zögerlich.
„Nein. Und falls du von Hausaufgaben redest, die mache ich sowieso nicht", entgegnete er grinsend.
Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Er wusste, wie viel sie darum geben würde, das zu haben, worüber er so sorglos sprach.
„Dann gehe ich jetzt wohl meine Sachen packen", meinte sie, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Nach einigen Minuten des peinlich berührten Schweigens fragte sie endlich: „Wo genau sind eigentlich die Koffer?" Plötzlich begann Blaise zu lachen. Einfach so, ohne jeden Grund, wie es für Lilian schien. „Warum lachst du? Kannst du mir nicht einfach mal helfen?", wetterte sie empört.
„Es ist nur...", er hielt sich inzwischen den Bauch vor Lachen, „du lebst jetzt seit zehn Jahren hier, und du weißt nicht, wo die Koffer stehen?"
Zehn Jahre, vier Monate und 6 Tage.
„Normalerweise kümmert sich Daisy um so etwas", murrte sie.
Er grinste. „Unten am Boteneingang", erklärte er.
Normale Brüder hätten jetzt ihre Hilfe angeboten, dachte sie, während sie einen Koffer aus dem Schrank hievte. Blaise war aber nicht normal, er war der Sohn einer Frau mit sieben Ehemännern, die allesamt auf wundersame Weise den Tod fanden. Und ihr Bruder war er genau genommen auch nicht. Madam Zabini hatte Lilian vor zehn Jahren – da war sie fünf Jahre alt - bei sich aufgenommen. Ihre Mutter saß in Askaban, ihr Vater genauso, und man wusste nicht, wo man das Kind zweier Todesser unterbringen sollte. Die Lestranges und die Blacks hatten immer noch viel Einfluss, und man ließ nicht zu, dass sie einfach in eine Familie von Schlammblütern verfrachtet wurde. So kam sie zu den reinblütigen Zabinis, die jedoch zu dem damaligen Zeitpunkt keinerlei Verbindungen zu den Todessern hatten. Die beste Lösung.
Dennoch: Bellatrix und Rodolphus Lestrange waren nie mehr als Namen in ihrem Kopf gewesen, die sich manchmal in ihr Leben einschlichen und kurz darauf wieder verschwanden.
Allerdings war ihr durchaus klar, dass sich das in Hogwarts ändern würde. Die letzten Jahre hatte sie Privatunterricht erhalten, bis das Zaubereiministerium eines Tages eine Eule geschickt hatte: Sie musste die ZAGs in Hogwarts abschließen, andernfalls würde die Prüfung nicht anerkannt werden. Zugegeben, die ZAGs würden nicht schwer werden, den Großteil des Unterrichtstoffs hatte sie bereits zuhause durchgearbeitet. Viel mehr freute sie sich auf die ganzen Erfahrungen, die Abenteuer, die sie außerhalb der Wände der Villa erwarten würden.
Kaum hatte sie den silber-schwarzen Koffer die gewundenen Treppen in die zweite Etage hochgeschleppt - gezwungenermaßen ohne Zauberei -, kam ihr auch schon Daisy, die Hauselfe der Familie Zabini, entgegen.
„Aber Miss Lestrange, das hätte ich doch übernehmen können. Kommen Sie, ich mache das!" Die Elfe wollte ihr schon den Koffer abnehmen.
Kurz überlegte Lilian, sie einfach machen zu lassen. Dann fiel ihr jedoch der wütende Gesichtsausdruck von Mrs. Zabini ein, als diese Lilian angewiesen hatte, Daisy nicht um Hilfe zu beten.
„Daisy, ich kriege das schon hin. Du wirst sicherlich unten gebraucht", überlegte das Mädchen sich eine kleine Halbwahrheit.
Widerwillig wandte die Hauselfe sich ab und disapparierte.
„Auch wenn ein wenig Hilfe gar nicht mal so schlecht gewesen wäre", murmelte Lilian, als Daisy weg war. Außerdem hätte sie zu gerne gewusst, welche Neuigkeiten Draco überbrachte.
Als sie dann endlich die letzten paar Meter in ihr Zimmer geschafft hatte - die Rollen vertrugen sich nicht mit dem Teppich im Flur -, seufzte sie erleichtert auf und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. Ihr Zimmer war hauptsächlich in Grüntönen gehalten und hatte, ganz im Stil einer älteren Villa, Stuck an der Decke. Neben dem Schreibtisch gab es einen Durchgang zum begehbaren Kleiderschrank, und Lilian stand allein bei dem Gedanken kurz vor der Verzweiflung, nur einen winzigen Teil ihrer Kleidung mitnehmen zu können. Und dann würde sie auch noch die ganze Zeit in Hogwarts diese dämliche Schuluniform anziehen müssen.
Plötzlich hörte sie Stimmen von unten. Das war ein weiterer Vorteil ihres Zimmers: Es lag direkt über der Eingangshalle. Man konnte mit ein wenig magischer Nachhilfe - die sie schon vor mehreren Jahren als Zauber auf das Zimmer gelegt hatte - perfekt lauschen, was unten besprochen wurde.
„Du kannst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass er zurückkommen wird, Draco. Daran glaubt doch niemand mehr." Das war Blaise. Hatte Draco seine Nachricht an Mrs. Zabini schon überbracht? Und was meinte er mit „zurückkommen"?
„Ich weiß es selbst nicht. Das ist nur das, was man sich hinter verschlossenen Türen erzählt, und du kennst die Familien, auf deren Informationen man sich in unseren Kreisen verlässt - du weißt, das man den wenigsten wirklich vertrauen kann. Aber meine Eltern meinten, dass ich es euch vielleicht erzählen sollte. Du weißt schon, wegen ihr."
Das alles ergab keinen Sinn. Worum ging es überhaupt in diesem Gespräch, und wer war sie? Leider verabschiedeten sich Draco und Blaise schon, und nachdenklich von dem, was sie gehört hatte, begann Lilian, ihren Koffer zu packen. Gerade räumte sie zwei Bücher ein, als aus einem von ihnen ein Zettel herausfiel. Sie hob ihn auf. Er war noch neu, im Gegensatz zu dem Buch, und wie ein Brief gefaltet. Auf dem Umschlag stand kein Adressat.
Sie zögerte - schließlich könnte es gut ein groß angelegter Streich von Draco oder Blaise sein, der etwas mit dem Gespräch von gerade eben zu tun hatte. Doch die Neugierde siegte schließlich. Vorsichtig, ganz behutsam faltete sie ihn auseinander. Dort stand in kleiner, säuberlicher Schrift geschrieben:
Die Spiele haben begonnen, doch bleib fern vom Turnier.
Komm nach Hogwarts und finde mich.
Folge meinen Anweisungen, oder der junge Zabini wird bezahlen.
gezeichnet, A. M.
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