19 | Eifersüchtige Enthüllungen
2.411 Worte
Und wieder lässt er mich einfach stehen. Mit traurigem Blick wendet er sich ab, greift nach dem Beckenrand und steigt aus dem Wasser. Verdutzt schaue ich ihm einige Sekunden hinterher, ehe Leben in mich kommt.
Ohne länger über mein Handeln nachzudenken, schwimme ich ebenfalls schnell zum Beckenrand, halte mich fest und hebe mich, leider nicht halb so elegant, aus dem Wasser. Reece ist schon fast an der Tür zu den Männerduschen.
Mir bleibt nicht viel Zeit, um zu überlegen. Zügigen Schrittes, aber ohne zu rennen, damit ich auf den nassen Fliesen nicht ausrutsche und einen peinlichen Sturz hinlege, gehe ich zu den Frauenduschen. Dort bleibe ich kurz stehen, fummle das Schlüsselband von meinem Fußgelenk und gehe dann auf direktem Weg zum Spind. In Rekordgeschwindigkeit ziehe ich mich um, wringe kurz meine Haare aus, wickle die nassen Sachen in ein Handtuch, das ich grob in die Tasche stopfe, und verlasse das Gebäude. Draußen warte ich auf Reece, in der Hoffnung ihn noch nicht verpasst zu haben.
Ein leichter Wind weht, es ist bereits dunkel, die Straßenlaternen sind schon an, aber durch die große Fensterfront kann ich jeden in der hell erleuchteten Eingangshalle erkennen.
Nach drei Minuten werde ich bereits nervös, nach fünf Minuten tippe ich mit einem Fuß unruhig auf den Boden und nach sechs Minuten tigere ich ein paar Schritte vor dem Gebäude auf und ab, ehe ich beschließe, nur noch vier Minuten zu warten.
Länger kann ein Junge ja wohl nicht brauchen, um zu duschen und sich umzuziehen, oder?
Nach sieben Minuten und dreißig Sekunden taucht Reece' Gestalt hinter der Fensterfront auf. Fünf Sekunden später tritt er nach draußen.
Da ich ihm beim letzten Mal nicht gefolgt bin, hat er wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass ich es dieses Mal tun würde.
»Du kannst nicht jedes Mal einfach abhauen.«
Erschrocken zuckt Reece zusammen, als ich auf ihn zutrete.
»Das geht nicht. Wenn du aufhören willst feige zu sein, dann musst du auch die Reaktion deines Gegenüber abwarten und Fragen beantworten.«
»Giovanna ... «
»Nein, ich habe es satt immer nur angefüttert und vor dem Hauptgang abserviert zu werden. Was ist zwischen Sammy und dir vorgefallen? Inwiefern hast du seine Freundschaft nicht geschätzt?« Ich drapiere meine Tasche, die über meiner Schulter hängt, so vor meinem Körper, dass er weitestgehend vor Reece' Blicke geschützt ist. Das schenkt mir Selbstvertrauen.
Unwohl blickt er an mir vorbei auf den Asphalt. Seine schwarzen Haare hat er nachlässig mit dem Handtuch trocken gerubbelt, sodass sie wirr in alle Richtungen abstehen. Das dunkle T-Shirt betont seinen trainierten Oberkörper und die Jeans sitzt locker auf seiner Hüfte.
Einen Moment bin ich von seinem Anblick abgelenkt, ehe ich mich wieder zur Ordnung rufe. Seit wann lenkt mich der Anblick irgendeines Kerls ab?
Als er immer noch nicht antwortet, bohre ich nach. »Also?«
Angespannt fährt er sich durch die feuchten Haare und schaut mich dann an. Eine Hand umklammert den Riemen seiner Tasche, die über seiner Schulter hängt, die andere steckt in seiner Hosentasche. Ein tiefer Seufzer entfährt ihm, ehe er schließlich anfängt zu erzählen. »Ich war befreundet mit Sam ... uel.«
Wieder entgeht mir nicht, dass er kurz davor war, Sammys Spitznamen zu benutzen.
»Quasi seit ich vor vier Jahren nach Brownsville gezogen bin. Vor drei Jahren kam dann Ginger. Sie hat den kompletten Ton der Schule verändert. Klar gab es vorher Außenseiter, aber sie wurden von keinem beachtet. Mit Ginger änderte sich das. Sie fing an, auf ihnen rumzuhacken und keinen interessierte das geschweige denn, dass jemand etwas unternommen hätte. Außenseiter sind eben Außenseiter – kaum jemand hat Interesse an ihnen.
Naja, und die anderen, also fast die komplette Schülerschaft bewunderten Ginger aus den unterschiedlichsten Gründen. Die Jungs wollen sie daten. Die Mädchen beneiden sie. Die einen wollen nur mit ihr befreundet sein, weil sie Geld hat und die anderen, um nicht in ihre Schusslinie zu geraten.« Er stoppt, beißt sich auf die Unterlippe, wippt mit einem Bein und richtet den Blick gen Himmel.
»Und du?«, frage ich vorsichtig, in stiller Erwartung die Antwort schon zu kennen.
Er schließt die Augen, als hätte er genau diese Frage erwartet. Sein Blick ist weiter nach oben gerichtet. »Ich gehöre zur ... letzten Gruppe.« Langsam senkt er den Kopf und schaut mich an. Aber er schafft es nicht, meinem Blick standzuhalten und schaut, schon auf den Sturm wartend, an mir vorbei auf den Bürgersteig.
Ich würde gerne wütend sein. Wütend darüber, dass er so ein Feigling ist und Leute wie ich deshalb leiden müssen. Aber sein gequälter Anblick fährt mir zwischen die Eingeweide und ich bringe es nicht über mich, ihn dafür zu verurteilen. Seufzend fasse ich mir mit einer Hand auf den Kopf und spüre meine nassen Haare unter den Fingern. Nein, ich kann ihn nicht verurteilen. Nicht für ein Gefühl, das ich selbst nur zu gut kenne.
Ich würde niemals, niemals in meinem Leben meine Freunde verraten, aber ich verstehe, dass man nicht in Gingers Schusslinie geraten möchte. Ich selbst will ja unbedingt da raus und bis vor wenigen Wochen war mein Ausweg so was wie eine Freundschaft zu ihr aufzubauen.
Bestürzt stelle ich fest, dass ich wirklich mit Ginger befreundet sein wollte, und schüttle den Kopf.
Unfassbar.
Reece, der immer noch auf eine Reaktion von mir wartet, deutet meine Gestik und Mimik ganz falsch. Fluchend wendet er sich ab, um sich zwei Sekunden später wütend umzudrehen und mit erhobenem Zeigefinger auf mich zuzukommen. »Genau deshalb habe ich nichts gesagt. Verdammt, denkst du, ich weiß nicht, dass das falsch war? Dass das absolut beschissen von mir war? Glaub mir, das weiß ich und es vergeht kein Tag, an dem ich mir das nicht vorhalte. Du brauchst das also nicht auch noch zu tun.«
Erschrocken stolpere ich zwei Schritte zurück, umklammere den Riemen meiner Tasche fester und schaue zu Reece auf. »Ich – Ich – Das wollte ich nie sa – «
»Ich hab's doch in deinem Gesicht gesehen«, unterbricht er mich harsch und ein humorloses Lachen verlässt seinen Mund. »Keine Ahnung, was mich dazu gebracht hat, dir das zu erzählen. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass du mich verstehen könntest. Aber am besten du vergisst, was ich gesagt habe.« Mit den Worten wendet er sich ab und geht.
Völlig perplex schaue ich ihm hinterher. So habe ich mir das nicht vorgestellt.
🍭🍭🍭🍭🍭
Dad hält am nächsten Morgen vor der Schule, aber ich bleibe noch einen Moment sitzen und suche den Pausenhof nach Reece ab. Er ist nicht zu sehen.
Die halbe Nacht habe ich wach gelegen und mir hin- und herwälzend überlegt, wie ich wiedergutmachen kann, was passiert ist. Ich wollte Reece nicht das Gefühl geben, ich würde ihn verurteilen ...
Vor ein paar Wochen hätte ich das ohne mit der Wimper zu zucken getan. Ich hätte seine Antwort gehört, sie zu dem vorgefertigten Bild, das ich von ihm hatte, hinzugefügt und nur noch Abfälligkeit für ihn übrig gehabt.
Aber jetzt ...
Seit er mir letzte Woche Donnerstag vor dem Schwimmbad gesagt hat, er stünde sich selbst im Weg, und seitdem das Missverständnis wegen der Mailbox-Nachricht endlich geklärt ist, sehe ich einen anderen Reece.
Einen menschlichen, nicht perfekten Reece. Einen verletzlichen, der leidet, weil er einen Fehler gemacht hat und der ganz im Gegensatz zu seinem Auftreten in der Schule sogar unsicher sein kann.
Und dieser Reece will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich ihm zeigen kann, dass ich ihn nicht verurteile.
Die Sonne scheint warm auf mich herab, als ich die Tür öffne und aussteige. Eigentlich ist es schon zu warm, um immer noch in Hoodie und Jogginghose herumzulaufen. Die meisten Schülerinnen tragen bereits Röcke und T-Shirts, aber ich schaffe es nicht, den Schutz meiner weiten Klamotten aufzugeben. Letzten Sommer habe ich mich lieber zu Tode geschwitzt, statt ein Shirt anzuziehen.
Immer wenn ich mir vorgestellt habe, wie ich mit kurzen Sachen zur Schule gehe, haben sich die Blicke aller Schüler, an denen ich vorbeilaufe, angewidert auf mich gerichtet. Ganz nach dem Motto: Wie kann ich der Welt nur so einen Anblick zumuten?
Ich weiß, dass es so nicht wäre, aber diese Bilder flammen jedes Mal auf, wenn ich auch nur in Erwägung ziehe, ein T-Shirt anzuziehen.
In meinen langen, weiten Klamotten schlendere ich auf Sammy zu, der neben dem Eingang wartet. Doch neben ihm steht heute morgen noch jemand.
Addison.
Das trifft mich unvorbereitet, doch da die beiden mich schon gesehen haben, versuche ich mir nichts anmerken zu lassen und gehe weiter auf sie zu.
»Hey«, begrüße ich sie freudig, bleibe vor ihnen stehen und schiebe meine Daumen unter die Träger meiner Tasche. Wahrscheinlich das erste Mal in zwei Jahren, dass ich Sammy nicht umarme.
Er grüßt mich ebenso freudig zurück, Addison grummelt nur.
»Und sollen wir uns auf den Weg zu Spanisch machen?«, fragt Sammy und schaut uns beide erwartungsvoll an.
Wir? Für einen Augenblick bin ich irritiert, dann fällt mir ein, dass Addison gemeinsam mit Sammy und mir Spanisch hat. Innerlich stoße ich einen gequälten Seufzer aus, äußerlich setze ich ein hoffentlich überzeugendes Lächeln auf und sage: »Klar.«
Just in dem Moment, in dem wir beim Kursraum ankommen, ertönt die Klingel. Nach und nach strömen die Schüler in ihre Klassen und wir betreten mit drei weiteren Schülern den Raum.
Wie in jedem Kurs, den ich mit Sammy gemeinsam habe, sitzt er nur einen Tisch entfernt von mir. Addison sitzt auf dem Platz vor Sammy.
Als ich ihn anschaue, erscheint vor meinen Augen Reece gequälte Gestalt von gestern. Er glaubt, dass Sammy ihm niemals verzeihen wird, was passiert ist. Aber wenn ich Sammy erzähle, wie Reece sich fühlt – vielleicht schaffen die beiden es dann, sich auszusprechen.
Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass sie wieder Freunde werden könnten – das werden sie wahrscheinlich nie mehr –, aber Sammy könnte endlich seinen Groll begraben und Reece wäre von seinen Schuldgefühlen befreit.
Und er würde sehen, dass ich ihn für seinen Fehler nicht verurteile.
Der Lehrer ist noch nicht da und Addison hat sich nach vorne gedreht und beschäftigt sich mit ihrem Handy, weshalb ich die Gelegenheit nutze, bevor ich zu lange darüber nachdenke und einen Rückzieher mache.
Weil ich weiß, dass Sammy auf Reece nicht gut zu sprechen ist, atme ich einmal tief durch, bevor ich anfange zu erzählen. »Ich war gestern wieder schwimmen.«
Sammy, der schon mal die Hausaufgaben aufgeschlagen hat, schaut auf. »Und?«
»Naja, wahrscheinlich kannst du dir denken, dass Reece auch da war«, teste ich seine Reaktion aus. Er senkt den Blick auf seine Tischplatte und atmet einmal tief, ehe er mich wieder anschaut.
»Ja, das kann ich. Und ist etwas Spezielles passiert?«
In jedem Wort tritt deutlich Sammys Abneigung zutage, aber es ist zu spät, um zurückzurudern, deshalb spreche ich, nachdem ich einen Moment über meine nächsten Worte nachgedacht habe, weiter. Vorsichtig äußere ich: »Er hat mir ein bisschen erzählt, was damals ... was damals zwischen euch vorgefallen ist.«
»Na, dann weißt du ja, warum es sinnvoll ist, sich von ihm fernzuhalten«, erwidert er kalt und dreht sich nach vorne.
Im Nachhinein wäre es gut gewesen, das Gespräch hier enden zu lassen, aber der Gedanke sowohl Sammy als auch Reece etwas Gutes tun zu können, treibt mich weiter voran und lässt mich alle Warnsignale übersehen.
»Sammy«, sage ich leise, um seine Aufmerksamkeit wiederzugewinnen. »Ich weiß, du glaubst ihm nicht, aber Reece tut wirklich leid, was passiert ist. Vielleicht, wenn ihr miteinander reden würdet – «
Mit einem Ruck dreht er sich wieder zu mir und nun schlägt mir unverhohlene Wut entgegen. »Genau, ich glaube ihm nicht. Reden konnte er schon immer viel, aber Taten sind das, was zählt. Und die sehe ich nicht, also werde ich auch nicht mit ihm reden. Das führt zu nichts.
Du siehst doch, dass er sich nicht geändert hat oder glaubst du, ich hätte nicht gesehen, dass er dich am Mittwoch kein Stück beachtet hat und wie verletzt du deshalb warst.
Giovanna, mach endlich die Augen auf. Wenn es ihn so quält, wie er behauptet, dann soll er seinen Worten Taten folgen lassen. Und solange er das nicht tut, lass mich bitte endlich mit diesem Mist in Ruhe.« Ohne mich noch irgendetwas dazu sagen zu lassen, dreht er sich nach vorne und beachtet mich für den Rest der Stunde nicht mehr.
Ich bin dermaßen vor den Kopf geschlagen, dass ich ihn nur verdutzt von der Seite anschaue und nichts weiter sage. Die folgenden neunzig Minuten überlege ich, wie ich das wieder in Ordnung bringen soll und raufe mir stillschweigend die Haare.
Vergebens, wie sich herausstellt, denn kaum hat es geklingelt, packt Sammy seinen Rucksack und verlässt die Klasse. Ich hatte nicht mal die Gelegenheit zu blinzeln.
Ein Stich fährt durch meine Brust, als ich begreife, wie wütend Sammy auf mich ist und ich schaue ihm gequält hinterher, obwohl er schon längst durch die Tür und nicht mehr zu sehen ist.
»Das musste ja so kommen. Hast du wirklich super gemacht«, spricht Addison mich plötzlich von der Seite an.
Ich zucke zusammen und bevor ich über meine nächsten Worte nachdenken kann, sind sie auch schon ausgesprochen. »Was habe ich dir eigentlich getan?«
»Du kapierst auch wirklich gar nichts«, giftet Addison weiter. »Sammy ist bis über beide Ohren in dich verknallt. Er würde dir die Welt zu Füßen legen, wenn er könnte, aber du schnallst es nicht. Stattdessen redest du die ganze Zeit davon, wie schlecht es Reece doch geht und wie sehr ihn das doch belastet. Wie es Sammy geht, hast du nicht einmal gefragt.«
Sammy ist in mich verknallt? Wie kommt sie darauf?
Überfordert schüttle ich den Kopf und runzle die Stirn. »Sammy ist nicht in mich verknallt. Wir waren schon immer so innig miteinander. Wir sind ... Wir sind wie Geschwister.«
Fassungslos sieht sie mich an. »Wie kannst du nur so blind sein? Jeder, wirklich jeder, der auch nur Sammys Namen kennt, weiß, dass er dir vollkommen verfallen ist. Jeder außer dir. Du willst es anscheinend einfach nicht sehen.«
Wieder schüttle ich bloß den Kopf. Inzwischen sind wir alleine im Klassenraum, aber das wird nicht lange so bleiben. Bald kommen die nächsten Schüler.
»Addison ... «, setze ich an, aber sie lässt mich gar nicht zu Wort kommen.
»Ich weiß echt nicht, was er an dir findet und warum er immer noch so treu zu dir hält. Du hast ihn nicht verdient. Aber mich will er ja nicht. Ich tue alles, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, aber er hat nur Augen für dich.« Den letzten Satz spuckt sie mir entgegen.
Da macht es klick: Addison ist eifersüchtig.
A./N.: So, damit wäre gelüftet, warum Addison so feindselig ist. Viele von euch haben das ja schon vermutet ^^ War ja auch so ziemlich die einzig plausible Erklärung.
Auf wessen Seite steht ihr denn eher? Auf Sammys, der sagt, dass Reece Worte nur Schall und Rauch sind? Oder auf Reece', den sein Fehler ehrlich quält?
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