Warum man Geburtstagsgeschenke nicht annehmen sollte
Nach unserem Nicht-Wildunfall dauerte die Fahrt noch fast weitere zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten, in denen mir der Kopf schwirrte. Zwanzig Minuten, in denen ich mir bis zum Abwürgen des Motors nur eine einzige Frage stellen konnte:
„Was hat Sex in der Öffentlichkeit damit zu tun, ob in meinem Schritt genug Platz für deine Finger ist, wenn du meine von dort wegnimmst? Das ergibt keinen Sinn."
Alexander stoppte mitten in der Bewegung, die Tür zu seinem Haus schon zur Hälfte offen. Dann drehte er langsam den Kopf zu mir um, sichtlich erheitert, der Penner. „Das fragst du mich nach was? Einer halben Stunde?"
Ich reckte das Kinn. „Ist ja wohl nicht meine Schuld, wenn du so unsinniges Zeug von dir gibst, dass man da erstmal 'ne Ewigkeit drüber nachdenken muss."
Er nickte, sogar noch langsamer als bei seiner Kopfdrehung eben, bevor er mir aufs Neue seine Zähne zeigte. „Dumm fickt gut, hm?"
Mir klappte der Unterkiefer runter, weil was zum Henker? „Nur zu deiner Info: Ich kann überhaupt nicht dumm sein!"
„Ach?" Er trat einen Schritt zur Seite, um mir in Gentleman-Manier die Tür aufzuhalten. Wobei er sich die sonst wohin stecken konnte, die kaufte ihm doch eh keiner mehr ab, nachdem er sich eben so ekelhaft vulgär ausgedrückt hatte! „Erklärst du mir auch, wieso nicht?"
Ich warf ihm einen bitterbösen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu und stampfte an ihm vorbei ins Innere. „Das liegt ja wohl auf der Hand! Ich hatte noch nicht mal meinen ersten Kuss, wie soll ich denn da gut im Bett sein? Und wenn ich nicht gut im Bett bin, kann ich nicht dumm sein. Punkt!"
„Mh." Es klickte, als er hinter uns abschloss. „Ich denke, es liegt an mir, das zu beurteilen, meinst du nicht?"
Ich wollte irgendetwas total Gewieftes antworten, aber mir blieben die Worte im Hals stecken. Nicht unbedingt, weil ich mich bei der Verteidigung meiner Intelligenz ungewollt in anderen Bereichen denunziert hatte, sondern weil da plötzlich eine Brust an meinem Rücken und zehn Finger um meine Oberarme waren, die sehr, sehr gemächlich bis zu meinen Handgelenken nach unten tippelten. Nachdem er angedeutet hatte, meine Kamasutra-Qualitäten beurteilen zu wollen!
„Mir fällt gerade ein, dass ich dir noch gar nicht richtig zum Geburtstag gratuliert habe."
Waren das nur hormonbedingte Hirngespinste meinerseits oder verließen seine Finger gerade meine Arme, um mich dort zu berühren? An meinen Rippen! So etwas gehörte sich nicht!
Ich schauderte. „Dann gib mir halt endlich mein Geschenk, sonst werd' ich bald neunzehn und du schuldest mir zwei."
„So materiell hätte ich dich gar nicht eingeschätzt." Er ließ von mir ab und ich – ich hasste mich mal wieder dafür, daran schuld zu sein.
Ich sollte echt Unterricht im Cockblocking geben.
„Pfft." Schnaubend drehte ich mich zu ihm um. „Gib mir 'nen Hunderter und du siehst, wie materiell ich wirklich bin."
Stille. Wir nutzten sie beide, um ganz in Ruhe zu analysieren, was für einen Scheiß ich da gerade von mir gegeben hatte. Bloß, dass wir zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen.
„Dann", ein Fünfhunderteuroschein tauchte direkt vor meiner Nase auf, „zeig mir doch mal, wie materiell du dafür bist."
Also, generell war ich ja ein verdammter Schisser. Zwar gab ich gerne mal Konter, aber eben bloß sprichwörtlich. Hieß, ich hatte eine enorme Klappe und nichts dahinter. Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich um einiges entsetzter als Alexander wirkte, als meine flache Hand nicht gerade leicht mit seiner Wange kollidierte.
„Ach du Heilige!" Ich stolperte erst zwei, drei Schritte nach hinten, bevor ich tatsächlich stolperte. Mit dem Hintern voran auf Fliesen.
Der lila Schein landete genau zu meinen Füßen.
Ich hatte ihm ernsthaft eine gescheuert. Ich hatte ihm eine gescheuert, obwohl ich ihm noch vor keiner Dreiviertelstunde ins Gesicht gesagt hatte, dass ich wollte, dass er mit mir umging wie mit der Hundekacke unter seinen Schuhsohlen! Wie, zum Teufel, sollte ich ihm das denn jetzt bitte erklären? Ich konnte es ja nicht einmal mir selbst erklären! „Also ..."
„Mh." Er fasste sich an die getroffene Stelle, bewegte kurz seinen Unterkiefer von links nach rechts – und lächelte. Herzallerliebst. „Ich schätze, wir hätten vorher klarstellen sollen, in welchem Ausmaß du wie Dreck behandelt werden möchtest. Und zu welchen Gelegenheiten. Mein Fehler."
Sein Fehler? Ich hatte ihm eine gewischt und es war sein Fehler? Hatte er noch nie etwas von häuslicher Gewalt gehört?
„... weißt du, es ist ziemlich ungesund, sich zu entschuldigen, wenn man das eigentliche Opfer in der Situation ist."
Er antwortete nicht sofort, zuckte erstmal ausgiebig und absolut nichtssagend mit den Schultern, ehe er sich zu einer Erwiderung herabließ: „Lass uns später über die Verfänglichkeiten reden. Dein Geschenk wird schlecht, wenn wir noch länger warten."
„Es wird schlecht?" Ich sah ihm hinterher, wie er in seine Küche spazierte und mich einfach im Flur sitzenließ, mit einem verdammt flauen Gefühl im Magen.
Wenn sein Geschenk aus Essbarem bestand, würde ich es nicht annehmen können. Selbst wenn ihm meine Darmproblemen bekannt waren, wusste ich nicht, inwieweit ihm der Begriff Kreuzkontamination etwas sagte. Bei dem Zeug aus der Cafeteria war es auch immer ein Glücksspiel, ob ich meiner Gesundheit einen Roundhouse-Kick verpasste oder nicht.
Jetzt gerade konnte ich aber keinen gebrauchen. Jetzt wollte ich, dass mir da hinten Dinge reingeschoben und nicht rausgeholt wurden.
„Ähm." Ich hievte mich zurück auf die Beine und schlich ihm nach, in den Raum hinein, den ich Monate von außerhalb beobachtet hatte. Ganz kurz vergaß ich all meine Bedenken, als mein Blick durch das Fenster links von uns auf die Einfahrt fiel.
Ich war tatsächlich bei ihm zuhause. Und er wollte sogar, dass ich hier war. In seiner Küche. Ich war in seiner Küche und- „Von drinnen sieht's nochmal um einiges größer aus, irgendwie."
„Vom Fenster aus bleiben eben ein paar Winkel versteckt." Alexander schmunzelte mich über seine Schulter hinweg an. Er stand vor dem geöffneten Kühlschrank und hielt eine viereckige Box in seinen Händen. Eine Tortenbox. Eine Geburtstagstortenbox.
Ich zögerte, öffnete den Mund – und schloss ihn wieder.
Die letzte Torte bekommen hatte ich vor meiner Pubertät. Und die letzte selbstgekauft vor über drei Jahren, als ich noch nichts von meiner Diagnose gewusst hatte. Die Diagnose, die es mir verbieten würde, auch diese Torte zu essen.
Ich schaute weg, spürte, wie meine Brust eng wurde. „Das-"
„Bevor du eine Ausrede erfindest", er stellte die Box auf den zwei-Mann-Esstisch an der Wand gegenüber vom Fenster und klappte die Seiten eine nach der anderen auseinander, „solltest du wissen, dass ich sie extra in einer glutenfreien Bäckerei bestellt habe. Nicht selbstgemacht, also keine Sorge."
„In einer glutenfreien Bäckerei?" War es normal, dass die Enge in meiner Brust immer noch weiter zunahm, anstatt besser zu werden? „Aber es gibt hier keine in der Nähe."
„Richtig." Er klappte die letzte Seite runter, präsentierte mir eine vielleicht fußballgroße mit rotem Fondant verkleidete Torte, auf der das heutige Datum stand, direkt neben meinem Namen und einer im Vergleich zum Rest lächerlich gigantischen Achtzehn. „In der Nähe gibt es keine."
Ich trat dichter an die Torte heran. Drumherum steckten Kerzen drin, in der genau passenden Anzahl. „Ich kann die essen? Wirklich?"
„Nachdem du die Kerzen ausgepustet hast."
Ich brauchte keine Kerzen, ich erstickte jetzt schon. Und es war albern, weil es nur eine gekaufte Torte war, aber sie war für mich. Sie war nur für mich, aus einer Bäckerei, die nicht in der Nähe war, und ich konnte sie essen.
„Uh." Ich krallte mich in mein Hemd, zog daran, doch das half auch nicht, und Alexander machte es noch schlimmer, indem er einfach anfing, die Kerzen anzuzünden. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn und achtzehn. Achtzehn kleine Flammen.
„Wünsch dir was." Er lehnte sich mit beiden Händen an die Tischkante und schaute zu mir, ein durchsichtiges, schwarzes Feuerzeug in der Hand.
Das hat er extra für mich gemacht.
Ich bewegte mich nicht. Es war leicht, mit dummen Sprüchen zu kontern, wenn es um genauso dumme Themen ging oder mich jemand piesackte, aber es war schier unmöglich, wenn jemand einfach nur nett zu mir war. Wenn jemand den Extrameter lief, um mir eine Freude zu machen.
Den Extrameter, den nicht mal meine eigene Familie für mich gehen will.
Ich blinzelte. Da war ein wässriger Film, der dort nichts in meinem Sichtfeld zu suchen hatte. „Du hast mir eine Torte gekauft."
Er beugte sich tiefer, bis wir auf gleicher Höhe waren, seine Augen ein schimmerndes Grün. Ich reflektierte mich in seinen Pupillen. „Alles Gute zum Geburtstag, Jonah."
Es war eine Vanille-Erdbeer-Torte und ich war im Begriff, bereits das vierte Stück zu vertilgen. Jeder Bissen schmeckte wie der Himmel selbst. „Ich nehm' die mit nach Hause. Sie ist mein Geschenk, also nehme ich sie mit nach Hause, damit das klar ist."
„Wenn du so weitermachst, ist zum Mitnehmen bald nichts mehr übrig." Die Worte klangen fies, aber das war es auch schon. Der Ausdruck in seinem Gesicht wirkte beinahe friedlich. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Hälfte in keiner Viertelstunde in dich reinpasst."
„Da passt sogar noch sehr viel mehr in mich rein." Ich klaubte die letzten Reste Vanillecreme vom Teller und leckte sie von der Gabel, bis sie lupenrein war. Kein Krümel mehr übrig. Wie frisch aus der Spülmaschine.
„Bist du dann bereit für dein nächstes Geschenk?"
Das riss meine Aufmerksamkeit erfolgreich von der Torte fort. Von dem nächsten Stück, das ich mir gerade hatte aufladen wollen. „Ich kriege noch mehr Geschenke?"
„Noch drei, um genau zu sein. Also komm mit." Er stieß sich mit der Hüfte von der Tischkante ab, gegen die er die ganze Zeit gelehnt gewesen war, während ich mein Gesicht in Kuchenteig vergraben hatte, und verließ die Küche, in völliger Klarheit darüber, dass ich ihm folgen würde.
Was ich selbstverständlich auch tat. Immerhin ging es um Geschenke und ich bekam nie Geschenke, nur ab und an ein bisschen Zaster von meinem Vater, wenn er sich daran zurückerinnerte, dass er ja auch noch einen Sohn zu versorgen hatte, der nicht mit ihm im selben Haushalt lebte.
„Wo gehen wir hin?" Ich dackelte ihm hinterher die Treppen hinauf, spickte dabei ums Eck ins Wohnzimmer, was einfach war, weil die Treppe in Obergeschoss sich als Wendeltreppe herausstellte. Zwischen den Geländerstäben hatte ich optimale Sicht auf eine graue Sofalandschaft mit niedrigem Glastisch auf der rechten Raumseite und einem abgesenkten, mit Kissen und Decken zugekleisterten Bereich links, direkt vor einem in die Wand eingelassenen Kamin. Nur der Flachbildfernseher fehlte.
„In mein Schlafzimmer."
Ich stoppte. Abrupt. Und schnappte empört nach Luft. „Wie kannst du es wagen? Denkst du, so eine kleine Torte reicht und ich lasse dich gleich an mich ran, oder was?" Abgesehen davon, dass ich ihn sogar vor der Torte schon liebend gerne an mich herangelassen hätte. Sogar noch bevor wir überhaupt das erste Mal miteinander gesprochen hatten.
Aber das musste ihm ja keiner grundlos auf die Nase binden.
„Ich denke, wir wissen beide, dass ich dafür keine Torte brauche." Dieser überhebliche Gesichtsausdruck – gleich verlor ich noch meine Hose!
„Pfft." Um ihm zu zeigen, wie absolut Unrecht er hatte, verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Ich habe Null-Komma-Null Interesse daran, dir körperlich auch nur irgendwie näherzukommen."
„Null-Komma-Null, hm?" Er stieg die paar Treppenstufen herab, die uns voneinander trennten. „Dann", seine Finger an meinem Kinn, die meinen Blick nach oben zwangen, „möchtest du mich nicht küssen?"
Ich bekam spontan einen Herzkasper, einen ganz schön heftigen. „Nein", flüsterte ich, bevor ich vor lauter Nervosität und Überforderung einfach die Augen zusammenkniff und die Lippen spitzte, weil er sich zu mir runterbeugte, was bedeutete, dass ich gleich meinen allerersten richtigen Kuss bekommen würde!
„Deine Reaktion lässt mich fast denken, du willst es doch." Ich hob die Lider minimal an, als seine Finger plötzlich mein Kinn losließen. Ohne dass ich vorher geküsst worden war. „Aber ich würde dich natürlich niemals zu etwas nötigen, das du nicht möchtest." Und damit fuhr er wieder herum und stolzierte weiter die Treppen nach oben.
Dieses verdammte Arschloch!
Schnell brachte ich meine Lippen wieder in eine normale Position – gegen das Feuerhydrantenbordeaux in meiner Fresse konnte ich leider nichts tun – und stapfte ihm hinterher, stinkwütend, weil denunziert. Und zu mindestens gleichen Anteilen erregt. „Feigling!"
Er blieb stehen. Erneut. „Inwieweit bin ich denn ein Feigling?"
Das war eine außerordentlich gute Frage, auf die ich so gar keine Antwort hatte. Mittlerweile müsste er doch aber auch mal langsam wissen, dass ungefähr Dreiviertel von allem, was ich sagte, kompletter Bullshit war!
„Insoweit, dass du nicht genug Mumm hattest, mich zu küssen." Mein Herz hüpfte mir irgendwo in der Kehle herum. „Ich wäre mutig genug gewesen, es zu tun, im Gegensatz zu dir."
„Ist das so?"
„Ja, das ist so." Nicht.
„Gut." Er trat einen Schritt zur Seite, deutete dabei auf die nun freie Stelle neben sich. „Dann bitte."
Ich glotzte zu ihm hoch, ohne mich zu rühren. „Dann bitte was?"
Er lächelte wie ein Bäcker, der es geschafft hatte, mir zu einem Laib Brot eine alte, kaputte Waschmaschine mit anzudrehen. „Dann küss mich."
Oh.
„Äh, also-" Ich brach ab, schluckte ungefähr drei Liter Speichel runter. „Jetzt bin ich nicht mehr in der Stimmung dafür."
„Na, sowas aber auch." Statt weiter darauf zu warten, dass ich endlich zu ihm nach oben kam, ging er dazu über, sich einfach zu mir auf meine Treppenstufe zu gesellen. „Verrätst du mir, womit ich dich wieder in Stimmung bringen könnte?"
Indem du gleich in die Küche gehst und dir diese abartige Metzger-Schürze umschnallst, um mich dann über deinen Esstisch zu werfen und besinnungslos zu vögeln. Nur mit der Schürze bekleidet.
„Du könntest", mich zwingen, vor dir auf die Knie zu gehen, „mir meine restlichen Geschenke geben."
Einen winzig kleinen Moment befürchtete ich, es mir mit dieser Aussage endgültig bei ihm verschissen zu haben, aber das hatte ich nicht.
Stattdessen spielte er mit. „Und wer sagt, dass ich jetzt immer noch in der Stimmung bin, dir deine Geschenke zu geben?"
Ich öffnete den Mund, völlig perplex, bevor: „Was würde dich denn wieder in Geschenke-Geben-Stimmung bringen?"
Da breitete sich ganz langsam ein sehr, sehr bösartiges Grinsen auf seinen Lippen aus. „Ein Kuss."
Doppelt Oh.
Mir wurde schrecklich flau im Magen – nicht nur wegen des Kusses an sich, sondern auch der Tatsache, dass er erneut auf das Thema zu sprechen gekommen war. Ich meine, ich hatte ihn mehr oder weniger abgewiesen, in dem Fall hätte doch jeder normale Mensch keinen weiteren Versuch gestartet.
Außer eben, er wollte es unbedingt.
„O-okay." Er erwiderte meinen Blick, ohne zu blinzeln. Fast ein bisschen zu intensiv. „Aber", ich sah weg, hielt der Musterung nicht länger stand, „du fängst an."
„Mh." Er hob den linken Arm und legte seine Finger in meinen Nacken. Sie waren kühl, hinterließen ein Brennen auf meiner Haut. „Wer von uns beiden ist der Feigling?"
Und dann passierte es.
Wir küssten uns – das hieß, er küsste mich, und es war nicht nur ein Wangenkuss, sondern einer mit vollständigem Lippenkontakt und allem!
Ich stieß ein undefinierbares Geräusch aus. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinen Lippen anstellen sollte. Das Internet sagte immer, dass man seinem Partner entgegenkommen oder folgen sollte, aber ich war schon allein damit überfordert, herauszufinden, wo ich meine Hände abladen sollte. Seine Hüften fühlten sich falsch an, auf seiner Brust wollte ich sie auch nicht platzieren, weil ich befürchtete, ihn in geistiger Umnachtung irgendwie aus Versehen wegschubsen zu können, und seine Schultern waren so nah an seinem Gesicht, dass es beinahe unhöflich intim wirkte, ihn ohne Erlaubnis dort zu betatschen, obwohl es sein Daumen war, der ungefragt Bilder auf meinen Kieferknochen zeichnete.
Wie machten andere das? Wie konnte sich überhaupt irgendwer gleichzeitig auf Berührungen und Bewegungen konzentrieren? Das war doch nicht machbar!
Ich hatte mich zum Festhalten gerade ortstechnisch für seine Oberarme entschieden, als der Lippenkontakt einfach mir nichts, dir nichts abbrach.
Damit er sprechen konnte: „Es ist immer wieder ein Erlebnis, Jungfrauen zu küssen."
Ich hing irgendwo in der Luft fest, halb auf den Zehenspitzen, halb an ihn geklammert und mit halb geschlossenen Augenlidern. „War ich so gut?"
Er schnaufte. Seine Finger tanzten über meinen Haaransatz, sein Daumen über meinen Kehlkopf. „Ein Naturtalent."
„Echt?" Dabei hatte ich nicht einmal gewusst, was ich eigentlich tat!
„Mhm." Die Finger verließen meinen Nacken, schlangen sich für den Bruchteil einer Sekunde um meinen Hals – und verhakten sich dann in meinem Kragen, um mich noch höher auf meine Zehenspitzen zu zwingen. Was musste er auch so groß sein? „Damit hast du mich erfolgreich zurück in Geschenke-Geben-Stimmung gebracht."
Vielleicht sollte ich eine Kuss-Schule eröffnen – neben meinen Cockblocking-Fortbildungen.
„Wie schön." Ich war noch nicht ganz bei mir, da waren nur seine dunkelgrünen Augen, der Schalk in ihnen, und seine feucht-glänzenden Lippen, seine Hände mit den langen Fingern, die viel zu weich waren. Reiche Haut, die nicht wusste, was Arbeit bedeutete.
So hätte es zumindest sein sollen. „Warum haben deine Finger mehr Ähnlichkeit mit Schmirgelpapier als mit echten Fingern? Das fühlt sich voll arm an."
Eine seiner Augenbrauen schoss hoch, sonst änderte sich nichts an seinem Gesichtsausdruck. „Meine Finger fühlen sich arm an?" Er sprach in einer Tonlage, die schwer danach klang, als würde er es mit einem Idioten zu tun haben.
„Ja, stell dir vor", schnippte ich, weil ich nämlich kein Idiot war, sondern nur galaxienübergreifend verwirrt und nicht mehr ungeküsst, „Hände, die rau sind, sind Arbeiterhände, und du hast ja wohl genug Kohle, um andere die Drecksarbeit für dich machen zu lassen."
„Mit reichen Händen", er senkte die Stimme, „kann man aber sehr viel schlechter zupacken."
Prompt sackte mir das Blut weg. Mitten in meinen Schwanz hinein.
Ich räusperte mich. „Davon habe ich bis jetzt aber noch nichts bemerkt."
„Mach genau mit diesem Verhalten weiter und du wirst es schneller bemerken, als dir lieb ist." Schnauben. „Um auf deine Frage zurückzukehren: Ich erledige meine Angelegenheiten gerne selbst."
Ist klar. Als ob jemand wie er gerne arbeitete. „Lass das mal besser nicht deine Angestellten hören."
„Ich habe keine Angestellten."
Okay, das musste eine Lüge sein, oder? Ich meine, selbst wenn ich bis jetzt erst wenig von seinem Zuhause gesehen hatte, war alles blitzblank. Kein Zwanzigjähriger mit unendlichem Guthaben auf seiner Kreditkarte putzte freiwillig, wenn er andere dafür bezahlen konnte! „Sogar wir haben eine Reinigungskraft, die zweimal wöchentlich kommt, da kannst du mir doch nicht erzählen, dass du alles hier", ich fuchtelte wild in der Luft herum, „alleine aufräumst!"
Er musterte mich, unendlich lange, nur um dann mit den Augen zu rollen, wie er es vor keiner Stunde noch bei Julius getan hatte. Allerdings mit einem fetten Grinsen in der Visage. „Du hast Glück, dass ein Hauptkriterium meiner Partnerwahl Unselbstständigkeit ist."
Bitte was?
Ich stampfte mit dem Fuß auf. „Ich bin nicht unselbstständig!"
„Natürlich bist du das nicht." Er wandte sich ab, seinem Kichern nach äußerst amüsiert. „Und jetzt sei still und komm endlich."
„Du hast mir gar nichts zu sagen!" Weil ich nämlich ganz bestimmt nicht still sein würde, bloß weil er das verlangte – ich hielt nur den Schnabel, weil ich plötzlich Lust darauf hatte. Darauf und auf meine Geschenke.
Dieses Mal blieben also Ablenkungen meinerseits aus, wodurch wir es tatsächlich schafften, die Wendeltreppe zu verlassen und im ersten Obergeschoss zu landen. Das aus einem stockfinsteren Flur bestand, der nur minimal durch das wenige Licht von unterhalb beleuchtet wurde. Wenn ich aber fest die Augen zusammenkniff und mich anstrengte, konnte ich sechs Türen zählen, die allesamt geschlossen waren.
„Hier." Alexander hielt vor der letzten Tür den Gang runter. Vor seinem Schlafzimmer – was ich natürlich nur wusste, weil er vorhin erwähnt hatte, dass wir dorthin gehen würden. Und nicht etwa, weil ich nachts in seinem Garten herumgeturnt war, um herauszufinden, hinter welcher Wand genau er nächtigte.
Ich zögerte. „Da rein?"
„Ja, oder", er drückte die Klinke runter, stieß die Tür auf, „hast du irgendwelche Einwände?"
Die hatte ich in der Tat, allerdings lösten sie sich in Luft auf, als er den Lichtschalter betätigte und ich mich in einem Sex-Dungeon wiederfand.
Also nein, eigentlich nicht. Da war an sich nichts Perverses im Zimmer, aber da stand sehr wohl ein Bett und jeder Mensch wusste, was erwachsene Leute in Betten taten!
„Dein Schlafzimmer." Ich lachte bedröppelt. „Du hast mich in dein Schlafzimmer gebracht."
„So eine fantastische Auffassungsgabe", meinte er und trat an mir vorbei in den Raum hinein, vorbei an der rechten Hälfte, die komplett von einem überdimensionalen Boxspringbett eingenommen wurde, zur linken hin, die von einem runden, hellen Teppich und zwei ebenso hellen, runden Sesseln eingenommen wurde. Und einem gigantischen Kleiderschrank mit verspiegelten Glastüren. Direkt gegenüber vom Bett.
Ob man sich dadurch beim Sex selbst beobachten konnte? Wie bei einem Echtzeit-Porno?
Ich zupfte meine Hose zurecht. Mein Ständer hatte sich seit unserem Kuss, trotz – oder wegen – der Schikane, immer noch nicht verflüchtigt. Nicht, dass er mir am Ende so blieb!
„Diese zwei Geschenke sind mehr praktischer Natur. Erwarte nicht zu viel." Er beugte sich zu einem der Sessel hinunter und richtete sich mit zwei rechteckigen Paketen beladen wieder auf, sie mir entgegenhaltend, in grünes Papier gewickelt und mit jeweils einer großen, gelben Schleife in der Mitte.
Ich hätte ihn gerne gefragt, ob er sie selbst eingepackt hatte, bekam aber kein Wort heraus.
Die letzten Geburtstagsgeschenke, die nicht nur aus Geld bestanden hatten, waren so, so lange her, ich erinnerte mich kaum an sie.
„Und die sind für mich?"
„Ja." Er überreichte sie mir, als wären sie nichts. Weil er keinen blassen Schimmer hatte, was sie mir bedeuteten.
Ich schluckte. Das erste Paket war größer und wog bestimmt anderthalb Kilo, das zweite war leichter und kleiner. „Warum schenkst du mir überhaupt etwas?"
„Kennst du den Begriff Love Bombing?"
Ich krallte mich an den Geschenken fest. Irgendwie traute ich mich nicht, sie zu öffnen. Vielleicht, weil ich nicht wusste, wann ich das nächste Mal wieder welche bekommen würde. „Nein, wieso?"
„Nur so." Er lächelte mich an. „Willst du nicht wissen, was drin ist?"
„Doch." Trotzdem dauerte es noch ein paar weitere Momente, bis ich mich dazu durchringen konnte, das größere der Geschenke auf den Parkettboden zu meinen Füßen abzulegen, um das kleinere zu öffnen. Und kaum hatte ich es geöffnet, blieb mir die Spucke weg, weil darin die Verpackung eines Smartphones lag. Eins der neusten Modelle. Ich hielt hier gerade mehrere hundert Euro in meinen Griffeln! „Du schenkst mir ein Handy?"
„Allerdings aus rein egoistischen Gründen." Er bückte sich und hielt mir das andere Geschenk hin. „Dein momentanes besitzt, milde ausgedrückt, Sondermüllstatus. Ich brauche dich erreichbar."
Ob seine Gründe egoistisch waren, ging mir am Arsch vorbei – ich hatte ein neues Handy! Eines, auf das ich einen Messenger laden könnte, auf dem ich Apps installieren könnte. Nie wieder stundenlang Snake spielen!
Aufgeregt grapschte ich nach dem übriggebliebenen Paket in seinen Händen, drückte ihm zeitgleich das bereits ausgepackte gegen die Brust und riss sofort jegliches Geschenkpapier in seine Einzelteile. Bis mein Blick auf den Pappkarton eines spacegrauen MacBooks fiel. Ehrlich, wenn Alexander geplant hatte, mich zu kaufen, war er auf dem besten Weg dahin, mich legal und ohne Rückgaberecht oder Umtauschgarantie zu erwerben.
„Ein Laptop!", hauchte ich. Der Pappkarton lag in meinen Händen wie ein Antiquariat, das ich mit meinem Leben behüten musste. Und genauso fühlte es sich auch an.
„Mir ist aufgefallen, dass du nur an bestimmten Tagen in den Vorlesungen einen dabeihast, also bin ich davon ausgegangen, dass du dir einen mit deiner Mutter teilst."
Ich musterte ihn. „Woher weißt du, dass ich nur manchmal einen dabeihabe?"
Er schmunzelte. „Hat mir ein Vögelchen gezwitschert."
„Spionierst du mir etwa hinterher?" Ich betete, dass er es tat. Dass er nur einen Bruchteil so viel Interesse an mir hatte wie ich an ihm.
„Nein, du bist nur sehr schwer zu ignorieren." Er ging an mir vorbei zu seinem Bett hin und kam mit einem weiteren Rechteck, dieses Mal in schwarzem Papier und dunkelroter Schleife, zurück. „Das ist, was ich dir eigentlich geben wollte."
Das letzte Geschenk.
Ich schluckte und ruckelte mit den Augen zu seinen hoch, stellte Blickkontakt her. Seinen Worten nach sollte das wahrscheinlich das wichtigste sein, aber es war mir schleierhaft, was eine glutenfreie Torte und zwei nigelnagelneue Elektrogeräte noch übertrumpfen könnte, zumal er mich ja gar nicht kannte. Woher wollte er wissen, was mir gefiel? Abseits von Essen und teuren Gegenständen, versteht sich.
„Es ist selbstgemacht und weist noch Verbesserungspotential auf, aber ich hoffe, es gefällt dir trotzdem."
„Selbstgemacht?" Als ich ihm das Bündel abnahm und einmal durchknautschte, war mein erster Gedanke, dass darin ein Pullover stecken musste, weil es sich nach Stoff anfühlte, aber ich konnte mir partout nicht vorstellen, wie er in seinem Badezimmer hockte und mir ein Oberteil batikte oder sonst wie selbst machte.
„Selbstgemacht", bestätigte er. „Es hat mich sogar ein paar Stunden an Zeit gekostet, also fühl' dich geehrt."
Tatsächlich war es unmöglich, sich nicht geehrt zu fühlen. Ich hatte noch von keiner seiner unzähligen Ex-Beziehungen gehört, dass er sich jemals für irgendwen auch nur das kleinste bisschen Mühe in irgendetwas gegeben hatte. Und mir bastelte er etwas, an dem er Stunden gesessen hatte.
Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
„Stunden", wisperte ich, einfach nur, um die Stille zu brechen, und machte mich dann daran, das Papier quer ab der Mitte aufzureißen. Und wirklich Stoff darunter vorzufinden. Flauschigen, grau-grün gestreiften Stoff.
Einen Schal.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, was ich fühlen sollte –ob ich überhaupt etwas fühlen sollte –, und Alexander nutzte den Moment, um mir den Schal aus den Händen zu pflücken und ihn beinahe behutsam um meinen Hals zu wickeln, oft genug, dass er am Ende über mein Kinn hinaus bis zu meiner Nasenspitze reichte.
Er lächelte, als er den Stoff etwas nach unten zupfte, damit er mich nicht erdrosselte. „Vielleicht erkältest du dich seltener, wenn du zu deiner obligatorischen Mütze noch einen Schal trägst."
Die Erklärung war blöd. Sein Lächeln war blöd. Und vor allem die Tatsache, dass er den Schal selbstgemacht hatte, war blöd. Er war blöd – so blöd, dass mir schon wieder Tränen in die Augen schossen.
„Alex?"
„Hm?" Er fummelte immer noch an dem Schal herum, rückte ihn um meine Ohren herum zurecht, jede Berührung ein winziger Stromschlag.
„Ich will noch ein fünftes Geschenk."
Er hielt inne, die Finger in meinem Nacken vergraben. „Ein fünftes?"
Ich nickte, spürte meine Unterlippe zittern. Vielleicht war es aber auch mein gesamter Körper. Oder doch nur meine Stimme. „Du sollst etwas für mich tun."
Die Finger glitten meinen Nacken hinunter, entlang meiner Wirbelsäule, und stoppten erst dort, wo mein Hosenbund sie daran hinderte, noch tiefer zu wandern. „Und das wäre?"
Es waren keine Blitzschläge, es war flüssiges Feuer, das er auf meiner Haut hinterließ. Rauschen in meinen Ohren. Watte im Kopf.
Ich atmete stockend ein. „Schlaf mit mir."
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