•9•
Schwer atmend kam ich zum stehen.
Der holprige Kiesweg unter mir war schon vor einiger Zeit in moosigen Waldboden übergegangen und die Luft war eindeutig frischer geworden. Sanfter Wind strich durch die Bäume und striff mit kühlen Fingern über meine glühenden Wangen.
Der Wald war für mich die beste Lösung gewesen, um Lucian abzuhängen, jedoch hatte bei diesem Vorhaben auch sein Lycanthropenfreund in Wolfsgestalt geholfen, der ihn über den Haufen gerannt hatte.
Dennoch war ich weitergelaufen, nicht nur, um ihm zu entfliehen, sondern auch der Szene, die sich unweigerlich wieder in meine Gedanken schlich.
Tara, die sich fast schon gegen ihn schmiegte und ihn verträumt anlächelte, während er nur Augen für sie zu haben schien.
Es tat weh, zu wissen, dass sie ihm sogar jetzt schon näher sein konnte als ich, und es tat weh zu wissen, dass dafür ich allein die Schuld trug.
Weil ich immerzu vor ihm flüchtete.
Meine Augen hatten verdächtig zu brennen angefangen und mein Herz zog sich krampfhaft zusammen. Fast hatte ich Angst, es würde gänzlich aufhören zu schlagen.
Schwer atmend lies ich mich mit dem Rücken gegen einen Baum sinken und an dessen rauen Rinde, die hart in meinen Rücken bohrte, hinab gleiten. Inzwischen versuchte ich mich auf meine Umgebung zu konzentrieren, nur um diese ganzen Gefühle in den Hintergrund zu drängen.
Irgendwie schaffte ich es, das Wasser, dass sich in meinen Augen sammelte, wegzublinzeln und rieb mir stattdessen über die Stirn.
Mein Blick fiel auf die schwarze Arzttasche, die unachtsam im Moos vergraben lag.
Verflixt! Hektisch packte ich den dunklen Stoff, raffte mich auf, wischte mir eine verirrte Träne aus dem Augenwinkel und raste dann los. Eigentlich war ich nur aus dem Haus gekommen, da es einen Notfall bei Michael, einem Lycanthropen in meinem Alter, gab.
Mit fliegenden Schritten näherte ich mich der Rudelsiedlung und huschte flink durch die Abkürzungen, die ich mit der Zeit verinnerlicht hatte. Leicht ausser Atem kam ich an dem Haus an und klopfte mit verwehten Haaren an der dicken Holztür vor mir.
Keine Sekunde später flog diese auf und ein besorgtes Gesicht blickte mir entgegen. Es gehört zu Merlinda, Michael's Mutter, die bei meinem Anblick angespannt ausatmete.
"Kamaria, endlich bist du hier. Michael hat sich verletzt und irgendwie will seine Wunde nicht heilen, ich weiss garnicht was ich noch tun soll und..."
Ich hob die Hand, um ihren panischen Redefluss zu stoppen und deutete ins Haus. Sie schien zu verstehen, denn sie trat zurück in den Gang und führte mich hektisch in das lichtdurchflutete Wohnzimmer.
Dort lag Michael, zusammengekauert mit dem Rücken auf der Couch. Seine rechte Hand hatte er sich auf die linke untere Bauchseite gepresst und augenblicklich schlich sich der eisenhaltig schwere Geruch von Blut in meine Nase. Er vermischte sich mit einem kaum merklichen Gestank nach Schwefel. Hätte man nicht gewusst, was das hieß, hätte man es nicht einmal bemerkt.
Ich jedoch wusste nur zu genau, was es bedeutet.
Verbissen lies ich mich neben der schwarzen Couch nieder und stellte die Tasche neben mich.
Es kostete mich einiges an Überwindung und guten Gedanken, um mit zittrigen Fingern Michael's Hand zu umschließen. Er konnte mir nichts tun, er würde mir auch nie etwas tun. Ganz ruhig, Kamaria.
Michael stöhnte gequält auf, während ich seine Finger von seinem Bauch zog und schnellstmöglich neben seinem verkrampften Körper ablegte.
Mit spitzen Fingern zog ich den Saum seines blutverklebten Shirts nach oben und legte damit die Bauchwunde frei.
Wie vermutet hatte sich ein dunkler, leicht purpurner Rand darum gebildet.
Ohne den Blick von seinem Bauch zu nehmen kramte ich einen Block und einen Kugelschreiber aus meiner Arzttasche hervor und kritzelte schnell einige Anweisungen an Merlinda, die mit ringenden Händen am Kopfende der Couch wartete, darauf.
Diese eilte gleich darauf los.
Vorsichtig striff ich mir Handschuhe über, um den Kontakt mit dem Gift zu vermeiden. Jetzt musste es schnell gehen.
Merlinda hatte mir mittlerweile eine Schüssel mit Eiswasser, ein raues Handtuch und zwei Kamillenteebeutel gebracht.
Sorgfältig benetzte ich Michaels Haut mit dem kalten Wasser und rieb mit dem Tuch über die dunkel verfärbten Wundenränder, auch wenn ihn das dunkel aufknurren lies. Seine Zähne hatten sich merklich zugespitzt und ragten über seine blutigen Lippen hinweg.
Noch bevor er nach mir schnappen konnte zog ich die Teebeutel durch das Wasser, in welches ich kurz zuvor Eukalyptusextrakt geträufelt hatte, und drückte sie mit aller Kraft auf die Wunde.
Michael riss die Augen auf, blies alle Luft aus seinen Lungen und entspannte sich augenblicklich. Das Eiswasser gepaart mit der Kamillentee - Eukalyptusmischung entzog dem Gift seine Wirkung und regte den natürlichen Heilprozess des Lycanthropenkörpers an.
Ein kleines Zittern erfasste den jungen Mann vor mir, nur bis er kurz darauf still lag, mit flatternden Augenlidern und langsam geregelter Atmung.
Ich atmete auf. Einige Minuten länger und das gefährliche Schwefelgift hätte sein Immunsystem so geschwächt, dass er sogar an einem Mückenstich hätte sterben können.
Insgesamt war mir nur eine 'Organisation' bekannt, die dieses hochkonzentrierte Gift gebrauchte.
Ich hatte ihre Prototypen am eigenen Leibe erfahren.
Mich schüttelnd platzierte ich den Lappen auf den Teebeuteln, richtete mich auf und wandte mich an Merlinda, deren besorgter Blick zwischen mir und ihrem Sohn hin und her zuckte.
Es geht ihm soweit gut, wechsle jede zweite Stunde bis zu seinem Aufwachen die Teebeutel auf seiner Wunde. Übermorgen dürfte er wieder fit sein.
Ich setzte den Kulli ab, überreichte den Zettel der Lycanthropin zusammen mit dem Eukalyptuswasser und lächelte sie beruhigend an.
"Ich danke dir so sehr!"
Sie hob die Arme, anscheinend um mich zu umarmen, besann sich dann jedoch eines besseren und schenkte mir ein warmes Lächeln.
Nach einem letzten Nicken bahnte ich mir den Weg aus dem Haus und stapfte mit verkrampften Schultern los, direkt auf das Haus des Alphapaars zu. Mir blieb keine Zeit, meine Tasche zurück zu bringen, ich musste Octavian und Nym über den Vorfall informieren. Sie sollten wissen, dass sie wieder zugeschlagen hatten, kurz nachdem sie unseren T.I.C. getötet hatten.
Sie gingen systematisch vor, Rudel für Rudel, versuchten sie zu eleminieren um selbst immer besser zu werden. Es war ein grausamer Vorgang und anscheinend hatten sie es nun auf mein Pack abgesehen.
⋇
Nachdem ich den Vorfall 'berichtet' hatte wurde mein Vater ebenso wie Jax hinzugerufen.
Eine hitzige Diskusion war ausgebrochen, von der ich mich nach eineinhalb Stunden zurück gezogen hatte.
Ich wollte für einen Moment alleine sein. Zumindest war dies die Alternative zu dem Wunsch, zu Lucian zu laufen. Und nun saß ich auf der Couch im Wohnzimmer, vor mir das prasselnde Kaminfeuer, welches mich jedoch nicht ansatzweise wärmen konnte.
Ein leises Klopfen an der Tür lies mich den Blick von den tanzenden Flammen abwenden. Schwerfällig erhob ich mich und trat durch den Türrahmen, der Wohnzimmer und Gang trennte.
Ich wusste, dass er geklopft hatte.
Ich hatte ihn schon gerochen, als ich den Gang betreten hatte und kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, einfach wieder umzudrehen und die Tür nicht zu öffnen. Aber das wäre dann doch ganz schön feige und kindisch gewesen. Also stand ich nun hier, drückte die Türklinke nach unten und blickte einem charmant lächelndem Lucian entgegen.
"Hey."
Ich nickte ihm entgegen, verschränkte jedoch dabei abwehrend die Arme vor der Brust. Lucian presste bei diesem Anblick resigniert die Lippen aufeinander und legte räuspernd seinen Kopf in den Nacken, um in den klaren Nachthimmel zu blicken.
Ein langer, schwarzer Mantel zierte seinen Oberkörper, lies seine Ausstrahlung noch angsteinflößender werden. Und trotzdem verspürte ich diesen leichten Drang ihm jetzt den Kragen zurecht zu richten und ihm über seine ausgeprägten Kieferknochen mit dem Drei-Tage-Bart zu streichen.
"Bambi?"
Blinzelnd schüttelte ich den Gedanken ab und sah wieder fragend in seine gräulichen Augen, die mich belustigt musterten. Es kam mir so vor, als würde seine Augenfarbe sich unmerklich verändern, wie die See an einem stürmisch kalten Tag.
"Ich habe gefragt ob ich rein kommen darf?"
Immer noch lächelnd nickte er hinter mich ins Haus und vergrub seine Hände lässig in den Hosentaschen seiner Jeans. Ein kleines Grübchen trat auf seinem Kinn hervor.
Überrumpelt nickte ich, trat zur Seite und lies ihn herein. Dabei zog mir sein unwiederstehlich wilder Duft in die Nase, der mein Herz automatisch rebellieren lies.
Kopfschüttelnd schloss ich die Tür und tappte in gebührenden Abstand hinter Lucian hinterher, der zielstrebig auf das Wohnzimmer zusteuerte. Wieso kannte er sich hier überhaupt so gut aus?
Er blieb vor unserer Couch stehen und sah mich mit fragend erhobener Braue an. Ich runzelte die Stirn, bis ich verstand, dass er wissen wollte, ob er sich setzten durfte. Ich nickte leicht und lies mich in den Sessel, schräg ihm gegenüber nieder.
Unbeholfen faltete ich meine Hände in meinem Schoss während Lucian sich den dunklen Mantel abstreifte. Wie immer spannte sein Oberteil leicht über seinen Schultern.
Sorgfältig legte er den Mantel neben sich und blickte mir dann direkt in die Augen. Eine dunkle, leicht gelockte Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, die er mit seinen Fingern zurückstrich. Allerdings landete sie keine Sekunde später wieder auf derselben Stelle, wobei er diesmal keine Anstalten machte, sie zu entfernen.
Bevor ich auf dumme Gedanken kam senkt ich den Blick auf meine Finger, die mittlerweile nervös an den Ärmeln meines Oberteils nestelten.
"Kamaria, sieh mich bitte an. Ich würde gerne mit dir reden, ohne dass du mir nicht ins Gesicht sehen kannst", meinte er nach einer Weile.
Seine Stimme hatte diese perfekte Mischung aus Rauchig und Samten, sodass mir ein kleiner Schauer über den Rücken lief. Das Band zwischen uns zeigte sich anscheinend immer deutlicher und das sollte ich eigentlich nicht zulassen.
Dennoch hob ich wieder den Kopf und sah in seine nebulöse Augenfarbe. Je länger ich mich darin verlor, desto mehr bekam ich den Anschein, dass sich die Farbe strudelartig veränderte.
"Das von heute morgen, was du dort mit Tara gesehen zu haben glaubst. So war es nicht."
Unweigerlich drängte sich mir die Szene vor Augen. Die bildhübsche Tara, die Lucian anhimmelte wie nochmal was.
Unterbewusst ballte ich meine Hände in meinem Schoß zu Fäusten, doch selbst der zwickende Schmerz, als sich meine Nägel in meine Handinneflächen bohrten, konnte diese Gedanken nicht vertreiben.
Lucians' Miene bestand inzwischen aus Reue und Sorge.
"Bitte lass es mich erklären! Ich musste an die frische Luft, dich so zu sehen und nicht trösten zu dürfen, dass konnte ich nicht verkraften. Und dann stand aufeinmal diese Tara vor mir und wollte irgendetwas von mir, aber ich habe abgelehnt. Wegen dir.
Weil ich will, das nur du mich so anlächelst, dass nur du so mit mir sprichst und dafür würde ich dir die ganze Welt zu Füßen legen, verstehst du mich?!"
Ich hob die Hand und er verstummte augenblicklich, der flehendliche Blick verschwand jedoch nicht.
Die Lippen zu einer dünnen Linie zusammem gepresst atmete ich tief durch.
Ich war nicht fair zu ihm. Wie konnte ich ihm vorwerfen mit anderen Lycanthropinen zusammen zu sein wäre falsch?
Das war es nämlich nicht, denn ich würde ihn nie so glücklich machen können, wie er es verdient hatte. Er war viel zu aufrichtig und liebevoll zu mir.
Also ging ich in mich und tastete vorsichtig nach dem Band zwischen mir und ihm. Wie schon heute morgen schickte ich ihm durch diese Verbindung etwas. Zwar keine Erinnerung aber das Gefühl von Verständnis.
Er musste wissen, dass es ok war, auch wenn ich tief in meinem inneren wusste, dass es mich in kürzester Zeit auffressen würde.
Als ich die Augen wieder öffnete blinzelte Lucian mich erstaunt an. Er hatte wohl nicht damit gerechnet.
Ein kleines Lächeln legte sich auf seine Lippen.
"Danke", raunte er heißer und ich glaubte, eine Spur von Glückseligkeit in seiner Stimme zu vernehmen.
Ein weiteres mal konnte ich ihm wieder nur mit einem Nicken antworten, dann erhob ich mich.
Das Prickeln unserer Bindung hatte zugenommen seitdem ich ihm Gefühle darüber vermittelte und ich konnte nicht mehr still sitzen bleiben.
Ihm schien es genauso zu ergehen, denn er tat es mir gleich, schnappte sich seinen Mantel und warf ihn sich über.
"Ich denke, du weisst, dass ich dich zum Abschied am liebsten berühren würde."
Sein Blick glitt langsam über mein Gesicht, hin zu meinen Lippen, wobei er den Kopf leicht schief legte.
"Aber ich werde dir Zeit geben, dich an mich zu gewöhnen. Weil du mir jetzt schon wichtiger bist als mein eigenes Glück."
Mit diesen Worten bewegte er sich Richtung Ausgang, mich zusammen mit meinem Purzelbaumschlagendem Herzen im Schlepptau.
"Ach ja", Lucian hielt nochmals an und vergrub die Hand in der rechten Tasche seines Mantels, nur um kurz darauf etwas zu Tage zu fördern.
"Ich hab da noch etwas für dich!"
Mit einem hoch gezogenen Mundwinkel drehte er sich zu mir herum und hielt mir den Gegenstand entgegen.
Es war ein kleines, in Leder gebundenes Buch. Ich runzelte die Stirn, linste hinauf in sein scharfkantiges Gesicht und streckte auf sein ermunterntes Lächeln hin die Finger nach dem schwarzen Leder aus.
Gerade als ich das Büchlein mit der Hand umschloss, striff meine Haut die seine. Ein sanftes Prickeln ging von der Stelle aus, als würden kleine Flammen über meine Fingerspitzen zucken und mich mit Wärme versorgen, die nicht einmal das Kaminfeuer zustande gebracht hatte.
Augenblicklich zog ich meine Hand mitsamt Buch gegen meine Brust und kniff die Lippen zusammen. Auch Lucian schien es gespürt zu haben, denn er räusperte sich, anscheinend aus der Fassung gebracht.
"Ich...wir sehen uns. Schlaf gut, Bambi."
Mit diesen Worten zog er die breiten Schultern leicht nach oben, vergrub die Hände in den Taschen und spazierte über den knirschenden Kiesweg hinweg, in die Dunkelheit davon.
Aus einem Instinkt heraus wartete ich, bis seine Umriss gänzlich in der Nacht verschwunden waren. Erst dann schloß ich die Haustür und wanderte unruhig ins Wohnzimmer zurück, das Buch in den Händen drehend.
Er wollte mir Zeit geben, mich an ihn zu gewöhnen. Aber wieviel Zeit würde vergehen, bis er mich aufgrund seiner Verpflichtungen als angehender Alpha verlies?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro