56. Der alte Friedhof
Nach den zwei erfolgreichen Shows am Wochenende beorderte mich Fred am Montagmorgen zu sich. Ich war neugierig, auch den gestrigen Tag war er sehr beschäftigt gewesen, sodass ich keine Gelegenheit gehabt hatte mit ihm zu sprechen. Kurz nach der Show hatte er gemeint, er wolle mich am Morgen treffen. Und damit meinte er kurz vor Sonnenaufgang. Ich war noch etwas schläfrig und verstand nicht so ganz, warum es so früh sein sollte, jedoch war ich da. Er lehnte bereits am Stall und schien auf mich gewartet zu haben.
„Komm mit", sagte er, „Ich will dir etwas zeigen".
Der morgendliche Nebel hing dicht über den Feldern, es war die blaue Stunde, die Zeit, in der es schon hell war, aber kein leuchtender Himmelskörper zu sehen war. Fred hatte die Hände in die Hosentasche gesteckt, nur eine dünne, schwarze Jacke hielt die kühle Feuchtigkeit von seinem Körper fern. Er lief langsam voraus, einen mir verborgenen Weg entlang, immer weiter querfeldein, in Richtung Wald. Eine Strecke, die ich schon oft mit den Pferden in den letzten Tagen spazieren gegangen war, doch dieses Mal waren wir ganz ohne unsere Vierbeiner unterwegs. Ich lief leicht versetzt hinter ihm, mein Blick auf den Boden und seine Fersen geheftet. Er sprach nichts, nannte mir auch nicht den Grund, warum wir so früh aufgebrochen waren. Inzwischen hatte ich gelernt, dass ich nicht mehr nachfragte. Nicht bei ihm. Denn er lehrte er mir die Ästhetik der Ruhe und Schweigsamkeit, die ich in seiner Anwesenheit umso mehr zu schätzen wusste.
Wir hatten den Waldrand erreicht, für einen Moment hielt er inne, sah sich um, orientierte sich, dann lief er zielstrebig weiter. Geradewegs zwischen die Bäume. Beinahe lautlos bewegte er sich fort, leichtfüßig, als wäre er den Weg schon oft gelaufen. Ich versuchte, es ihm gleichzutun und konzentrierte mich darauf, meine Schritte mit Bedacht zu setzen. Einige Vögel zwitscherten, ansonsten war es absolut ruhig. Kein Geräusch der Zivilisation drang an unsere Ohren, nur der Wald erfüllte uns. Es war keine unheimliche Stille, sondern vielmehr eine entspannende Ruhe.
Wir waren vielleicht 20 Minuten durch das Unterholz gewandert, als Fred plötzlich stehenblieb und mir bedeutete, leise und hinter ihm zu bleiben.
„Wir wollen sie nicht stören", flüsterte er und schob einige Äste zur Seite, um fast schleichend weiter zu gehen. Kurz darauf sah ich im Nebel erste Steine auftauchen, die wie von Menschenhand geschaffen dalagen, aber dicht mit Moos und Efeu überwuchert waren. Eine alte Holzhütte schob sich aus der weißen Wand, die sich beim Näherkommen als eine ausgediente, verfallene Kapelle entpuppte. Erst jetzt erkannte ich, wo wir uns befanden. Auf einem alten Friedhof. Grabsteine ragten wie einsame Denkmale empor, einige Kreuze und Steinmonumente rundeten das Bild der vergessenen Ruhestätte ab. Kein Mensch schien hier jemals gewesen zu sein und doch wirkten die Wege und Pfade gepflegt. Auf einigen Gräbern lagen sogar frische Blumen, während auf anderen Ruhestätten lediglich die Natur selbst die kleinen Plätze verschönerte. Es wirkte keineswegs gruselig oder unheimlich, lediglich auf eine wunderschöne Art und Weise friedlich. Ich löste mich aus dem Schatten meines Begleiters und sah mir einige der Monumente näher an.
Ein alter, schlichter Grabstein, die Inschrift war nur schwer zu entziffern:
Franz Zimmerer und Marie Zimmerer geb. Groß, 1835-1898, 1837-1912
Dahinter ein schlichtes Kreuz: Hans Junker, 1903-1942, gefallen im Krieg für das Vaterland
Daneben trauerte ein kunstvoll gehauener Steinengel über einem kahlen Fleckchen Erde. Kein Pflänzchen war darauf zu sehen, nur der Engel, der die Wache für die Ewigkeit hielt. Ich ging einige Schritte weiter, entdeckte ein rostiges Metallkreuz unter dem verschiedene Blumen die Ruhestätte zierten. Es sah gut gepflegt aus, doch eine Inschrift konnte ich nicht entdecken. Ich setzte meinen Weg fort, blieb aber schließlich vor dem kunstvoll gehauenen Bild einer Maria stehen und betrachtete es.
„Schön, nicht wahr?", meinte jemand plötzlich leise hinter mir. Fred hatte die Hände nun hinter dem Rücken verschränkt und eine verschlossene Miene aufgesetzt. Ob ihn die vielen Toten, die hier lagen, trafen? Ich konnte es nicht sagen. Statt einer Antwort, nickte ich nur ehrfürchtig. „So lange schon liegen sie hier. Die Zeit ist nichts für die Toten, sie geht an ihnen vorbei. Seelen wandern, einige bleiben hier, mischen sich unter die Lebenden und beschützen sie, einige suchen sich einen neuen Körper, andere bleiben ihrem Besitzer treu und wachen über ihn bis in alle Ewigkeiten", erklärte er und kniete sich ehrfürchtig vor einen Stein, senkte seinen Kopf und verharrte für einige Momente in dieser andächtigen Position. Auch hier war die Inschrift zu verwittert und von Moos bedeckt, als dass ich erkennen konnte, wer hier lag. Efeu rankte sich über den Boden und ein einsamer Engel thronte inmitten dieses grünen Meeres, aber nicht in einer traurigen Pose, sondern er streckte seine Arme verzweifelt in den Himmel und wand sich, als würde er davon fliegen wollen. Doch seine Flügel waren zu klein und konnten ihn nicht tragen.
„Wir sollten die Toten respektieren. Ihre Vergangenheit und all das, was geschehen ist. Ihre Fehler, die sie in ihrem Leben begangen haben, zählen nicht mehr. Doch ihre guten Taten bleiben für immer in unseren Köpfen und geben uns neuen Mut, wann immer wir an sie denken. Sie wissen so viel mehr als wir, denn sie existieren schon länger und haben ihre ewige Ruhe gefunden. Sie haben ihr Leben hinter sich gebracht und schlafen nun den dauerhaften Schlaf", fuhr der Mann fort, während er wieder aufstand und noch einmal den Kopf respektvoll neigte, ehe er sich abwandte. Er sagte mir nicht, wer in diesem Grab lag und ich akzeptierte dies. Es war seine Privatsphäre, wen er betrauerte und es ging mich nichts an. Er wirkte wie ein Teil des Friedhofes, während ich mir vorkam wie ein flüchtiger Gast. „Wir sollten sie ehren, ja. Aber wir sollten sie auch ruhen lassen. Denn sie haben keinen Einfluss mehr auf die Gegenwart und die Zukunft", sagte er leise und blieb plötzlich stehen, um zwei Eichhörnchen zu beobachten, die unter einer Tanne spielten. Ich wagte kaum, zu atmen, zu sehr hatte ich Angst, die kleinen Tiere in ihrem Spiel zu stören. Doch sie sahen uns von selbst. Für einen Moment ruhten die Knopfaugen auf uns, dann jagten sie den Baumstamm hinauf, um ihr Spiel in den Ästen fortzuführen. Fred lief weiter.
„Genauso, wie das, was sie getan haben, in der Vergangenheit liegt und nicht rückgängig zu machen ist. Man könnte sie schuldig sprechen für ihre Fehler oder lobpreisen für ihre guten Taten, doch es würde nichts bringen. Sie hätten nichts davon. Denn was vergangen ist, ist vergangen und wir werden diesen Lauf der Zeit nicht ändern können. Du hast nur Einfluss auf die Gegenwart und die nahe Zukunft, solange du lebst. Alles dahinter solltest du respektieren und akzeptieren, denn du kannst es nicht ändern. Der Lauf der Dinge ist dein Vermächtnis"
Er machte eine Redepause und ließ die Stille eine Weile auf sich, nein, viel mehr auf uns, wirken. Die absolute Ruhe und Abgeschiedenheit, der Nebel und die mystischen Denkmäler der Toten.
Schließlich hielt er wieder inne. Diesmal vor einem einsamen Denkmal inmitten der Wegekreuzung. Ein Ort, an dem man innehielt, um zu gedenken. An die Toten, an die Lebenden, vielleicht auch an sich. Auf einer Art Säule saß ein Engel aus Stein und sah auf uns hinunter. Seine Flügel waren groß genug, um ihn zu tragen, er hatte die Knie angezogen und betrachtete die Besucher, um über sie zu wachen. Sein Blick hatte etwas bedauerndes, als würde es ihm leid tun, was geschehen ist. Er besaß aber auch etwas Tröstliches. „Er hilft den Lebenden, abzuschließen", erklärte der Ältere sanft. „Abzuschließen mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Aber auch, um mit sich selbst abzuschließen. Der Friedhof ist ein Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart mischt. Doch draußen, außerhalb der Hecken, da gibt es nur noch die Gegenwart. Sie zwingt uns, mit unserer Vergangenheit klar zu kommen, denn wir können Geschehenes nicht rückgängig machen. Wir können sie besuchen, wie auf dem Friedhof, aber wir haben den Einfluss darauf verloren. Wir können sie schöner darstellen, Blumen darauf pflanzen, aber wir können die Toten nicht zurückholen. Verstehst du?" Ich nickte. Ganz glaubte ich zu verstehen, was er mir mit diesem Ausflug sagen wollte.
„Und", sagte er dann, „Wir müssen die Ruhe des Momentes genießen, denn der Moment bleibt nicht ewig. Nur so lange, wie wir ihn genießen und ihn fühlen" Er deutete mit einem leichten Lächeln auf den sich langsam lichtenden Nebel, hinter dem die Sonne ihre ersten Strahlen zeigte.
Es war einer dieser Momente, in denen er mir etwas mitteilen wollte, etwas, dass ich nicht verstehen konnte. Als er nach einiger Zeit den Rückweg antrat und die Aura des Friedhofs nicht mehr um uns waberte, traute ich mich wieder etwas zu fragen. „Wirst du an Vollmond bei mir sein?" Übermorgen war es wieder soweit. Er stoppte in seiner Bewegung und drehte sich zu mir um. „Wenn du das wünschst", murmelte er, den Blick auf den Boden gesenkt, sodass ich nicht in seine Augen sehen konnte. Dann drehte er sich wieder um und setzte seinen Weg fort.
Ich sollte die Vergangenheit hinter mir lassen, das hatte er mir sagen wollen. Aber in welchen Zusammenhang meinte er das? Mir brannten einige Fragen auf der Zunge, Fragen, die ich nicht stellen würde, weil er in Momenten wie diesen zu sehr abwesend war. Er verschloss sich vor mir, damit ich nicht sehen konnte, wer er wirklich war. Es lag so nah und doch so fern. Er war ein Buch mit sieben Siegeln.
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Wer noch Hintergrundinfos zu dieser Kurzgeschichte will:
Sie existiert schon eine ganze Weile länger (ziemlich genau ein Jahr) und ist so eine Hommage an angehängtes Lied und den wunderschönen, alten Friedhof neben unserer Schule. Deswegen, ich war mir damals mit der Storyline nicht so ganz sicher, aber ich hoffe, ich habe alle groben Unreinheiten entfernt, die dadurch entstanden sind. Vielleicht passt es nicht ganz wie ich mir das vorgestellt habe, aber es bedeutet mir viel, dass sie im Buch ihren Platz findet. Zu der Geschichte gibt es übrigens noch ein Bild, welches ich an dem Tag, an dem sie mir eingefallen ist, mit dem Handy auf besagten Friedhof gemacht habe:
Gewidmet an Lilo, in Gedanken daran, dass du die Erste warst, die das jemals lesen durfte und als Dankeschön für deine Worte hinterher. Ich wünschte, ich hätte damals das Thema Mystik mehr vertieft.
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