48. Arbeit
Die Pferde waren bereits gefüttert, als ich am nächsten Morgen den Stall betrat. Die Wiesen um mich herum glitzerten noch vom morgendlichen Tau und es war angenehm kühl. Vito lag noch am Boden, als ich einen Blick in seine Box warf, stand jedoch sofort auf, sobald er mich sah. Früher wäre er liegen geblieben.
Doch ich brannte darauf, meine Idee in die Tat umzusetzen und versuchte möglichst freundlich zu lächeln, als ich nach dem Halfter griff und damit in Richtung Halle zeigte. Der Falbe folgte meinen Gesten aufmerksam und schien darauf anzuspringen. Widerstandslos ließ er sich aufhalftern und folgte mir. An der Tür zur Halle pinnte ein Zettel, der an mich adressiert war, weshalb ich ihn im Vorbeilaufen abriss. Ich nahm meinem Pferd das Halfter ab und überließ ihn sich selbst, während ich das zusammengefaltete Papier öffnete.
„Hallo Hanna. Ich bin schon losgefahren. Die Pferde sind gefüttert, kümmerst du dich bitte darum, dass sie alle Bewegung kriegen? Ich schätze, ich bin heute Abend wieder zurück. Die Anderen müssten im Laufe des Tages kommen. Mach keine Dummheiten, ja? Ludo."
„Welche Dummheiten soll ich denn hier bitteschön anstellen?", murmelte ich belustigt, dann steckte ich den Zettel in die Tasche meiner Jogginghose. Jovito hatte sich inzwischen an das andere Ende der Halle begeben und scharrte gelangweilt im Sand. „Vito?", rief ich ihn und er hob den Kopf beim Klang meiner Stimme. Ich winkte ihn zu mir, benutzte aber keine Sprache mehr, damit er nicht wieder verwirrt wurde. Er verstand das. Erst setzte er vorsichtig einige Schritte in meine Richtung, doch als ich bestätigend nickte und weiter meine Handgeste vollführte, wurde er mutiger. Schließlich trabte er sogar auf mich zu. Ich wollte ihn mit irgendetwas belohnen, da fiel mir auf, dass ich weder Leckerlies bei mir trug, noch jemals darauf angewiesen war. Doch jetzt erschien es mir falsch, ihn so kommentarlos dastehen zu lassen. Er war auch nur ein Pferd, er mochte Karotten eigentlich gerne.
Jedoch lobte ich ihn erst einmal mit einer kleinen Streicheleinheit am Hals. Erst dann ließ ich ihn kurz stehen, damit ich mir einige Belohnungen zusammensuchen konnte. Und damit ließ es sich tatsächlich sehr gut arbeiten. Vito hatte die neuen Methoden schnell begriffen, es schien mir, als ob er wirklich wieder arbeiten wollte und seine Freude daran wiedergefunden hatte. Noch nicht so wie es mal gewesen war, aber er hatte sich dadurch, dass wir jetzt mit einer vollkommen neuen Basis anfingen, schnell darauf eingelassen. Natürlich fragte ich keine höheren Lektionen von ihm ab, es war bereits ein riesiger Fortschritt für uns, dass es mir einfach wieder ganz entspannt freiwillig hinterherlief. Vielleicht lag es auch nur an der Karotte, die ich in der Hand hielt und ihn damit lockte, aber es funktionierte. Wir arrangierten uns.
Fast zwei volle Stunden hatten wir damit verbracht, dann entließ ich ihn wieder in seine Box und nahm Nevado samt einem Handpferd, Marions Apfelschimmel Triste, mit auf eine großzügige Runde über das Gelände. Im Schritt zockelten wir entspannt ein paar Runden um den Stall, da ich mich nicht weiter weg traute. Schließlich kannte ich mich nicht aus und blieb deshalb in Sichtweite des Stalles. Triste war ein wunderschönes Pferd, seine Mähne war mindestens genauso wallend wie Nevados und er hatte tiefgraue Punkte, die hart im Kontrast zu den weißen Stellen seines Felles standen. Er besaß einen kräftigen Körperbau und war ein ziemlich stattliches Tier. Ein Pferd, das einer Königin würdig war. Und Marion war das ja auch. Die Königin von Kaltenberger Ritterturnier. Oder Prinzessin. Das kam ganz auf die Story an. Ich glaubte, dass sie dieses Jahr wieder Prinzessin war, war mir aber nicht ganz sicher.
„Hanna?", wurde ich plötzlich von Nevado aus meinen Gedanken gerissen. „Ja?" „Wo geht es eigentlich hin?", wollte er wissen. „Es gibt kein Ziel, wir laufen hier gerade im Kreis. Willst du irgendwo hin?", gab ich schmunzelnd zurück. „Du hast gesagt, die Arena, in der wir auftreten ist riesig. Darf ich sie sehen?", bettelte er und ich lachte über seine überschwängliche Neugierde. „Klar doch... Triste? Weißt du, wo es zum Schloss geht?", wandte ich mich an den Apfelschimmel. Ich wusste zwar ungefähr wo es war, schließlich war der große Steinbau nicht zu übersehen, doch es führten mehrere Wege in die Richtung, weshalb ich sicherheitshalber jetzt mal den Erfahrenen fragte. Schließlich war der schon einige Jahre dabei. Zustimmend brummelte er. „Ich führe euch dorthin", bot er an und verließ seine richtige Position mit dem Kopf auf meiner Höhe. Ich ließ den Strick etwas länger und ihn vorausgehen.
Zielstrebig steuerte er in eine bestimmte Richtung und ich überließ ihm die Führung. Einige Minuten später wurde die Umgebung vertrauter. Schließlich war ich auch schon einmal hier gewesen, nur noch nicht am Stall direkt. Ich meinte, mich an das Stallzelt zu erinnern, doch an den festen mit der Halle konnte ich mich nicht erinnern. Es war wie ausgestorben, was mich nicht wunderte. Es hatte schließlich noch viel Zeit bis zum ersten Wochenende und so hatte noch kein Händler angefangen aufzubauen. Dennoch liefen einige Handwerker herum, die wohl gerade die Bühne für die großen Bands wieder auf Vordermann brachten. Ich stieg schließlich ab und führte die zwei Pferde die letzten Meter.
Kurz darauf schob sich erst die Tribüne, dann schließlich auch der weitläufige Sandplatz in unser Sichtfeld. „Das ist echt groß", staunte Nevado fasziniert, als er es sah. „Ich weiß. Komm, ich zeige dir, von wo du zu mir kommst", sagte ich und führte ihn um ein Viertel der Arena herum. Von dort konnte man direkt auf den Thron sehen. Rechts von uns befand sich besagte Bühne, an der die Handwerker bastelten und links von uns befand sich der große Aufgang vom Marktplatz, auf dem wir standen, zum Schloss. Vor uns führte ein breiter Weg in Stufen direkt hinunter in die tiefer gelegte Arena. „Ich stehe vermutlich dort in der Mitte", erklärte ich und zeigte auf die Stelle, „Und du stehst hier und wartest auf das Signal" „Aber ich höre dich doch gar nicht, wenn du rufst, da bist du doch viel zu weit weg...", schlussfolgerte richtig und ich nickte. „Ich weiß. Deswegen habe ich dir doch gesagt, du sollst auf ein Handzeichen achten. Aber vielleicht nehme ich auch eine Hundepfeife oder so etwas, dass du ein eindeutiges Signal hast". „Dann ist ja gut", erwiderte das Pferd zufrieden und schaute sich weiter um.
„Was machst du da mit den Pferden?", wurde ich plötzlich angesprochen. Überrascht drehte ich mich und entdeckte einen Mann, den ich als Veranstalter identifizieren konnte. Ich glaube, dass er Prinz Heinrich hieß oder so etwas. „Ich zeige ihnen nur das Gelände, das darf ich doch, oder?", wollte ich verwundert wissen. „Wer sind Sie?", wurde ich zuerst gegengefragt. „Duzen Sie mich ruhig. Mein Name ist Hanna. Von Mario Luraschis Cavalcade", erklärte ich und hoffte, dass das zur Identifikation reichte. „Achso. Dasselbe gilt für dich, mein Name ist einfach Heinrich, ich bin hierfür zuständig. Dann ist das doch Triste, oder?", sagte der Mann deutlich entspannter und deutete auf den Apfelschimmel. „Ja, das ist er", bestätigte ich. Er lächelte. „Freut mich euch wiederzusehen. Willkommen in Kaltenberg. Morgen komme ich dann zur offiziellen Begrüßung der Cavalcade... Ist noch jemand hier oder bist du die Einzige?" „Ich bin alleine. Ludo ist heute noch einmal los nach Rust, mit ihm bin ich gestern gekommen. Ich soll für heute auf die Pferde aufpassen. Die Anderen kommen nachher, denke ich." „Das freut mich. Das zusätzliche Stallzelt steht schon, braucht ihr das heute schon?", fragte er und ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung wie viele Pferde sie heute noch mitbringen oder ob die erst im Laufe der nächsten Tage und Wochen kommen. Ich kümmere mich hier nur um die Pferde" „Und wenn du von der Cavalcade bist, wie kommt es, dass du so gut deutsch sprichst?" Ich grinste. „Ich bin zweisprachig aufgewachsen und auch nicht aus dem Herzen von Frankreichs, sondern aus Straßburg. Wie ich zu Mario gekommen bin ist eine lange Geschichte", ich winkte ab. „Na dann, soll ich dich noch ein Stück begleiten, oder kennst du dich hier aus?". Ablehnend schüttelte ich den Kopf. „Nein danke, ich habe schließlich auch den Weg hierher alleine gefunden. Aber danke für das Angebot" Wir verabschiedeten uns voneinander und ich machte mich wieder auf den Weg.
Er sah, dass ich noch eine Runde über das Turniergelände drehte, hielt mich davon aber nicht ab, also ging ich davon aus, dass er nichts dagegen hatte, wenn ich hier mit den Pferden spazierte.
Es war bereits Nacht als ich vollkommen erledigt in der Pension auf meinem Bett lag und schlaflos an die Decke starrte. Marion teilte sich mit mir ein Zimmer, sie war am Nachmittag angekommen und ich hatte die gesamte Zeit heute damit verbracht mich um die Pferde zu kümmern, die Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen und für das Wohlergehen aller zu sorgen. Allein war diese Sache kaum machbar gewesen, aber ich hatte ja jetzt Hilfe. Dennoch konnte ich nicht schlafen.
Meine Gedanken hielten mich wach. Sie kreisten um Vito, um unsere Zukunft, um die Zeit, die uns nicht reichen würde. Wenn ich so weitermachen würde wie heute, würden wir es sicherlich irgendwann wieder zu einer Einheit schaffen, aber bis zum Turnier war es nicht mehr lange und bis dahin musste ich Jovito wieder reiten können. Und ob das so leicht machbar war? Ich vertraute ihm nicht mehr... Es war mir heute erst wieder aufgefallen, als ich ihn am Abend noch etwas grasen ließ. Früher hätte ich ihn einfach frei gelassen, er wäre mit Sicherheit nicht abgehauen. Heute konnte ich mir da nicht mehr sicher sein. Was hielt ihn noch bei mir? Die Karotten, die er durch meine Hand bekam? Marion sollte ihn mir morgen noch einmal vorreiten. Warum klappte das eigentlich bei ihr? Wenn es bei jedem anderen klappte, müsste er doch eigentlich die reiterlichen Hilfen können? Warum stellte er sich dann bei mir dagegen? Konnte ich überhaupt reiten? Ich meine, ich wusste, wie die Grundlagen gingen, natürlich hatte ich Reitunterricht gehabt. Aber danach hatte ich mich immer mehr auf meine Stimme verlassen. Es hatte ja auch immer besser geklappt damit.
Frustriert fuhr ich mir mit einer Hand über das Gesicht. Ich drehte mich im Kreis. Natürlich konnte ich von vorne anfangen, das Reiten neu lernen und Jovito die Ausbildung geben, die er nie bekommen hatte, weil es einfach auch ohne funktioniert hatte. Er müsste alles neu lernen, am besten erst einmal das gelernte vergessen, indem er ein oder zwei Jahre ohne nennenswerten menschlichen Kontakt auf der Weide verbrachte und dann komplett neu anfangen. Auf der Seniorenweide war sicherlich noch ein Platz für ihn.
Aber ich hatte keine zwei Jahre. Er müsste einfach mitspielen. Bis Kaltenberg vorbei war. Was ich danach machen wollte? Ich wusste es nicht. Was kam nach dem großen Turnier für das ich schon Monate trainierte? Es war, als ob meine Zukunft in Watte getaucht wurde und nur verschwommen für mich greifbar war.
Ich ritt mich mit den Gedanken in eine mittlere Existenzkrise, was schließlich darauf hinausführte, dass ich erst recht wach war und mich von depressiven Gedankenanfällen immer beengter fühlte. Unruhig drehte ich mich von einer auf die andere Seite und stand schließlich auf, um nach draußen zu gehen. Doch bevor ich die Tür erreichen konnte, hörte ich Marion. „Hanna?", fragte sie verschlafen, „Wo gehst du hin?" „Ich muss hier raus", murmelte ich. „Leg dich wieder hin". Unsere Begrüßung war sehr spärlich ausgefallen, wir waren schließlich im Streit auseinander gegangen und irgendwie lag das noch zwischen uns in der Luft. Mir kam es vor, als wären Jahre vergangen seit dem. Ich hatte das längst verdrängt oder vergessen, doch sie schien es mir nicht nachtragen zu wollen. Außerdem war sie viel zu müde gewesen als sie am späten Abend angekommen war, um das auszudiskutieren. Wir teilten uns ein Zimmer, weil wir so gut wie die einzigen Frauen hier waren. Und Charles war in Rust geblieben, sonst hätte sie vermutlich mit ihm in einem Zimmer geschlafen. Soweit ich das wusste, waren die zwei noch zusammen. Zumindest hatte ich nichts vom Gegenteil gehört.
„Ich komm nachher wieder, schlaf weiter", sagte ich also gedämpft und verließ das Zimmer. Leise schloss ich die Tür hinter mir und setzte mich draußen auf eine Holzbank die sowohl als Deko und als Sitzgelegenheit dort stand. Die Kühle der Nacht verhalf meinen Gedanken etwas Frische und Klarheit und sie verschwanden für eine Weile. Ich betrachtete die Sterne, die durch den wolkenlosen Himmel mal wieder gut zu sehen waren und kam mir wieder unendlich klein vor. Es erinnerte mich an diesen Abend an dem ich schon einmal so dagelegen war und darüber nachgedacht hatte, wie klein wir doch im Vergleich zum Universum waren.
Entgegen meiner Ansage kam Marion schließlich doch heraus. Wortlos setzte sie sich neben mich.
„Du siehst besser aus, weißt du das?", brach sie nach einer Weile die Stille. Ich drehte mich zu ihr um. „Wie?" „Als du Rust verlassen hast, warst du nur noch ein Schatten deines Selbst. Du hast dich von niemand mehr anfassen lassen, du hast überhaupt nicht mehr gelebt nach dem Tod von Sylvain. Aber jetzt scheinst du darüber hinweggekommen zu sein, oder?" Ich schluckte. „Hör auf, die Wunden aufzureißen. Ich habe sie gerade vergessen. Bitte. Erinnere mich nicht daran..." Marion strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Es ist also nichts besser geworden?" „Gar nichts", bestätigte ich. Naja, eigentlich schon. Aber mein Versagen mit Vito brauchte ich ihr nicht unter die Nase zu reiben. Zwar vertrugen wir uns wieder, aber ich hatte trotzdem versagt und das war mir peinlich. Es wurde wieder eine Weile ruhig zwischen uns.
„Hör zu, ich möchte noch, dass du weißt, ich stehe immer hinter dir. Du kannst mit mir reden. Ich weiß, dass ich damals eifersüchtig auf Lena war. Wer wäre das auch nicht? Ich habe die Publikumsliebe und dich an sie verloren geglaubt. Dabei ist sie längst nicht so gut und bekommt trotzdem mehr Anerkennung? Ich habe das nie verstanden..." „Du wirkst manchmal so unnahbar, Marion. Du bist so... so perfekt. Lena ist einfach menschlicher gewesen durch ihre kleinen Fehler. Und sie hatte niemanden. Du hattest immer noch Charles" „Tut mir leid, wie ich gehandelt habe. Wirklich. Ich wünschte, ich hätte es nicht so getan. Doch stattdessen konnte ich nur noch zusehen, wie sich dein Zustand immer mehr verschlechtert und du dich bei Lena verkrochen hast", entschuldigte sie sich. „Es ist ok so. Im Endeffekt hast du ja mir trotzdem geholfen, indem du die Krähe umgebracht hast. Danke dafür noch. Und es tut mir leid, dass ich dich beinahe umgebracht habe". Bei der Erinnerung daran bekam ich einen dicken Kloß in den Hals und auf einmal war ich unendlich froh, dass sie noch hier war und lebte. Ohne Vorwarnung schlang ich meine Arme um ihren schlanken Körper und vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter. Überrascht erwiderte sie die Umarmung und strich mir dann beruhigend über den Rücken, als der Kloß immer dicker wurde und ich die Tränen schließlich laufen ließ. Tränen der Erleichterung, Tränen der Freude über ihr Leben und Tränen der Kummer und über das Geschehene. Wir hatten uns so viel zu erzählen. Ich musste irgendjemand erzählen, was geschehen war und ich wusste, dass sie es verstehen würde ohne mich dafür zu verurteilen.
Sie blieb mit mir auf und hörte mir zu, wie ich die Geschichten von Lea erzählte, von der Sache mit Sam und von meinem ewigen Versagen mit Vito. Und als das erste Morgenrot einen neuen Tag ankündigte, saßen wir aneinander gelehnt auf der Holzbank und sahen dem Sonnenaufgang zu.
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