21. Gott weiß, ich will kein Engel sein // Moondancer
Das laute Geräusch meiner Hufe auf dem Asphalt, beherrschte meine Wahrnehmung.
Ich spürte keine Schmerzen mehr, meine Sinne waren betäubt.
Meine Beine fanden ihren Weg von selber. Hinaus über den Hof, in einem halsbrecherischen Tempo über die Zufahrtsstraße vom Europapark, an der ich beinahe einen Unfall verursachte und schließlich in den schützenden Wald. Doch da ich endlich den Fluchtinstinkt des Pferdes in mir die Überhand ließ, rannte ich immer weiter. Ich sprang über Büsche, durchquerte Felder, wurde nicht müde. Wie denn auch, wenn ich immer weiter von der Energie der Erde zehrte? Nein, ich rannte gefühlt eine Ewigkeit durch die Nacht. Und es fühlte sich unglaublich befreiend an. Davonzurennen, ein Pferd sein und vor allem eines: Frei sein.
Erst wenn die Wolken schlafen gehen, kann man uns am Himmel sehen. Wir haben Angst und sind allein.
Adrenalin pumpte unaufhörlich durch meine Adern, trieb mich immer weiter über den Weg. Die Bilder der Arena hatten sich in meinem inneren Auge festgebrannt und verfolgten mich. Die Menschenmasse, die inzwischen in meinem Gedächtnis nicht mehr überreizend bunt dargestellt waren, sondern so wie in meinem Traum. Als eine graue Masse, die mich erdrückte. Traum und Realität vermischten sich in meinen Gedanken. Blitze der Erinnerung schossen durch meinen Kopf.
Vielleicht hatte mein Traum recht und ich wollte es nicht. Im Rampenlicht stehen, dem Einfluss der Zuschauer ausgesetzt sein. Vielleicht wollte ich nicht das sein, wofür mich alle hielten. Die junge Frau, die so gut mit Pferden kann, dass es wie perfekt aussieht, wenn sie reitet. Die alle Probleme lösen kann, weil sie mit ihnen reden kann. Hatte überhaupt mal jemand daran gedacht, was diese „Gabe" mit sich brachte? Wollte ich es überhaupt? Wollte ich das sein?
Wenn mir eines klar geworden war an dem Abend, dann war es die Tatsache, dass Pferde nicht für Menschen gemacht worden waren. Oder doch? Ich wusste nicht, wie die Tiere dachten, aber ich wusste nun, wie es sich angefühlt hat. Jemanden tragen zu müssen ohne gefragt zu werden. Sich zu unterwerfen, keine andere Wahl zu haben. Gefangen in den Klauen der Menschen. Eingesperrt zwischen Leder unter einem Lebewesen, welches sich einfach nahm, was es wollte. Getrieben für die Unterhaltung. Gezüchtet um Spaß zu bereiten. Aber sie wurden nicht einmal gefragt, ob sie Spaß machen wollten. Als würde jemand in eine Gruppe Menschen gehen und wahllos auf verschiedene Leute zeigen: „Du wirst jetzt Clown und du wirst jetzt Clown. Wenn du das nicht kannst, dann arbeiten wir solange mit dir, bis du es kannst"
Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und spornte mich nur weiter an. Wegrennen. Als ob Fliehen die einzige Möglichkeit wäre. Aber es war sie. In diesem Moment. Für mich.
Gott weiß, ich will kein Engel sein.
Bis mich urplötzlich etwas ausbremste. Obwohl meine Muskeln stets mit neuer Energie versorgt wurden, so hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie irgendwann trotzdem nicht mehr konnten. Unter Hochleistung zu Arbeiten waren meine Beine nicht gewöhnt und das bekam ich mit einem Mal ganz schlagartig zu spüren. Ein stechender Schmerz machte sich in meiner linken Schulter bemerkbar und kurz darauf auch an meinen Schenkeln. Ich verlangsamte mein Tempo und blieb schließlich schweißgebadet stehen. Mein Atem ging schnell und meine Lungen fühlten sich an, als ob sie explodieren wollten. Die Erschöpfung befiel mich so ruckartig, dass meine Beine unter mir nachgaben und ich entkräftet auf den Boden fiel. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich gerannt war und bis wohin, doch es war weit.
Flach lag ich auf dem kühlen Boden, der sich nach kurzem Umsehen als ein Waldboden entpuppte. Ich sah nicht wirklich viel, denn ich war so am Ende, dass ich nicht einmal die Reize der blauen Ströme wahrnehmen konnte. Die Wolken verdeckten immer noch den Mond und das Blätterdach des Waldes spendete den Schatten, der dazu führte, dass es absolut stockfinster um mich herum war. Ich pumpte fast verzweifelt Luft in meine brennenden Lungen und versuchte wieder zur Ruhe zu kommen. Auch wenn mein Herz sich anfühlte, als wolle es aus meiner Brust springen. Innerlich bat ich darum, dass ich bei Bewusstsein bleiben würde. Denn in einer Umgebung, in der ich mich absolut nicht auskannte und mitten in der Nacht ohnmächtig zu werden, war nicht von Vorteil.
Als hinter mir ein Ast knackte, zuckte ich heftig zusammen. Die sonst stille Nacht war bisher nur von meinem lauten Atem unterbrochen worden. Es hörte sich an, als würde jemand schweres durch das Unterholz laufen. Ein Mensch, denn Tiere waren nicht so schwerfällig. Ich sah nichts, sonst hätte ich mich umgesehen. Und um mich aufzurichten, war ich sowieso zu schwach.
„Ganz ruhig, Moondancer, ich bin es" Tolle Beschreibung. Ich erkannte die menschliche Stimme nicht, spürte nur, wie sich der Mensch plötzlich neben mich kniete. Er zog meinen Kopf auf seine Knie und fing sanft an, mir über die Wange zu streicheln. Ich versuchte die Person am Geruch zu erkennen, doch nichts erreichte meine Nase. Aus den Augenwinkeln sah ich nur die dunklen Umrisse des Umhangs, die er trug. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass ich noch weniger erkennen konnte. „Falls du es bist, Sylvain, bring es hinter dich und beende es endlich", seufzte ich leise und versuchte anhand der Energieströme auszumachen, wer so sanft meinen Kopf massierte. „Wie kommst du darauf, dass ich Sylvain bin?", fragte er ruhig und seine Finger verharrten kurz auf meinem Fell. „Keine Ahnung. Hab da so ein merkwürdiges Gefühl", murmelte ich. „Keine Sorge, du kannst mir vertrauen. Du kennst mich. Ich bin dir gefolgt seit du losgerannt bist. Einer muss ja auf dich aufpassen", antwortete der Andere. Ich hatte immer noch keine Ahnung, realisierte nur, dass er mir wirklich nichts Böses wollte.
Seine Hand fuhr weiter über meinen nassgeschwitzten Hals und verharrte dort. Dann spürte ich wie Energie aus seiner Hand in meinen Körper floss, meine kaputten Muskeln zu reparieren schien und mich endlich aufbaute. Sobald ich die fremde Energie aus seiner Hand spürte, erkannte ich auch die Person. Erleichtert schloss ich die Augen und entspannte mich. Mein Cernunnos. Der Hirsch, der Naturgott und mein persönlicher Schutzgeist. Er spürte wohl, dass ich ihn endlich erkannt hatte. „Siehst du, ich wusste, du kennst mich", sagte er leicht belustigt und ließ den Energiestrom stoppen. „Ich kenne dich nur in deiner Tiergestalt, wie sollte ich dich auch auf Anhieb erkennen?", fragte ich. „Schon in Ordnung, junge Mondtänzerin. Jetzt bin ich ja da und mache das, wofür ich berufen worden bin. Deine Fehler ausbaden" Schuldbewusstsein machte sich in mir breit. „Tut mir leid, ich wusste nicht, dass es so schlimm ist"
„Aus dem Fehler wirst du hoffentlich lernen. Ich kann auch nicht immer da sein, wenn ich benötigt werde. Mein Platz ist im Wald in Rust. Ich bin nicht einmal hier willkommen. Du bist sehr weit gerannt", erklärte er mit seiner beruhigenden Stimme und schob meinen Kopf dann wieder von seinem Schoß auf den Waldboden. „Kannst du stehen?", wollte er wissen und mühsam zog ich die Beine unter meinen Körper. Aufstehen fiel mir unglaublich schwer, doch es ging. Zitternd stand ich schließlich auf allen Vieren und blickte zu der Gestalt im dicken, grauen Umhang. Jetzt, wo ich wieder einigermaßen klar bei Sinnen war, erkannte ich ihn viel besser. Die große Kapuze des Kleidungsstücks hatte er tief in das Gesicht gezogen, sodass ich nicht erkennen konnte, wie er als Mensch aussah.
„Findest du den Weg allein zurück?", fragte er, sobald er sah, dass ich einigermaßen sicher stand. Suchend blickte ich mich um, doch ich hatte wirklich keine Ahnung wo ich war. „Ich weiß es nicht", gestand ich also. „Folge den Strömen. Ich werde noch woanders gebraucht", sagte er geheimnisvoll und streifte sich den Umhang von den Schultern. „Nimm du ihn, dir wird kalt sein, wenn du so geschwitzt hast", fügte er hinzu. Der schwere Stoff fiel achtlos auf den Boden. Ich hoffte, vielleicht einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, doch er stand mir abgewandt und kaum dass der graue Umhang nicht mehr seine Haut bedeckte, schienen sich Blätter, dünne Zweige und Moos zu einem Gewand zusammenzutun, dass sich wie ein Anzug auf seine nackte Haut legte. Er musste meinen erstaunten Blick irgendwie bemerkt haben. Jedenfalls begann er zu lachen. Dabei hatte er mir immer noch den Rücken zugewandt. „Normalerweise ist das mein echtes Gewand. Aber in der Nacht ist es doch manchmal kühl" Als die Blätter endgültig alle an ihrem Platz lagen, drehte er sich zu mir um und ich konnte endlich in sein Gesicht sehen. Jedoch wurde ich enttäuscht. Das einzige, was ich klar erkennen konnte, waren seine stechend grünen Augen. Die Konturen seines Antlitzes waren bedeckt mit kleinen Blättern und gaben ihm das Aussehen eines Waldgeistes.
Er hob den Umhang auf und warf ihn mir über den Rücken. „Du kannst ihn behalten", lächelte er freundlich und lief dann einige Schritte voraus. Vor Überraschung konnte ich mich immer noch nicht rühren und so drehte er sich nach einigen Metern wieder um. „Was ist? Kommst du nicht?" Verdutzt schüttelte ich den Kopf, um meine Gedanken zu klären, und folgte ihm dann. Eine Weile liefen wir stillschweigend nebeneinander her. Eine Menge Fragen rasten mir im Kopf herum, aber ich traute mich nicht, sie zu stellen.
Irgendwann bog er schließlich in das Unterholz ab und drehte sich noch einmal zu mir um. „Folge der Energie, sie wird dich zurückbringen. Ich verlasse dich aber hier", verabschiedete er sich und hob grüßend die Hand. Respektvoll neigte ich kurz den Kopf, dann joggte er einige Meter in den Wald hinein und verwandelte sich im Laufen in den Hirsch, den ich kannte.
So machte ich mich also auf den Rückweg. Immer noch vollkommen erschöpft, aber stark genug, um laufen zu können.
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Zitate in kursiv aus "Engel" von Rammstein.
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