
40. Nicht mehr da...
Langsam führte ich ihn hinaus. Es hatte ein Umbruch in mir stattgefunden. Mein Gehirn war wie ausgeschaltet. Es war, als ob mich jemand anderes lenken würde. Die Trance traf mich ziemlich unvorbereitet und der Tunnelblick ließ mich alles um mich herum ausblenden. Plötzlich trat Marion neben mich, sodass ich heftig zusammenzuckte, was sie aber anscheinend nicht merkte. "Hallo, Hanna! Wie geht's?". Sie drückte mir die üblichen Franzosenküsschen auf die Wangen. In ihren Augen verhielt ich mich normal, führte mein Pferd zu einem Spaziergang hinaus. Stumm schüttelte ich den Kopf. Was machte ich hier bloß? Ich sollte meinen Hengst wieder zurück in seine Box führen und es gut sein lassen, aber ich konnte es nicht. Meine Beine wollten mir nicht mehr gehorchen. Wortlos begleitete Marion mich, denn sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Dafür schätzte ich sie. Sie stand mir bei, wann immer ich es brauchte.
Jovito lief sogar einigermaßen gut mit. Er merkte, dass etwas anders war.
Jeder Schritt war eine Qual für mich, jeder einzelne, der mich mehr von der Arena entfernte. Und trotzdem tat ich es. Es war so unbewusst und jeder Schritt riss mir ein größeres Loch in mein Herz. Noch nie war der Weg zu unserer Galoppstrecke so anstrengend gewesen, noch nie kam er mir so lang vor.
Dennoch erreichten wir diesen Feldweg schließlich. Ich hielt an, schloss kurz die Augen um mich zu sammeln. Wie in Zeitlupe glitten meine Finger, vollständig von selbst, zum Verschluss des Halfters und langsam öffnete ich es. "Was machst du da?", fragte Marion entsetzt. Meine Lippen formten stumm "Lass los, was du liebst.". Die Kontrolle über meine Handlungen hatte ich verloren. Das war nicht mehr ich, die mich lenkte. Mein Gehirn war von etwas anderen eingenommen, was viel größer war, als ich es jemals war. Immer und immer wieder murmelte ich den Satz vor mich hin. Wie ein Gebet. Unendlich langsam rutschte das Halfter schließlich von Jovitos Kopf. Meine Freundin versuchte mich aufzuhalten, doch ich ließ sie nicht.
Nun stand der Falbe völlig frei da. Er war verwirrt. "Nun geh schon!", forderte ich ihn kraftlos auf. Vorsichtig setzte er einen Schritt nach vorne. Als ich ihn wirklich nicht aufhielt, blickte er mich noch einmal kurz an. Doch mir kam es vor, als hätte er mich Ewigkeiten so angesehen. Der Blick seiner dunklen Augen würde ich so nie vergessen. Dann machte er einen Satz nach vorne und lief los. Ich sah seinem wilden Galopp nach, bis er im Wald verschwunden war.
Es tat weh, ihn gehen zu sehen. Kraftlos lehnte ich mich an Marion, die mich tröstend umarmte. "Warum hast du das getan?", fragte sie ruhig. Innerlich fiel ich zusammen. "Ich weiß es nicht.", murmelte ich kaum hörbar und ließ den Tränen, die seit letzter Nacht in meinen Augen brannten, freien Lauf.
Wenig später lief ich mit gesenktem Kopf zur Arena zurück und wich dabei sämtlichen, fragenden, Blicken aus. Nur Ludo, der Arena-Boss, sprach mich direkt auf mein Häufchen Elend an: "Wo hast du Jovito gelassen?". Seine Stimme klang schneidend scharf, denn er ahnte, was passiert war. Er klang so vorwurfsvoll, dass es mir wirklich im Herz wehtat. Schon wieder brannten Tränen in meinen Augen und ich hatte einen dicken Kloß im Hals. "Es tut... tut mir so Leid... Ich... ich war nicht ich selbst.", druckste ich umständlich herum und mied seinen Blick. "Sie hat ihn frei gelassen.", erklärte Marion an meiner Stelle. Unser Boss blickte uns entsetzt an. "Du hast WAS?!", fragte er ungläubig. "Ich... Er... muss vergessen. Seine Vergangenheit hinter sich lassen. Und das geht nur, wenn er seiner selbst Herr ist.", versuchte ich einigermaßen kräftig zu klingen. Ich scheiterte kläglich. Mir war klar, dass ich ihn wahrscheinlich nie wieder sehen würde.
Ich ärgerte mich wirklich. Jetzt hatte ich einmal die Chance gehabt, ein eigenes Pferd selbst ausbilden zu dürfen und ich war kläglich gescheitert. Stattdessen lief er jetzt irgendwo draußen frei herum oder lag schon verletzt am Boden. Wie jedes Pferd wird er in Gefangenschaft aufgewachsen sein und kam deshalb mit dem wilden Leben noch nie in Kontakt. Er wusste ja gar nicht, wie er sich selbst versorgen sollte und vor was er fliehen musste, um zu überleben. Wie sollte er es jetzt schaffen?
Ich machte mir schreckliche Vorwürfe und in meinem Kopf entstand gleichzeitig das Bild eines toten Falben mit wunderschöner, schwarzer Mähne. Mir wurde übel dabei.
Um mich abzulenken half ich Chris mit Rango. Die zwei waren mittlerweile zu einem echten Dreamteam zusammen gewachsen und es machte Spaß, ihnen beim Reiten zu zuschauen. Das könnten Jovito und du auch sein, flüsterte eine innere Stimme in mir. Ich schluckte die Tränen, die schon wieder kommen wollten, herunter und lief mit festen Schritten in die Arena. An meinem Stammplatz ließ ich mich nieder und beobachtete wie die Besucher zur zweiten Show eintraten.
Kurz vor Beginn der Show kam noch Nicole und ihr Freund Uwe in die Arena gehechtet. Sie sahen mich und ließen sich neben mich sinken. "Hallo, Hanna. Wie geht's?", fragte Uwe mich. "Ganz gut, danke.", sagte ich kurz angebunden, nicht gewillt ein Gespräch anzufangen. "Deine Videos sind echt super, ganz Facebook liebt sie!", fuhr Nicole fort. Ich nickte: "Danke.", meine Stimme klang ungewollt kalt und abweisend. Dennoch ließ sich Nicole nicht beirren. "Und was macht Jovito?", kam es wieder von ihr.
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Plötzlich erinnerte mich alles hier an ihn. Die schwarzen Haare der Frau vor mir, das goldene Fell von Thorgal, der mit Marion gerade seine Runde am unteren Umlauf drehte. Alles kam wieder vor meinem inneren Auge hoch. Sein Fell, blutverkrustet. Ich hielt es hier nicht mehr aus.
Ohne ein weiteres Wort an Nicole und Uwe, sprang ich auf und kletterte durch das Fenster hinter dem Thron zurück zum Backstagebereich. Sobald ich die Leiter vom Dach auf den Boden geklettert war, rannte ich auch schon los. Ich achtete nicht darauf wie schnell und wohin meine Beine mich hintrugen. Aber irgendwann brach ich einfach zusammen. Vor Erschöpfung, die mich seelisch und körperlich auffraß. Auf dem staubigen Boden rollte ich mich zusammen und weinte leise. Noch nie hatte ich an einem Tag so viele Tränen vergossen und schon gar nicht wegen einem Pferd. Obwohl Jovito es sich noch gar nicht verdient hatte, gehörte ein, zugegeben sehr großer, Teil meines Herzen schon ihm.
Als die salzige Flüssigkeit nicht mehr auf den Boden tropfte, da ich einfach keinen Tränen mehr hatte, wurde meine Sicht wieder klarer und ich sah mich vorsichtig um. Unbewusst war ich zu der Stelle gelaufen, an der ich Jovito frei gelassen hatte. Meine Finger tasteten den Boden ab, als ob ich seine Hufspuren erspüren konnte und so ein Teil von ihm spürte. Aber da war nichts. Das Pferd hatte auf dem trockenen, rissigen Boden keine Spuren hinterlassen. Ich zog die Knie an und bettete mein Kinn darauf. In mir keimte ein Fünkchen Hoffnung. Vielleicht kam er ja doch zurück. Ich würde hier warten bis er zurück kam, beschloss ich, obwohl mein vernünftiges Oberbewusstsein mir zuflüsterte, dass es Hoffnungslos war. Ohne es verhindern zu können, tauchte vor meinem inneren Auge ein Bild auf. Mit angezogenen Knien saß ich hier, meine Haare waren grau und mein Gesicht von Falten durchzogen. Blitzschnell verdrängte ich es.
Da war immer noch das Fünkchen Hoffnung. An dieses klammerte ich mich, während ich auf dem heißen, trockenen Boden des Feldweges saß. Schon lange hatte es nicht mehr geregnet. Es wurde mal wieder Zeit, bevor die Ernte der Bauern vertrocknete.
Es verging einige Zeit und die Dämmerung setzte schon ein. Vom harten Boden tat mir mittlerweile alles weh und da ich meine Position kaum geändert hatte, war ich total steif. Außerdem plagte mich der Hunger und meine Kehle war wie ausgedörrt. Und trotzdem wollte ich hier immer noch nicht weg. Noch war das Fünkchen nicht verloschen.
Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir. Steif drehte ich den Kopf. Marion kam mit schnellen schritten näher. "Hanna! Ich habe dich schon überall gesucht! Nicole hat mir erzählt, dass du einfach aus der Arena gerannt bist. Was war los?", fragte sie besorgt. "Ich kann ihn nicht allein lassen, wenn er zurück kommt!", murmelte ich. Meine Freundin setzte sich neben mich und umarmte mich tröstend. "Er kommt bestimmt bald wieder. Mach dir keine Sorgen. Aber jetzt musst du mitkommen!", forderte sie mich auf und drückte eine flache Hand auf meine Stirn. Entsetzt zog sie sie wieder zurück. "Du glühst ja!", rief sie entsetzt, "Hast du einen Sonnenstich, Hanna?", wollte sie vorwurfsvoll wissen. Ich zuckte die Schultern. Das konnte aber gut sein. Schließlich saß ich jetzt schon den ganzen Nachmittag in der sengenden Sonne.
Schwankend half sie mir auf und mir wurde schwindelig und auch ein wenig übel. Also hatte ich wohl doch einen Sonnenstich. Müde kämpfte ich mich zurück zur Arena, während Marion mich, so gut es ging, stützte. Wir schwiegen auf der gesamten Strecke zurück. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen.
Als wir an unserem Ziel ankamen, bugsierte meine Freundin mich zuerst auf meine Lieblingsbank im Schatten und holte mir etwas zu trinken. Kurz darauf kam sie mit einer kühlen Wasserflasche wieder. Trotz meiner elenden Situation musste ich grinsen. "Danke, Mama.", lächelte ich schwach. Marion lachte mich an. "Einer muss sich ja um dich kümmern.". Obwohl es mir gerade wirklich nicht gut ging, schaffte ich es aufzustehen und Ornella anzurufen. Sie nahm schon nach dem zweiten Klingeln ab. "Hallo, Hanna. Was gibt's?", fragte sie. "Hi, Ornella. Kannst du mich mit nach Hause nehmen? Marion meint, ich hätte voll den Sonnenstich und mir geht's auch nicht wirklich gut.", trug ich meine Bitte vor. "Klar, kann ich machen. Ich komm gleich vorbei.", meinte sie und legte auf. Ich steckte mein Handy wieder in die Tasche und setzte mich wieder auf die Bank. Dann wartete ich.
Es dauerte fast eine halbe Stunde bis ich Ornellas schwarze Haare und ihre dunkelblaue Jacke ausmachte. Sie kam gerade in den Backstagebereich und winkte mir zu. Vorsichtig stand ich auf und mir wurde wieder ganz schummrig. Langsam lief ich der Globe-Sängerin entgegen. Als sie mich sah, schüttelte sie nur vorwurfsvoll den Kopf. "Du siehst echt nicht gesund aus, Hanna. Weißt du das?", begrüßte sie mich. "Hi. Ja, ich weiß. Den gesamten Tag bin ich in der Sonne gesessen, aber ich bereue es nicht.", erwiderte ich deprimiert. "Wieso das denn?", bohrte Ornella weiter und auf der gesamten Heimfahrt erzählte ich ihr, was mit Jovito passiert war.
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Kennt ihr eigentlich Frédéric Laforêt? Das ist der tolle Komponist aus der Arena! Er macht wunderbare Musik... schaut mal auf www.fredkara.com da seht ihr alles, was ihr wissen müsst! Also ich finde ihn total begabt (aber Achtung, nicht erschrecken, das ist ein KLASSIK-Komponist und kein Metal-Hardrocker, aber trotzdem total gut...)
Anbei habt ihr mal ein Video mit einer Komposition von ihm, die ist richtig gut! Und das Video fasst die Situation in Kaltenberg (welches ich ja schon mal am Rande in irgendeinem Kapitel erwähnt hatte) fast perfekt zusammen. Also zumindest stellte ich es mir so vor...
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