Sonntag, 13. Oktober 2019, Vollmond
Ich sitze im Auto. Vorne spielt das Radio einen Song von P!nk. Just Give Me A Reason. Ein Frauenlachen erklingt, eine Männerstimme antwortet. Neben mir sitzt ein kleiner Junge, sein Gesicht ist verschwommen. Er legt die Arme von hinten um die Frau und dreht seinen Kopf in meine Richtung. Worte verlassen seinen Mund. Erst als ein Mädchen antwortet, stelle ich fest, dass hinter mir noch jemand sitzt. Sie ist jünger, langebraune Haare. Sie lacht und der Junge tut es ihr gleich. Eine glückliche Familie. Dann werde ich plötzlich aus dem Auto geschleudert, stehe auf der Straße. Ein rotes Auto kommt die Straße runter, in dem Moment fährt ein LKW aus dem Wald. Das rote Auto dreht sich und kracht mit dem linke Heck gegen den Lastwagen. Ich will zum Unfall, doch kann mich nicht bewegen. Kann nur mit ansehen, wie Leute das Auto verlassen, die Feuerwehr-
Schweißgebadet schrecke ich hoch.
Etwas hat mich aus meinem Traum gerissen! Schnell checke ich mein Zimmer nach den roten Augen ab, doch der Schattenmann ist nicht da. Mal was ganz Neues, denke ich sarkastisch und verdrehe die Augen. Draußen ertönt ein Scheppern. Starr vor Angst kralle ich an meiner Bettdecke fest, lausche angestrengt.
Wieder ein Krachen!
Irrwitziger Weise klingt es, wie wenn man mit dem Kopf gegen die Quersterbe unserer Schaukel stößt. Dann wird mir klar, was das heißt. Meine Augen weiten sich, mein Atem versagt.
Endgültig wach klettere ich aus dem Bett und presse mich an die Wand neben meinem Fenster. Von dort spähe ich an meinem Rollo vorbei in den Garten. Erst ist alles eine dichte Schwärze, doch dann erkenne ich zwei Schemen, die über unseren Rasen laufen. Mein Gehirn rattert auf Hochtouren, will aber zu keinem Schluss kommen.
Gleißend helles Licht erfüllt den Garten. Geblendet presse ich die Augen zusammen und drücke mich noch mehr gegen die Wand. Jemand aus dem Haus muss das Licht angemacht haben! Ich schaue wieder in den Garten, die Gestalten sind weg. Wäre ja auch ein Wunder gewesen.
„Hast du das gehört?", die Stimme meiner Mutter kommt direkt vom Flur.
Bevor sie mich wach in meinem Zimmer finden können, schlüpfe ich zurück unter die Decke und stelle mich schlafen. Schon geht meine Zimmertür auf und wieder zu. Ich warte bis das Licht aus ist und meine Eltern wieder in ihr Schlafzimmer wandern. Vorsichtig stehe ich noch mal auf und schaue in den Garten, keine Regung. Zum Glück. Beruhigt hole ich meinen Block und setze mich ins Bett. Wo die Vision noch frisch ist, sollte ich sie schnellstens aufschreiben. Meine Hand fliegt förmlich über das Papier, hält alles fest. Nachdem ich fertig bin und mir noch mal alles durchgelesen habe, kommt mir eine Idee. Lorenz hat etwas von seiner Schwester und ihrem Unfall erzählt. In einer so kleinen Stadt wie unserer erinnert man sich an fast jede Katastrophe, die jemals passiert ist.
Schnell habe ich meinen Laptop hochgefahren und nach dem Unfall gegoogelt. Gleich die ersten Anzeigen bestätigen meinen Verdacht. Lorenz war damals mit seinen Eltern und seiner Schwester im Auto unterwegs gewesen, sie haben ein anderes Auto gerammt und sind in den Graben gerutscht. Sein Vater hat eine Gehirnerschütterung davon getragen, seine Mutter und er lediglich Prellungen und leichte Schnittverletzungen. Seien Schwester hat den Unfall jedoch nicht überlebt. Man sagt, es lag an einem Anfall, den der Unfall ausgelöst habe.
„Shit", ich starre auf die Worte. Wenn meine Vision von Lorenz handelt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er ein Werwolf ist und seine Aktion letzte Woche nichts als Ablenkung war. „Komm schon", murmele ich und wähle Violet an. Ganze dreimal muss ich sie anrufen, bis sie endlich abnimmt.
„Steja?", nuschelt sie undeutlich. „Wasn los?"
„Lorenz ist ein Werwolf", halte ich mich nicht mit unnötigen Details auf. „Wir müssen etwas unternehmen!"
„Es ist kurz vor eins", erwidert Violet. „Was willst du denn jetzt noch machen?"
„Wir brauchen Fotos und Beweise, dass er draußen war. Wenn nicht, oh, Gott, Anna", keuche ich auf. „Violet, wir müssen sie warnen."
„Stella, in zehn Minuten bei mir", plötzlich klinge Violet sehr wach. Viel zu wach. Und nicht ganz wie sie selbst. „Zehn Minuten, mehr kann ich es nicht aufhalten", keucht sie noch, dann ist die Leitung tot.
Ich habe mich noch nie so schnell und leise angezogen. Dunkle Jogginghose, dunkler Pulli und die Haare zum Dutt hoch. Unten schlüpfe ich in Sneaker, klaue meinen Schlüssel und verlasse leise das Haus. Ein Blick auf mein Handy, mir bleiben noch gute fünf Minuten um zu Violet zu kommen.
Aus einem normalen Joggen ist ein Springt geworden, trotzdem ist Violet nicht da.
„Shit", drehe ich mich im Kreis. Mein Handy zeigt mir an, dass ich drei Minuten zu spät bin. „Verdammter Mist!" Wo kann sie hin sein?
„Denk logisch, Stella", rede ich mir zu und stütze mich auf meinen Knien ab. „Wo könnte Violet hin sein. Die Hexe eilt zu ihren-" Oh, Gott, ich weiß, wo ich Violet finde! Ohne mir eine Pause zu gönnen, renne ich wieder los. Leider sind viele Laternen schon aus, sodass ich durch die Dunkelheit stolpere. Meine Handytaschenlampe anzumachen traue ich mich nicht. Nachher hält mich noch die Polizei oder jemand anderes an. Das kann ich gerade nicht gebrauchen.
Von weitem kann ich den Hof erkennen. Wie nicht unüblich, liegt er zu dieser Zeit in Dunkelheit, nicht mal im Haus ist Licht an.
„Violet?", rufe ich leise und husche zur Scheune. „Violet?" Keine Reaktion.
Ich schleiche mich weiter in Richtung Haus. Wenn die Werwölfe Anna ausgesucht haben, wird sie vermutlich in der Nähe ihres Zimmers sein.
„Violet?"
Ein Rascheln ertönt keine drei Schritte vor mir, doch es ist pechschwarz. Ich kann absolut nichts erkennen. Wie ein Reh bleibe ich erstarrt stehen, nehme nur das laute Pochen meines Herzens wahr.
„Stella?", flüstert schließlich jemand und Violets Gesicht wird erleuchtet. „Was machst du hier?"
„Wir haben telefoniert", flüstere ich zurück. „Anna?", ich versuche an ihr vorbei zu spähen. Violet versperrt mir die Sicht.
„Lass uns abhauen, sofort", bestimmt ergreift sie meinen Arm und zieht mich in Richtung Tor. Bis sie plötzlich stehen bleibt. „Sie sind in der Nähe", ihre schreckgeweiteten Augen suchen die ganze Dunkelheit ab. En Rascheln, nicht weit von uns entfernt.
„Lauf!", ruft sie und rennt los. Ein Knurren ertönt aus der Nähe des Hauses, gefolgt von einem Heulen. Eindeutig zu nah!
Ich renne Violet hinterher, kann sie zum Glück gut im Licht ihrer Taschenlampe erkennen. Bis zur Innenstadt mit ihren Straßenlaternen rennen wir, erst da verlangsamen wir unser Tempo und atmen wieder durch.
„Anna?", traue ich mich noch mal zu fragen. Violets Kopfschütteln reicht mir. „Ich konnte sie nicht retten", entschuldigt sie sich noch.
„Alles gut, wer weiß, was noch kommt", ich bin nicht mal allzu enttäuscht. Nur traurig. Eine weitere Freundin ist tot.
„Du hast vorhin gesagt, wir haben telefonier?", hakt Violet auf dem Heimweg nach. „Ich kann mich nicht daran erinnern."
„Muss mit deinen Fähigkeiten zusammen hängen", grübele ich nach. „Kurz vorher hast du noch gesagt, dass ich zehn Minuten habe um bei dir zu sein. Länger könntest du es nicht aufhalten."
„Klingt ganz nach mir", ein schwaches Lächeln, aber hinter der Fassade kann ich sehen, dass es Violet ärgert, sich nicht erinnern zu können.
„Haben wir Beweise für morgen? Oder eher heute?", frage ich, kurz bevor wir uns trennen.
Violet schüttelt den Kopf. „Alles was ich weiß, weiß ich nur durch meine Rolle als Hexe. Wenn wir das jetzt preis geben sind wir die nächsten, das können wir nicht riskieren." Verständlich, auch wenn es weh tut, mit leeren Händen da zu stehen.
Beim Frühstück spricht erstaunlicherweise keiner meiner Eltern die nächtlichen Geräusche an, stattdessen erkundigen sie sich nur, ob wir gut geschlafen haben. Was Flo, Sascha und ich auch bejahen. Noch während wir essen, klingelt das Telefon. Bevor meine Mutter aufstehen kann bin ich aus der Küche geflitzt.
„Hallo?", gehe ich ran, ziemlich sicher, wer mich gleich begrüßt.
„Adrian hier. Anna ist heute gestorben", er klingt ziemlich gefasst.
„Danke", sage ich. „Um drei am Haus?"
„Nein, wir sollen uns sofort treffen. Marie wollte aber nicht sagen, warum", dann hat er aufgelegt.
„Wer war das?", meine Mutter schaut von ihrem Brötchen auf, als ich zurück in die Küche komme.
„Adrian. Anna ist gestorben. Wir treffen uns", ich betrachte kurz mein Brötchen, lasse es aber liegen. „Ich bin vermutlich heute Abend wieder da."
„Oh, nein. Hiergeblieben junge Dame", meine Mutter folgt mir in den Flur. „Was läuft da bei euch?"
„Was meinst du?", frage ich und schlüpfe in meine Schuhe. Den Dreck der Nacht konnte ich zum Glück unbemerkt abwischen.
Sie stemmt die Hände in die Hüfte. „Du weißt ganz genau, was ich meine. Denkst du, ich würde nicht mitbekommen, wie deine Freunde sterben? Oder, dass du neuerdings mit dieser Violet zusammen abhängst? In was bist du da rein geraten, Stella?!"
„Das kann ich dir nicht erklären", ich greife nach meiner Jacke.
„Oh, doch, du kannst. Denn wenn nicht, hast du die nächsten Wochen Hausarrest!", der Geduldsfaden meiner Mutter ist gerissen.
„Mein Gott!", ich drehe mich zu ihr um. „Ich kann es dir nicht erklären, weil du es nicht verstehen würdest!", fahre ich sie zornig an. „Außerdem wolltest du doch immer, dass ich unter Leute komme. Also, ich bin unter Leute gekommen und versuche gerade verdammt noch mal unser Leben zu retten!" Aufgebracht stehe ich vor ihr. „Denn wenn ich es nicht schaffe, hast du keine Tochter mehr! Oder ich keine Freunde! Ich brauche einfach zur Zeit mehr Freiraum, dann wird es alles wieder besser." Erschöpft sacke ich zusammen.
„Als ich gesagt habe, du sollst unter Leute kommen, habe ich eigentlich gemeint, dass du am Wochenende mal mehr unternimmst", sichtlich um Fassung ringen steht meine Mutter vor mir, ihre Augen schimmern, doch noch rollt keine Träne. „Ich habe nicht gemeint, dass du während der Schule erst nachts nach Hause kommst. Oder dass du jedes Wochenende weg bist. Oder bei jedem Anruf gleich aufspringst und weg bist." Jetzt zittert ihre Stimme. Ob vor Wut oder Trauer kann ich nicht sagen. „Und was heißt das überhaupt, keine Tochter mehr?"
Hoppla. „Das kann ich dir nicht sagen", ich angele nach meiner Tasche. Bloß schnell weg hier.
„Stella! Du bleibst schön hier!", meine Mutter umfasst meinen Oberarm, doch ich reiße mich los. Sichtlich geschockt starrt sie mich an.
„Ich bleibe nicht hier! Ich habe Leben zu retten! Bin zum Abendessen wieder da", und bevor sie mich weiter aufhalten kann, bin ich aus der Tür und jogge in Richtung Wald.
Tatsächlich schaffe ich es als Erste zum Haus. Die Stille ist drückend, weshalb ich mehr als froh bin, als keine zwei Minuten nach mir Tom seinen Kopf durch die Tür streckt.
„Huch, noch keiner da?", begrüßt er mich und kommt rein. „Wie geht es dir?"
„Nicht gut", sage ich die Wahrheit und schlinge die Arme um mich. „Zwei Freunde zu verlieren, in so kurzer Zeit auch noch. Das ist hart."
Er nickt langsam, verständnisvoll. „Ich hoffe, dass ich das niemals erleben muss."
„Deswegen sind wir hier", kommt es von Adrian, der hinter ihm steht. „Stella, schön, dich mal pünktlich zu treffen", kommentiert er, fast ein wenig spöttisch.
Ich spare mir eine Antwort.
„Ohne lange Rede, letzte Nacht hat es Anna erwischt." Marie stellt sich vorne neben ihr Board und pinnt Annas Foto zu denen von Angelina, Jessica, Patrick, Frank und Kim. „Und mit ihr unser Blinzelmädchen."
Einen Raunen geht durch die Menge. Ich spiele mit und sehe Violet geschockt an.
„Ich finde, mit dieser Entdeckung sollten wir vielleicht über ihre letzte Aussage überdenken", Julius steht überraschend auf und schaut demonstrativ zu Lorenz. „Ich klage offiziell Lorenz an ein Werwolf zu sein."
„Für Anklagen ist es noch zu früh", wendet Marie ein. „Wir haben noch nicht genug Beweise."
„Ich finde, Annas Aussage ist Beweis genug", springt Violet Julius bei. Ihr Blick huscht zu mir, doch ich betrachte eingehend den Fußboden. Wenn ich mich jetzt neben sie stelle, werden wir als Team gesehen. Das ist gefährlich.
„Sie hat eindeutig gesagt, dass Linas Tod den Werwölfen in die Hände spielt und dennoch hat Lorenz seine Anklage nicht zurück gezogen, fragt sich, warum?", aus schmalen Augen mustert Violet Lorenz, der nur mit verschränkten Armen dasitzt und ein Lächeln auf den Lippen hat. „Ich finde das alles sehr verdächtig."
„Wenn das so ist", gibt Marie nach. „Lorenz, steht bitte auf, du bist angeklagt." Sein Grinsen verrutscht, als er nun aufsteht und sich neben Marie stellt. Leise redet er eindringlich auf sie ein, doch sie blockt ihn offensichtlich ab. „Noch weitere Anklange?"
Keine Meldung.
„Dann zu Abstimmung. Alle, die dafür sind, dass Lorenz ein Werwolf ist, heben jetzt bitte die Hand", neben Violet und Julius melden sich auch Tom, Marie und Lukas. Zögerlich hebe ich schließlich mit Adrian und Mareike die Hand. Mehr sind wir nicht und welche Wahl habe ich? Wenn ich gegen Lorenz stimme erwischt es mich bei der nächsten Abstimmung. „Die Gegenprobe, wer ist dagegen oder enthält sich?" Lorenz meldet sich.
„Lorenz, du bist mit einem sehr eindeutigen Ergebnis zum Tod verurteilt worden. Ich werde heute Abend um zehn auf dich warten", damit lässt Marie ihn stehen.
„Lass uns fahren", ich greife nach Violets Hand und ziehe sie mit mir aus dem Raum.
„Das Spiel hat begonnen, kleiner Stern." Der Schattenmann taucht an meiner Seite auf, doch ich werfe ihm nur einen genervten Blick zu. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Sofort verschwindet er in einer Rauchwolke.
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