Samstag, 24. August 2019
Ein Klingeln lässt mich erschrocken von meinem Buch aufschauen. Auch wenn ich eigentlich an meinen Hausaufgaben sitzen sollte, konnte ich es nicht lassen, vorher ein paar Kapitel zu lesen. Oder auch ein paar mehr.
„Ja?", nehme ich den Anruf entgegen.
„Hier ist Anna, können wir uns treffen? Es ist dringend", sprudelt sie los. „Ich bin in der Bibliothek, sagen wir in zehn Minuten bei der Ecke?" Schon hat sie wieder aufgelegt.
„Äh", ich starre mein Handy an. Das kam überraschend. Ich ringe mit mir, immerhin war die letzte Begegnung mit Anna nicht ganz so toll und ich habe keine Lust genau dort anzuknüpfen. Letztendlich siegt aber mein Gewissen und mache mich auf den Weg.
„Super, dass du kommst", begrüßt Anna mich und hält mir verbotener Weise Schokolade hin. Ich breche mich ein Stück ab und kaue darauf herum, während sie in ihren Notizen wühlt.
„Okay", sie schaut auf, in ihren Händen ein Block. „Es tut mir leid, was ich am Donnerstag zu dir gesagt habe. Oder eher, wie ich es gesagt habe. Doch da dachte ich noch, dass es unnötig wäre, sich weiter mit dem Spiel zu beschäftigen. Ich habe meine Meinung geändert." Sie macht eine Pause und fährt mit dem Finger über die Seiten des Blockes. „Mittlerweile denke ich, dass es durchaus jemanden geben sollte, der den Sachen auf den Grund geht. Und sich mit den Mitspielern beschäftigt."
„Wie kommt es zu dem Sinneswandel?", bleibe ich skeptisch.
„Sagen wir", Anna schaut zur Decke. „Sagen wir einfach, ich hatte eine Begegnung, die mir die Augen geöffnet hat." Ich bohre nicht weiter nach, anscheinend möchte Anna nicht darüber reden.
„Als Zeichen der Wiedergutmachung würde ich dir gerne etwas erzählen." Sie beugt sich vor. „Ich glaube an das Spiel", flüstert sie. „Seit Ostern nehme ich die Menschen um mich herum anders war. Es ist, als würde ich spüren, wie sie tief im Inneren wirklich sind." Ihre Augen starren geradewegs in meine Seele, dieser Blick ist gruselig. Trotzdem, ich kann ihm nicht ausweichen.
„Zu Anfang habe ich nur Lina und Julius gespürt. Dann auf einmal auch Kim und Patrick. Und jetzt spüre ich dich, als wärst du dein Teil von mir. So stark war es bei den anderen nie", Anna legt ihre Hand auf meine. „Du bist gut, Stella. Du kämpfst für das Dorf. Deswegen vertraue ich dir." Anna wirkt auf einmal um Jahre älter. Ihre Augen zeugen von einer Weisheit, die keiner von uns jemals haben wird.
„Äh-", bringe ich hervor, jedoch unterbricht Anna mich sofort.
„Das ist alles, was ich bis jetzt weiß. Aber", sie hebt den Blick von unseren Händen. „Ich versuche noch mehr herauszufinden. Du hast es verdient zu leben."
„Danke", nehme ich automatisch an.
„Ich muss jetzt weiter", Anna steht auf als wäre nichts passiert. Sie packt ihre Sachen zusammen und geht. Verdattert bleibe ich sitzen.
„Hoppla", ruft Anna an der Treppe, dann poltern ihre Schritte die Stufen runter. In Gedanken gehe ich das Gespräch noch mal durch.
„Warte!", rufe ich und springe auf. An der Treppe renne ich fast Mareike um, die sich zum Glück mit einem Satz in Sicherheit bringen kann. „Anna!", ich eile die Stufen runter, darauf bedacht nicht zu stolpern. Die zwei Stockwerke wollen nicht enden, doch dann weichen die Holzstufen Teppich und ich bin im Erdgeschoss. Anna ist gerade durch die Tür, leicht keuchend eile ich ihr hinterher.
„Warte", rufe ich wieder. Diesmal bleibt Anna auch stehen. „Was hast du bei den anderen gespürt?", will ich wissen, während ich die Stufen auf Anna zugehe.
Sie zuckt mit den Schultern. „Das ist schwer zu beschreiben. Es ist anders als bei dir, nicht unbedingt negativ aber auch nicht sehr positiv."
„Okay, danke", murmele ich und greife nach meinem Handy.
„Bis morgen, Stella", verabschiedet Anna sich und geht. Diesmal laufe ich ihr nicht hinterher.
Zwei Stunden später sitzen Violet und ich in ihrem Zimmer und grübeln. Ich habe ihr von Annas Spüren erzählt, Violet ist sich noch nicht so sicher, was sie davon halten soll.
„Weißt du, was mich daran stört?", durchbricht sie die Musik, die wir nebenbei laufen lassen, damit Lukas uns belauschen kann. „Die Tatsache, dass sie vor zwei Tagen noch so immens dagegen war. Niemand kann innerhalb so kurzer Zeit seine Meinung so drastisch ändern."
„Sie hat gesagt, sie hätte eine Begegnung gehabt", ich kuschele mich enger in meine Decke. Seit ich hier bin regnet es draußen. Als wenn das Wetter mit uns trauert.
„Was wäre, wenn-", springt Violet auf und tigert auf und ab. „Wenn sie zum Beispiel einen Werwolf getroffen hätte und seine Aura gespürt hat. Natürlich erzählt sie es dir nicht, das wäre ja fast Selbstmord, gibt dir aber genug Hinweise, dass du dich damit beschäftigst." Violets Augen strahlen. „Das würde Sinn machen."
„Du vergisst eins", zerstöre ich ihre kleine Seifenblase. „Den einzigen, den Anna zur Zeit trifft ist Julius. Und bei dem hat sie gesagt, ist es weder positiv noch negativ. Sollte er ein Werwolf sein, würde sie das doch sagen."
Violet zieht nur eine Augenbraue hoch. Sie ist nicht überzeugt.
„Lass uns anders anfangen", sie kramt in einer Schublade und wirft mir drei Stifte zu. Mit wenigen Handgriffen hat sie eine Zimmerwand freigeräumt. „Es wird Zeit, dass wir größer denken."
„Was genau wird das?", ich wandere mit meiner Decke vom Boden auf ihr Bett.
„Wir machen eine Mindmap", Violet dreht sich zu mir um. „Ich bin zwar kein großer Fan von ihnen, aber", sie greift nach den Stiften. „Ich glaube, es ist unsere einzige Chance etwas Ordnung ist das ganze Chaos zu bringen. Fangen wir an. Schwarz ist der Name, Rot die Beziehungen untereinander und Grün alle Informationen die wir bekommen", sie nimmt den Stift und schreibt nacheinander Kim, Frank, Jessica und Patrick an die Wand. „Unser erste Opfer war Jessica, sie starb bei einem Autounfall im Juni." Violet schreibt die wichtigsten Infos neben den Namen.
„Sie war ein Dorfbewohner", mache ich weiter. „Die Polizei fand Kratzspuren an ihr und dem Auto, stellte die Ermittlungen dann aber ein. Patrick, ein weiterer Dorfbewohner, stürzt sich ein paar Tage später aus dem Fenster und ist sofort tot."
„Die Polizei ermittelt, bleibt aber bei Selbstmord", Violet schreibt alles an die Wand und zieht dann einen Pfeil von Jessica zu Patrick. „Einen Monat kippt Kim um und ist sofort tot, keine erkennbare Todesursache, die Polizei geht von einer Vergiftung aus. Sie war der Amor und einer der Verliebten. Der andere, Frank, bringt sich selber auf seiner Geburtstagparty um."
„Vorher hat er wirres Zeug gefaselt", werfe ich ein. „Von wegen wir haben keine Wahl, ich soll sie retten." Das habe ich der Polizei verschwiegen. Bis heute hallen diese Worte in meinem Kopf wieder. Jeden Tag. Ebenso wie alles andere, was mit dem Spiel zu tun hat. „Dann ist er in den Pool gesprungen und war sofort tot. Auf dem Weg ins Krankenhaus taucht eine Karte halb Amor, halb Dorfbewohner neben ihm auf. Weißt du", fange ich an, stoppe dann aber. Da war ein Gedanke, etwas blitzte auf, was mit Franks Party zu tun hat. Doch jetzt ist es wieder weg. „Egal, vergiss es einfach."
Violet bringt Abstand zwischen sich und die Wand und betrachtete die ersten Linien. „Es sind bis jetzt immer Paare gewesen, die den Tod gefunden haben", fällt ihr auf. „Meinst du, das ist ein Zeichen?"
„Wie denn?", lache ich. „Die restlichen sind, abgesehen von Anna und Julius, alle Single. Oder mit jemanden außerhalb der Gruppe zusammen. Und es scheint auch nicht so, als würde sich das demnächst ändern."
Violet wiegt ihren Kopf in meine Richtung. „Okay, als nächstes ist Marie Bürgermeisterin von uns geworden."
„Ja, und in der letzten Nacht ist Lukas gestorben, aber irgendwie auch nicht. Und jetzt findet die erste richtige Anklage statt."
„Wir müssen uns gut überlegen, wen wir vorschlagen und mit welcher Begründung", Violet schreibt alle restlichen Namen an die Wand und starrt dann auf die Mindmap.
„Theoretisch können wir doch ein paar Leute ausschließen, oder?" Ich denke an Anna. „Lina, Julius und Anna, immerhin hat Anna gesagt, dass sie bei ihnen etwas spürt. Und Lukas sowie uns beide können wir auch ausschließen. Bleiben noch Adrian, Mareike, Tom, Lorenz und Marie über."
„Ich glaube nicht, dass es so einfach ist", dämpft Violet meine Euphorie. „Erstens wissen wir nicht, wie viele Werwölfe es gibt. Wir könnten jetzt auch Pech haben, nur einen Werwolf haben und in den nächsten Runden grundlos Dorfis anklagen. Zweitens, ich weiß, du vertraust Anna, ich nicht. Mir leuchtet ihr Motiv nicht ein. Drittens, denke ich, sollten wir uns mal mit deinen Visionen beschäftigen."
„Meinen Was?", überrumpelt schaue ich zu ihr auf.
„Deinen Visionen, Stella", Violet dreht sich um. „Guck nicht so geschockt, war nicht so schwierig, das zu erraten. Außerdem macht es Sinn, die Hexe und die Seherin arbeiten zusammen. Die beiden Figuren, die dem Dorf am meisten helfen können. Also? Hast du was zu berichten?"
„Äh", mein Gehirn ist überfordert. „Nicht, dass ich wüsste." Innerlich rattert noch alles. Wie hat sie das rausgefunden? Das ist unmöglich! Violet sieht mir meine Verwirrung wohl an, ist aber schlau genug, sie nicht anzusprechen.
„Bei der letzten war was mit einem Sarg und Schnee. Viele Leute, die auf dem Friedhof waren", erinnere ich mich an Bruchstücke. „Davor war das reinste Chaos, Orte aus der Stadt, Personen, die ich kannte. Das Schwimmbad. Nichts, was wir brauchen könnten."
„Hm, schade. Dann müssen wir anders vorgehen", betrübt starrt Violet wieder auf die Wand. Die ganze Nacht raten wir herum, erinnern uns an die Treffen oder werfen einfach mal Theorien in den Raum. Doch wir kommen auf keinen grünen Zweig.
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